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ОглавлениеBode in Serbien
Serbische Nationalisten hatten am 28. Juni 1914 in Sarajewo den österreich-ungarischen Thronfolger ermordet, dies führte zu einem Rachefeldzug gegen Serbien. Als Bode am 6. Oktober 1915 am Kriegsschauplatz eintraf, kämpfte die deutsch-österreichisch-ungarische Armee im Save-Donau-Dreieck. Die Artillerie unter v. Gallwitz schaffte die Donauüberquerung, obwohl der reißende Fluss 700 Meter breit war und starken Wellengang hatte. Die Männer des Landsturm-Infanterie-Bataillons erklommen zu Fuß das weglose Gelände und die Dragoner führten ihre Pferde, auf deren Rücken das Gepäck festgeschnallt war. Unter dem Druck der feindlichen Armeen gaben die Serben ihre Hauptstadt auf. Serbische Kolonnen zogen über die Straßen nach Süden, während die Nachhut mit kurzen Feuerüberfällen die Verfolger aufhielt. Östlich von Belgrad mündet der Fluss Pek bei Veliko Gradiste in die Donau, das Gehöft von Maritza Orbo lag oberhalb einsam am Hang. In den Scheunen und Ställen gab es ausreichend sauberes Stroh und genügend Futter für die Pferde, deshalb bezogen die Dragoner dort Quartier. Allabendlich, wenn die Männer singend im Stroh lagen oder ihre Wäsche wuschen, protokollierte Bode die wichtigsten Ereignisse des Tages in einem schwarzen Büchlein.
Der deutsche Generalstabschef v. Falkenhayn wollte den Landweg zum Osmanischen Reich öffnen, weil die Alliierten an den Dardanellen unter Druck geraten waren. Sie benötigten Nachschub an Munition, Kriegsbedarf und unmittelbarer Truppenhilfe. Mit seinen Dragonern und einem Trupp Infanterie sollte Bode die marodierenden Söldnerbanden unter Kontrolle halten und die eroberten Industrieanlagen wieder in Gang setzen. Der Pferdepfleger Born und der Airedale Terrier Fels waren immer an seiner Seite, sein Dolmetscher hieß Kosta Rasin. Der Serbe kannte die Gegend und half den Deutschen, in dem unwegsamen Gelände die Partisanen aufzuspüren. Bei einem Erkundungsritt zur Matschkaglawa Hütte zog Fels den Kopf aus dem Halsband und jagte durch den Wald. Man hörte einen Laut und im gleichen Augenblick knallte ein Pistolenschuss in der Ferne. Die Streife fand das erschossene Tier und trat niedergeschlagen den Rückweg an. Am Eingang des Dorfes wurde Kosta Rasin entlassen. Er hatte sich kaum von den Deutschen gelöst, da fiel ein Schuss und der Dolmetscher sank getroffen zu Boden. Sofort wurden die Häuser durchsucht, die Hecken, der Busch, aber die Angreifer waren entkommen.
Bode konnte sich nicht damit abfinden, dass die Partisanen Kosta Rasin und seinen geliebten Hund erschossen hatten. Er weckte bei Morgengrauen die Dragoner, sie saßen auf und ritten ins Gebirge. Der Leutnant trabte langsam an der Spitze des Trupps, als einer der Männer getroffen vom Pferd fiel. Die Reiter schwärmten aus und kreisten einen Mann in zerschlissener Uniform ein, den sie mit einem Bajonettstich in den Rücken erledigten. Es stellte sich heraus, dass der fahnenflüchtige Serbe zahlreiche Raubüberfälle in der Gegend verübt hatte. Born knurrte: »Dragoner sind halb Mensch halb Vieh, aufs Pferd gesetzte Infanterie.«
Am Abend saßen die Landser in der Scheune beieinander und ein Kölner sagte: »Wir hatten heut ne Schweinebrate, der war so fett, den kunnt mer janit essen.«
»Was habt ihr dann gemacht?«
»Wir ham ihn doch jejessen.« Hermann notierte solche Anekdoten und die Lieder der Soldaten, dazu klebte er Fotos in den hinteren Teil seines Buches. Man sieht Frauen in prachtvoll bestickten Gewändern, außerdem Männer mit hohen schwarzen Hüten, die ein Ochsengespann führen. Auf einigen Abbildungen liegt Schnee, trotz der Kälte tragen die Männer Schuhe aus geflochtenem Stroh. Ein Foto zeigt die Goldwäscherei am Pek, ein zweites den Eingang eines Kohlebergwerks. Nachdem Montenegro Ende Januar 1916 kapituliert hatte, bekam der Familienvater Heimaturlaub und seine Kompanie wurde zurück nach Deutschland verlegt.
Der Heimkehrer hatte Julias Briefen entnommen, dass die Familie während seiner Abwesenheit in die Zahnarztpraxis umgezogen war und sein Vater dort praktizierte. Er überließ sein Pferd dem Burschen und kam zu Fuß in die Georgstraße, wo ihm Elsa die Tür aufmachte. Ihr Freudengeschrei rief die Schwestern herbei, die dem Vater um den Hals fielen, bis Julia, die sich still im Hintergrund gehalten hatte, ihren Mann in die Arme schließen konnte. Von Wiedersehensfreude übermannt, rang Hermann mit kurzen Atemzügen nach Luft und weinte, während ihm seine Frau beruhigend über den Rücken strich. In diesem Moment umfing sie ihre gemeinsame Geschichte. Angesichts der unerfüllten Hoffnungen und erlebten Enttäuschungen waren sie sich der Sinnlosigkeit einer Lebensplanung bewusst. Die Kinder zerrten an ihrem Vater, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Maria rief: »Vati, wo ist denn der liebe gute Fels?« und das Echo der beiden Kleinen wiederholte: »Der Fels, der Fels?«, während sich Maria zwischen die Eltern drängte. Bevor Hermann vom Tod seines Hundes erzählte, packte er die mitgebrachten Geschenke aus: Er reichte Elsa ein goldenes Herz, das man aufklappen konnte, Erkengard erhielt ein ziseliertes Medaillon, besetzt mit kleinen türkisen Steinchen, und Maria eine Kette aus blauem Lapislazuli. Für Julia hatte er ein serbisch-orthodoxes Goldkreuz mitgebracht. Umgeben von zarten Ranken befand sich in dessen Mitte ein tiefroter Rubin.
Die Familie war glücklich über den Fronturlaub des Vaters, bis er wieder praktizieren musste. Bodes Nerven waren durch den Kriegsdienst angegriffen, er explodierte beim geringsten Anlass, was dazu führte, dass sich die Kinder vollkommen eingeschüchtert in einer Nische verkrochen. Bode hatte sich verändert, als religiöser Mensch hatte er, das fünfte Gebot missachtend, im Namen seines Vaterlandes getötet. Das Selbstverständnis seiner Vorkriegspersönlichkeit war ins Wanken geraten, obwohl er nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hatte. Er suchte die Nähe von Julia und erhoffte sich Trost in ihren Armen. In dieser existentiellen Krise war es ihm besonders wichtig, sich von einem Menschen vorbehaltlos angenommen zu fühlen, um nicht im inneren Elend zu versinken. Hermann sehnte sich nach liebevoller Berührung, um zur Ruhe zu kommen. Die psychischen Erschütterungen des Krieges führten dazu, dass er aus der evangelischen Kirche austrat, um Mitglied in der Anthroposophischen Gesellschaft zu werden.
Am 15. Oktober 1916 überbrachte der Postbote ein Telegramm, in dem Leutnant Bode zum Inselwacht-Batalion X. 32 auf die Nordseeinsel Norderney befohlen wurde, um die Führung einer Kompanie zu übernehmen. Maria wollte den Vater nicht wieder gehen lassen, daraufhin nahm er sie kurzerhand mit. Julia weinte beim Abschied, sie war im fünften Monat schwanger.
Man sprach vom Hungerwinter 1916, weil es wegen der englischen Seeblockade kaum noch Lebensmittel zu kaufen gab. Auf dem Speisezettel der Familie standen oftmals Steckrüben in jeder »schmackhaften« Form. Die Steckrübentorte war neben der Torte aus Saubohnen die Festtagsüberraschung. Morgens gab es Hafersuppe, die Mädchen saßen um den Tisch, in der einer Hand den Löffel, mit der anderen fischten sie die harten Spelzen von der Zunge und reihten sie am Tellerrand auf. Besonders scheußlich schmeckten die versalzenen Bohnen, deren Fäden so hart waren wie Zwirn. Stanzi und die Mitglieder im Frauenverein wussten, dass Julia ein Kind erwartete. Eine Haushaltshilfe von Pelikan brachte einen Korb mit Milch, Äpfeln und Kartoffeln in die Zahnarztpraxis und die Kinder fielen hungrig darüber her. Auf der beigelegten Karte stand: »Liebe Frau Bode, habe für Sie diese Nahrungsmittel bekommen und sende sie mit herzlichen Grüßen, ihre Sie liebhabende Elli Beindorff.«
Julia verwahrte die Zeilen in Dankbarkeit zwischen den Briefen ihres Mannes.
Am 10. Februar 1917 wurde Friedegard in der Zahnarztpraxis geboren und Mary Wigman war die Geburtshelferin. Durch die mangelhafte Ernährung während der Schwangerschaft und von der Entbindung geschwächt, hatte Julia keine Muttermilch für ihr Baby und litt unter Sehstörungen. Peter Bade und Stanzi kümmerten sich um den mageren Säugling und ernährten ihn mit Ziegenmilch. Wilhelm Bode, der als Stabsarzt der Bayerischen Sanitäts-Kompanie an der russischen Front stationiert war, schickte einen ausführlichen Feldpostbrief und von Elli Beindorff traf ein Kärtchen ein, auf dem sie »Alles Gute für das kleine Prinzeßchen, und baldige Genesung für die Mutter« wünschte. Hermanns Bruder Karl hatte ein gleichaltriges Kind, das sie Friedrich tauften. Die beiden Babys lagen nebeneinander in einem Waschkorb, als die Hebamme zu einem Hausbesuch kam. Die ausgemergelten Körperchen mit den großen dunklen Augen brachten Julia zum Weinen, auch Elsa war zutiefst besorgt, dass ihre kleine Schwester sterben könnte. Karl nahm seine Schwägerin in den Arm und sagte: »Tröste dich, unser Schicksal liegt in Gottes Hand.«
Währenddessen fand Bode in der Villa Nordsee an der Knyphausenstraße eine kleine Wohnung, sodass der Rest der Familie nachkommen konnte. Julia, Erkengard und Elsa packten ihre Habseligkeiten in einen Pappkoffer, die kränkliche Friedegard blieb bei Stanzi und Peter Bade. Ende Februar fuhren die drei mit dem Zug nach Bremen und von dort mit einem Pferdefuhrwerk nach Norddeich, um ein kleines Fährschiff zu besteigen, welches sie auf die Insel Norderney übersetzen sollte. Wegen der stürmischen See kam das Motorboot nur langsam voran und plötzlich setzte ein eisiger Schneesturm ein, sodass die Reisenden nichts mehr sehen konnten, außer den großen grauen Wellen, auf denen das Schiff auf und nieder schaukelte. Der schneidende Wind ging ihnen durch Mark und Bein und Julia hielt in jedem Arm ein weinendes Kind. Die Mutter war sich sicher, dass sie hinter der nächsten Schaumkrone ertrinken würden. Am Ruder saß der bewegungslose Fischer mit einem schwarzen Südwester und einer schwarzen Pelerine und sah aus wie der Tod, der sie über den Styx bringen sollte. Fatalistisch akzeptierte Julia den unvermeidlichen Untergang und betete laut zu Gott, der ihre Zuflucht war. Nach einer höllischen Fahrt blitzten Lichter am Horizont auf und man sah Land zwischen den Wellenbergen. Als das Boot näher kam, erkannte man Menschen mit Sturmlaternen, die etwas riefen. Das Schiff krachte gegen den Poller, Arme streckten sich der Frau und den Kindern entgegen und zogen sie an Land. Julia sank in die Arme eines Inselbewohners und hörte ihn sagen: »Da habt ihr aber mal Glück gehabt, ihr drei Hübschen«, dann wurde sie ohnmächtig. Der Fischer schleppte sie in den Hafen, wo Bode seine Lieben in Empfang nahm. Dass sie noch lebten, war ein Wunder. Julia war durch die Hungerzeit entkräftet und ausgemergelt. Sie hatte sich auf sonnig warmes Frühlingswetter am Meer gefreut, aber das ganze Brachland war in eine weiße Winterlandschaft verwandelt. Erst drei Wochen später wich die Kälte einer milderen Witterung, mit der wärmenden Sonne erblühte die wilde Flora der Nordseeinsel und die Mädchen pflückten Veilchen und Primeln, um die Zimmer damit zu schmücken.
Wenn er keinen Dienst hatte, dann kümmerte sich der Vater liebevoll um seine Töchter. Er zeigte ihnen die wilde Dünenlandschaft, sie sammelten Muscheln und erlebten am Wattenmeer Ebbe und Flut, die allerlei Seegetier anspülten. Barfuß liefen sie über die Backsteinwege zum menschenleeren Strand und verbrachten viele Stunden damit, Sandburgen zu bauen. Der Stallbursche Hinze versorgte die abgemagerten Mädchen mit Butter, Brot und köstlichem Kochkäse. So etwas Wundervolles hatten sie lange nicht gegessen. Hermann machte täglich Inspektionsritte über die Insel, bei denen jeweils ein Kind vor ihm im Sattel sitzen durfte. Sie galoppierten am Meer entlang, der Wind riss an ihren Haaren und das Meerwasser spritzte unter den Hufen des Pferdes. An der Spitze von Norderney stand ein Leuchtturm, dort suchte Bode mit dem Fernglas den Horizont ab, bevor er umkehrte und durch die Dünen zurücktrabte.
Die Mädchen besuchten die örtliche Volksschule und Elsa beklagte sich: »Der Lehrer schlägt die Buben mit dem Stock, einer hat so geweint, dass ich mit ihm weinen musste.«
Julia sah von ihrer Handarbeit auf: »Ich weiß, in eurer schönen Privatschule gab es keine Prügelstrafe.«
An einem anderen Tag kam Maria atemlos in den Wintergarten gestürzt und rief: »Der Lehrer, der Lehrer hat gesagt, die Bolschewisten haben den Zar, seine Frau und alle fünf Kinder erschossen!«
Die Anwesenden sahen sich entsetzt an, sie wussten, dass der englische König, der deutsche Kaiser und der russische Zar Cousins waren, und Bode deutete den Mord an der Zarenfamilie als eine Folge der Russischen Revolution. Alle hatten Angst vor einer Revolution. Die Abende verbrachte das Ehepaar in stillem Einvernehmen. Hermann fasste seine serbischen Aufzeichnungen zusammen und schilderte einzelne Episoden, die er mit den Dragonern erlebt hatte. Er erzählte Julia von seiner Verwundung und der außerkörperlichen Erfahrung, bei der er trotz seiner Bewusstlosigkeit vieles wahrnehmen konnte. Der Krieg und das Nahtoderlebnis hatten seine Einstellung nachhaltig verändert.
Zu dieser Zeit betonte Kaiser Wilhelm II., dass am Endsieg kein Zweifel bestehe, mit Gottes Hilfe würde die kaiserliche Flotte Großbritannien in die Knie zwingen. Die deutschen Schiffe sollten zu einem letzten Gefecht auslaufen und siegen oder glorreich und ehrenvoll untergehen. Im Hafen von Norderney lagen zahlreiche Kriegsschiffe, die zu Gefechten in See stachen, und man hörte täglich Kanonendonner. Eines Tages hieß es: »Englische Schiffe am Horizont!« Die Kinder rannten auf die Düne und sahen die feindliche Flotte in der Ferne vorüberziehen.
Im Rückblick sprachen die Schwestern von der wundervollen Zeit am Meer, die sie trotz des Krieges und der kargen Ernährung in guter Erinnerung behielten, bis der Vater im September 1918 als Kompanieführer des Reserve-Infanterie-Regiments 229 in die Champagne abkommandiert wurde und Julia mit den Mädchen nach Hannover zurückkehren musste.
In Hannover waren zwei von drei Bürgern an der spanischen Grippe erkrankt und viele Menschen starben. Die Kinder brachten den Virus aus der Schule mit nach Hause und innerhalb weniger Tage lag die ganze Familie mit hohem Fieber im Bett. Elsa konnte als erste wieder aufstehen und brachte der Mutter etwas Tee, da begann vor dem Haus die Knallerei. Die Marinesoldaten in Kiel hatten die Revolution ausgerufen und am 8. November 1918 wurde in der Georgstraße aus den oberen Fenstern der Gebäude lautstark geschossen. Keiner wagte sich aus der Haustüre, auch an die Fenster konnte man nicht mehr herantreten. Im Wirtshaus zur »Rauhen Mütze« verhandelte Oberbürgermeister Leinert mit den Arbeiterausschüssen, die mit ihren Messern in der Luft herumfuchtelten. Im Schutze der Dunkelheit brachte Stanzi einen Topf Suppe und überredete Julia dazu, in die Walderseestraße zu kommen, weil dort nicht geschossen wurde. Die Frauen packten die nötigen Gepäckstücke zusammen und saßen mit den Kindern im Hauseingang, bis die Schießerei unterbrochen wurde. Schnell hüpften sie in die nächste schützende Einfahrt und so ging es fort über die Bahnhofstraße, in der die Schießerei am schlimmsten war. Ein freundlicher Soldat half ihnen in die Straßenbahn, in der die Mädchen, eingewickelt in ihre Bettdecken, wie die verschreckten Hühner saßen. So ging es aus der Innenstadt hinaus zum Haus von Peter Bade, wo sie sich in der obersten Etage einrichten konnten. Es war eine langwierige Genesungszeit, die Kranken kamen nur schwer wieder zu Kräften, weil es viel zu wenig zu essen gab.
Unterdessen kämpfte Bode an der Aisne, wo man mit Rückzugskämpfen die Siegfriedstellung verteidigen wollte. Nach den Einbrüchen in die deutsche Front drängten die Alliierten weiter in Richtung der Hindenburglinie und die Wehrmacht konnten die alliierten Angriffe im Nordabschnitt nicht mehr zum Stehen bringen. Die Oberste Heeresleitung unter General Ludendorff forderte die sofortige Aufnahme von Waffenstillstandsverhandlungen mit dem Hinweis, dass die Front jeden Tag zusammenbrechen könne. Der Verfall der deutschen Moral war offensichtlich und die Zahl der Toten überstieg eine Million. Es grenzte an ein Wunder, dass Bode die Rückzugsgefechte überlebte. Wenn die Monarchie unterging, dann wollte Kaiser Wilhelm II. möglichst viele junge Männer mit in den Tod nehmen. Am 9. November 1918 verkündete Reichskanzler Max von Baden eigenmächtig den doppelten Thronverzicht von Kaiser Wilhelm II., der Weg war somit frei für eine parlamentarische Demokratie. Hermann kämpfte vor der Antwerpen-Maas-Stellung, bis es am 11. November 1918 zum Waffenstillstand kam. Das Reserve-Infanterie-Regiment wurde in Aurich ordnungsgemäß aufgelöst. Leutnant Bode erhielt das Eiserne Kreuz I. Klasse und konnte nach Hause gehen. Zu Julia sagte er: »Wir Überlebenden müssen uns derer würdig erweisen, die für uns gestorben sind.«
Die zahlreichen Versehrten mussten behandelt werden, darum erweiterte Peter Bade seine orthopädische Klinik an der Sedanstraße und die Bodes zogen mit all ihren Möbeln aus der Zahnarztpraxis in die Dachwohnung an der Walderseestraße 15. Das spitzgiebelige Jugendstilhaus mit Fachwerk hatte drei Etagen und ein ausgebautes Dachgeschoss. Es stand in einem großen Grundstück mit hohen Kiefern, gleich neben der Eilenriede, einem Stadtwald, in dem man herrlich spazieren gehen konnte. Die Mädchen bekamen das Giebelzimmer, das sie »Dachjuhee« nannten. In der Vertäfelung hausten die Mäuse, die in der Nacht schlurfende Geräusche machten und den Schwestern Angst einjagten. Dankbar begrüßten sie ihre lang vermissten Spielsachen, die aus den Pappschachteln auftauchten, und vergnügten sich damit, das lange Treppengeländer bis ins Parterre hinunterzurutschen. Nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst konnte Bode die Zahnarztpraxis in der Georgstraße wieder eröffnen. Er stellte einen jungen Techniker ein und schon nach kurzer Zeit gab es eine Warteliste für seine Patienten. Einer der ersten war Fritz Beindorff.
Bis zum Ausbruch des Krieges hatte das Deutsche Reich etwa ein Drittel seiner Lebensmittel aus dem Ausland bezogen und war welt-weit der größte Importeur von Agrarprodukten. Das Handelsembargo der Briten wurde erst 1919 aufgehoben, zudem fehlten die Nahrungsimporte aus Russland. In den Städten starben Hunderttausende an Hunger und Unterernährung. Wer Verwandte auf dem Lande hatte, war im Vorteil, und Bode ließ sich seine Zahnbehandlungen gerne mit Naturalien bezahlen.
Die zweijährige Friedegard bekam eine Lungenentzündung, ihr kleiner Körper wurde von Hustenanfällen und Fieber geschüttelt und ihre verschwitzten Haare rochen nach Maggi. Julia wiegte die Kleine Tag und Nacht in ihren Armen und summte Kinderlieder, um sie zu beruhigen. Mit einer ovalen Glasreibe passierte sie einen geschälten Apfel, den die Kranke nicht bei sich behielt, auch die Ziegenmilch erbrach sie in hohem Bogen. Das zarte unterernährte Kind hatte keine Widerstandskräfte mehr und die verzweifelte Mutter wusste nicht, was sie tun sollte. Friedegard starb in den Armen von Peter Bade. Stanzi zog der Toten ein weißes Kleidchen an und legte sie in einen schlichten Kindersarg, bevor sie Julia und die Schwestern rief, damit sie Abschied nehmen konnten. Das tote Kind wirkte zutiefst anrührend und die zehnjährige Elsa flüsterte: »Unser Engelchen.« Die Schwestern begleiteten den Sarg bis zur Gartentür und standen winkend dort, bis der Leichenwagen um die Ecke bog.
Nach der Beerdigung blieb Julia tagelang im Bett, sie weinte häufig und wirkte wie erloschen. Jede Freude war aus ihren Zügen gewichen, sie zog sich ganz in ihr Inneres zurück, selbst Hermann konnte sie in ihrer Trauer nicht mehr erreichen. Nach zwei Wochen stellte sich die 13-jährige Maria vor Mutters Bett, sie stemmte ihre Hände in die Hüften und verlangte, dass die elegische Mutter mit den Schwestern an die frische Luft gehen sollte oder etwas zu Essen kocht. Julia drehte sich still zur Wand und reagierte nicht. Die Stimmung in der Wohnung war bedrückend. Die Kinder wurden von Verwandten versorgt und der Vater blieb häufig über Nacht in der Praxis, er verbrachte die Freizeit mit seinem Bruder oder mit Kriegskameraden.
Zur Promotion bewarb sich Bode an der Universität Halle in der Abteilung Kiefer und Zähne bei Dr. Zonnenkalb. Der Doktortitel wurde ihm im Dezember 1920 verliehen. Die Doktorarbeit über das Thema »Röntgendiagnostik für Kiefer und Zähne« erschien beim Gustav Fischer Verlag in Jena. Er war Mitglied der Deutschen Volks-partei (DVP), die sich vor allem als liberal und weniger als demokratisch verstand. In ihrer Politik vertrat sie die Freiheit des Einzelnen, die ihr wichtiger war als die Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen. Die geistigen und wirtschaftlichen Eliten wurden von der DVP dazu aufgefordert, ihr Handeln an moralischen Maßstäben zu messen und sich aus Verantwortung für die Gesellschaft in deren Dienst zu stellen. Die Mehrheit der Wähler war evangelisch, gehörten zur Mittelbis Oberschicht und repräsentierte das Bildungsbürgertum. Der wichtigste Vertreter der DVD war Gustav Stresemann (Wikipedia). Die Nationalversammlung wählte 1919 Friedrich Ebert von der SPD zum Reichspräsidenten der neugegründeten Weimarer Republik.
Der Konflikt um die Reparationszahlungen des Deutschen Reiches führte zur Besetzung des Ruhrgebietes durch Frankreich und die Währung brach zusammen. Die Franzosen waren die gehassten Feinde und die Deutschen wehrten sich durch passiven Widerstand, der weitgehend von den Rechtsparteien organisiert wurde. Der bekannteste Aktivist hieß Leo Schlageter, er wurde von den Franzosen zum Tode verurteilt und 1923 hingerichtet. Mit seinem Tod wurde er zum Nationalhelden. Aus Sorge um den inneren Zusammenhalt des Landes ernannte Friedrich Ebert den Vorsitzenden der DVP, Gustav Stresemann zum Reichskanzler. Stresemann bildete 1923 mit SPD und Zentrum eine große Koalition. Das Reich hatte die Kosten des Krieges durch Steuererhöhungen, Kriegsanleihen und die Ausgabe von Papiergeld finanziert. Bodes Vater hatte sein Erspartes in Reichsschatzanleihen angelegt, die nun wertlos waren. Die Familie hatte ihren Goldschmuck zur Rettung des Reiches abgegeben und Eisenketten dafür erhalten. Im Zuge der Hyperinflation wurde Bode von der Stadtverwaltung gebeten, den Druck von Geldscheinen in Hannover zu beaufsichtigen, bis am 15. November 1923 mit der Einführung der Rentenmark durch Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und Reichskanzler Gustav Stresemann, die Inflation beendet war. Dies bedeutete den Verlust der persönlichen Ersparnisse, der Wechselkurs von der Papiermark zur Rentenmark war eins zu einer Billion, 4,2 Billion Papiermark entsprachen einem US-Dollar.
Alexej von Jawlensky »Variation«