Читать книгу Die Kunst ist das Einzige, was bleibt - Sinda Dimroth - Страница 9
ОглавлениеDas erste Bild von Steinhude
1956
Die beiden Mädchen hatten ihre schönsten Kleider in ein Köfferchen gepackt und waren mit den Worten verabschiedet worden: »Haltet Euch gerade, macht ein freundliches Gesicht und benehmt Euch anständig.« Es war ein schwül-heißer Tag Ende Juli, als sich der Zug ruckartig in Bewegung setzte. Selma war neun Jahre alt und durfte erstmals mit ihrer 17-jährigen Schwester Ruthilde in den Sommerferien nach Hannover reisen, um den Großvater Bode am Steinhuder Meer zu besuchen. Die Mutter hatte ihnen Hasenbrote eingepackt, das waren mit Rotwurst bestrichene Graubrotscheiben, dazu gab es kalten Tee aus einer Thermoskanne. Die Kinder waren aufgeregt und verfolgten durch die verschmutzten Fensterscheiben die vorbeiziehende Landschaft. Beide hatten als Reiselektüre ein Buch eingepackt, in das sie keinen einzigen Blick warfen, weil so viele Eindrücke auf sie einstürmten.
Steinhude war für die Schwestern ein märchenhafter Ort, der in den Erzählungen der Mutter eine wichtige Rolle spielte. Schon bald sollten sie die Möglichkeit bekommen, das Bild, das sie sich in ihrer Vorstellung gemacht hatten, mit der Wirklichkeit zu vergleichen. Nachdem die Hälfte der Reise hinter ihnen lag, gab es einen längeren Aufenthalt auf offener Strecke. Für die Steigung in der vor ihnen liegenden Rhön wurde am Anfang und am Ende des Zuges eine Lok angekuppelt, trotzdem blieb er in der Mitte eines Tunnels stecken. Die Lokomotiven bliesen ihren Rauch in die Tunnelröhre, die Fenster hatte man geschlossen, dennoch drangen giftige Gase ins Abteil. Als dann auch noch die Lichter ausgingen, saßen die Fahrgäste in undurchdringlicher Dunkelheit, die Luft war heiß und der Rauch machte das Atmen schwer. Ab und zu hörte man den schrillen Pfiff einer Dampflok, das wirkte gespenstisch, deshalb griff Ruthi nach der Hand der kleinen Schwester. Eine tiefe Stimme sagte aufmunternd: »Es wird bestimmt gleich weitergehen.« Die Reisenden sahen außerhalb des Zuges einen Beamten mit seiner Taschenlampe vorüberlaufen, er hielt sich ein Tuch vor Mund und Nase. Mit seinem Licht verschwand die Möglichkeit, etwas zu sehen. Die Mädchen blickten mit weit geöffneten Augen in ein tiefes Schwarz. Selma bekam Angst, sie und ihre Schwester waren in einem Albtraum gefangen. Niemand sagte ein Wort, schicksalsergeben waren alle Fahrgäste darum bemüht, genügend Sauerstoff einzuatmen.
Nach einer Stunde kam der Schaffner mit einer Laterne in den Wagen und teilte mit, dass man eine neue Lok angefordert habe, um den Zug aus der Röhre zu ziehen. Im Abteil neben den Mädchen saß eine dicke Alte, die auf ihrem Schoß einen Käfig festhielt, in dem noch kurz zuvor ein Kanarienvogel erregt von Stange zu Stange gehüpft war. Nun konnte man im Schein der Lampe sehen, dass er, die Flügel ausgebreitet, mit aufgerissenem Schnabel auf dem Käfigboden lag. »Der machts aber nimmer lang«, sagte der Schaffner, woraufhin die alte Frau zu weinen anfing. Ruthi, die selbst drei Kanarienvögel zu Hause hatte, holte ihn vorsichtig aus dem Käfig und folgte dem Lichtschein bis zur Toilette. Dort ließ sie Wasser ins Becken laufen und setzte das erschöpfte Tier hinein. »Du kommst jetzt sicher allein zurecht«, brummte der Beamte und entfernte sich mit der einzigen Beleuchtung. Nachdem der Vogel Wasser getrunken hatte, war er erfrischt und flatterte orientierungslos in dem engen Raum um Ruthis Kopf. Als er sich in den wilden Locken des Mädchens verfing, konnte sie ihn greifen, um zu ihrem Sitzplatz zurückzukehren. In der einen Hand den Vogel, dessen Herz heftig pochte, suchte sie mit der anderen den Weg zum Abteil, wo das verängstigte Tier gerne in seinen Käfig zurück hüpfte. Ruthi tastete nach der Schwester, die ihr den Rest des kalten Tees überließ. Es kam den Reisenden wie eine Ewigkeit vor, bis wieder ein Pfiff ertönte und sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Als er die Tunnelröhre verließ, waren die Fahrgäste geblendet vom Sonnenlicht und hatten rußige Gesichter. Die Fenster wurden aufgerissen, die Vorhänge blähten sich im Fahrtwind und die Reisenden sprachen erleichtert über ihre Gefühle, die sie vorher für sich behalten hatten. Die Alte mit dem Vogelkäfig murmelte: »Gegrüßet seist du, Maria voll der Gnade, der Herr ist mit Dir.«
In Hannover entstiegen die Münchner Kinder in ihren verdrückten Sommerkleidern dem Zug und sahen Ilse, die zweite Frau ihres Großvaters, den Bahnsteig entlanglaufen. Sie war ganz in Weiß gekleidet und hatte weiße Stoffschuhe an. »Kommt schnell, ich habe keinen Parkplatz gefunden«, rief sie, griff sich Selmas Pappkoffer und eilte dem Ausgang zu. Vor dem Haupteingang des Bahnhofs, mitten in der stark befahrenen Straße, parkte ein silbernes Mercedes Cabriolet, mit zwei Rädern auf einer Straßenbahninsel. Neben dem Fahrzeug stand ein Polizist und dirigierte den Verkehr um das Hindernis herum. Ilse reichte ihm einen Geldschein, die Kinder sprangen in den offenen Wagen und los ging die Fahrt. Die Großmutter winkte aus dem geöffneten Verdeck und erklärte: »Ich konnte nirgendwo parken, deshalb habe ich mich auf die Verkehrsinsel gestellt und dem Schupo gesagt, dass er auf mein Auto aufpassen soll.« Sie fuhren mit hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn nach Wunstorf und weiter auf der Landstraße bis ans Steinhuder Meer. An diesem Moorsee hatten einige Hannoveraner ihre Wochenendhäuser und in der sogenannten »Strandhausreihe« war Elsa, die Mutter der Kinder, aufgewachsen. Als der Wagen vor einem Haus mit großen Fenstern anhielt, drückte Ilse auf die Hupe, daraufhin trat eine Haushälterin mit weißer Schürze aus der Haustüre. Mit einem »Hallo ihr zwe Lüdjen« ergriff sie die Koffer, während der weiß gekleidete Großvater vom Balkon winkte. So ein Haus hatte Selma noch nie gesehen, man konnte von der Straße bis zum See hindurchblicken. Ilse ging durch eine rahmenlose Glastüre, und die Gäste folgten ihr staunend. Im ersten Stock zeigte sie ihnen die Schlafzimmer, durch deren Fenster man einen weiten Blick über das Wasser hatte. Auf jedem Kopfkissen lag eine Pralinenschachtel der Firma Sprengel, unter deren Stanniolpapier ein Zehn-Mark-Schein geschoben war.
»Wenn ihr euch umgezogen habt, könnt ihr runterkommen, Lina hat für euch einen Kuchen gebacken«, schallte es durchs Haus, während die Enkelkinder ihre Koffer auspackten. Ruthi mit ihren schwarzen Locken streifte sich eine weiße Bluse über und schlüpfte in rote Shorts, aus denen das hochgeschossene Mädchen längst herausgewachsen war. Die blonde Selma hatte das Haar zu Zöpfen geflochten und wählte ein Ringelhemd und eine Trainingshose, die vor ihr schon drei Schwestern getragen hatten. Beide Mädchen hatten weiße Söckchen und Sandalen der Firma Salamander an. So erschienen sie im Esszimmer, in dem die Großeltern an einem weiß gedeckten Tisch mit türkisfarbenen Lederstühlen saßen. Bode reichte jedem Kind die Hand zur Begrüßung und zeigte auf den zugedachten Sitzplatz. Das Gedeck bestand aus einem weißen Kuchenteller mit dazu passender Teetasse und einer weißen Stoffserviette im Silberring, auf dem das Sternzeichen des jeweiligen Kindes eingraviert war. Selma hatte bis zu diesem Tag nicht gewusst, dass sie im Tierkreiszeichen des Krebses geboren war.
Nachdem die Enkelkinder sich gesetzt hatten, bekamen sie Johannisbeerkuchen mit Baiser serviert, dazu gab es Sahne aus einer dünnwandigen Glasschüssel. Ilse füllte duftenden Tee in ihre Tassen und sagte aufmunternd: »Nun greift schon zu.« Die Münchner Kinder waren beeindruckt von der erlesenen Atmosphäre. Mit einer Glasfront, die von der Decke bis zum Boden reichte, war das Esszimmer zum Steinhuder Meer hin geöffnet, die Wellen schlugen in zehn Meter Entfernung gegen die Uferpalisaden und in der Ferne konnte man die Insel Wilhelmstein mit ihrem burgartigen Gemäuer liegen sehen. Auf der einen Seite des zum Anwesen gehörenden Holzstegs stampften zwei Rennjollen auf und nieder und zerrten an den Tauen, auf der anderen Seite lagen ein abgedecktes Motorboot und ein Ruderboot. Am sogenannten Meer war es immer windig, deshalb knallten die Wanten der Segelschiffe gegen die Masten. Das moorige Wasser erzeugte einen leicht säuerlichen Geruch, der sich mit Ilses herbem Parfüm namens »Bandit« vermischte. Diese Duftmischung blieb den Kindern für immer in der Nase. Über dem Esstisch hing ein Frauenkopf von Otto Gleichmann, das Bild hatte den gleichen Grauton wie das Wasser. Das Esszimmer war durch eine Glasvitrine vom Wohnzimmer getrennt, in dem ein brauner Konzertflügel die Hälfte des Raumes einnahm. In der Vitrine befanden sich kleine Figurinen von Mataré, Renée Sintenis und Naum Gabo, daneben standen die Weihnachtsgeschenke der Enkel: ein zartes Tonpferdchen von Reingard, ein plumper Eisbär von Ruthi, ein goldener Weihnachtsengel von Anna-Friederun und, gegen die Rückwand gelehnt, eine Zeichnung von Selma.
Der Großvater Hermann Bode war ein würdiger Herr mit schlohweißen, kurzgeschnittenen Haaren. Er hatte einen cremefarbenen Leinenanzug an, dazu trug er ein weißes Hemd mit grauer Krawatte, die mit einer goldgefassten Perle festgesteckt war. Der 74-Jährige hatte ein glattrasiertes Gesicht mit Pigmentflecken, der Mund war schmallippig und farblos. Seine blauen Augen sahen durch eine Brille mit Silberrand, die ein quadratisches Lesefenster hatte. Die schmalen Hände waren übersät mit braunen Punkten und am Ringfinger steckte, neben einem eindrucksvollen Brillantring, der weißgoldene Ehering. Mit Reepschnur und Schekel war seine Taschenuhr am Gürtel befestigt. Der Vater der Mutter verkörperte eine Autorität, der sich die ganze Familie unterzuordnen hatte. Niemand wagte es, ihm zu widersprechen, und Ilse war bemüht, seinen Wünschen zuvorzukommen. Er saß kerzengerade bei Tisch und aß mit einem silbernen Besteck, auf dem der Name seines gefallenen Sohnes Sindbert eingraviert war. Sein Serviettenring zeigte das Sternzeichen Löwe.
Die Stimmung bei Tisch wirkte steif, weil man als Kind nur dann zu sprechen hatte, wenn man dazu aufgefordert wurde. Benutzte eines der Kinder ein Fremdwort wie Pullover oder Serviette, kam sofort die Korrektur, dass man sich der deutschen Sprache zu befleißigen habe, in der es Wollwams oder Mundtuch heiße. Der Großvater sprach zwar fließend Französisch und Englisch, wollte aber keine Vermischung der Sprachen, weil für ihn die deutsche Sprache ein Ausdrucksmittel war, das er rein erhalten wollte. Bodes Worte waren gewählt und akzentfrei. Immer sprungbereit, um das herbeizuschaffen, was dem hohen Herren fehlte, saß am Kopfende des Tisches Ilse, seine 15 Jahre jüngere Frau. Sie war klein und wirkte in ihrem weißen Hosenanzug knabenhaft, die altersgemäßen Falten waren in Narben hinter den Ohren verschwunden. Sie selbst sagte, ihr Gesicht sei glatt wie ein Babypopo. Das lange schwarze Haar war straff nach hinten gekämmt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Wenn sich eine Haarsträhne löste, benetzte Ilse die Fingerkuppen mit Spucke und strich sie zurück. Immer braun gebrannt, im Winter vom Skifahren, im Sommer vom Sonnenbaden, machte die Großmutter einen sportlichen Eindruck. Wenn sie eine Treppe hinaufwollte, nahm sie immer zwei Stufen aufeinmal. Wegen ihrer kleinen Statur und der burschikosen Art vermittelte sie den Kindern ein Gefühl von Kameradschaftlichkeit, die sich in seltenen Fällen sogar gegen den Patriarchen richtete. Schon bei der ersten Mahlzeit wurde Selma von diesem ermahnt, sich gerade zu halten, die Gabel zu benutzen und ohne zu kichern den Mund mit dem Mundtuch zu reinigen. So gemaßregelt, ließ das Kind den Kopf sinken und rührte den Kuchen nicht mehr an. Der Großvater bat seine Frau, der Enkelin in der Küche beizubringen, wie man sich an seinem Esstisch zu benehmen habe.
Für den nächsten Tag war Segelunterricht vorgesehen, deshalb wurden die Mädchen in einen Raum geführt, in dem Segel, Ruder, Tampen und Persenning ordentlich an der Wand aufgehängt waren. In einem Schrank befand sich die weiße Segelkleidung der gefallenen Söhne, von der sich Elsas Töchter das Passende aussuchen sollten. In einem Regal waren Bodes Siegestrophäen aufgereiht, es waren silberne Trinkbecher und Pokale, die er bei Segelregatten gewonnen hatte. Nachdem die Mädchen ganz in Weiß eingekleidet waren, stemmten sie sich gegen eine Glastüre, die sich nicht öffnen ließ, weil der Wind dagegen stand. Deshalb liefen sie um das Gebäude herum und sahen den Großvater im makellos weißen Anzug mit windzerzaustem Haar wartend am Wasser stehen. Er ließ den Deckel seiner goldenen Taschenuhr aufspringen und bemerkte, dass sie ganze drei Minuten zu spät waren. »In Zukunft erwarte ich, dass ihr vor der angegebenen Zeit zur Stelle seid, sodass ich auf keinen Fall auf einen von euch warten muss.« An einer Wandte zog er die Rennjolle zu sich heran und forderte die Kinder auf, das Boot zu betreten, um das Wasser, welches sich unter den Bodenbrettern angesammelt hatte, über Bord zu schöpfen. Nachdem sie damit fertig waren, erklärte er den Landratten, wie man die Segel auspackt und hochzieht. Es war stürmisch, das Boot kippelte und das Segel fetzte den Mädchen um die Ohren. Ilse stand am Fenster und sah dem Treiben zu, exakt im richtigen Augenblick sprang sie herbei und löste das Tau vom Poller, sodass sich der Bootskörper drehen konnte und dem Wind erlaubte, voll ins Segel zu greifen.
Eine Rennjolle hat einen runden glatten Rumpf aus Holz, der, wie schon der Name sagt, für Rennen konstruiert wurde. Wenn der Wind seine volle Kraft auf das Segel ausübt, legt sich das Schiff stark zur Seite. Selma wurde blass vor Angst, als das riesige Vorsegel um sie herumschlug und das Wasser über die Bootswand hereinschwappte, während sie in rasanter Fahrt durchs Steinhuder Meer pflügten. »Vorschot einholen«, kommandierte Bode und Ruthi erwischte das schlagende Seil. Selma klammerte sich an den Schwertkasten und sah sich schon in den grauen Fluten ertrinken, als das nächste Kommando kam: »Klar zur Wende, Selma, Kopf einziehen.« Das Segelschiff drehte sich und lag sofort wieder hart am Wind. Bei der nächsten Bö legte sich der Schiffskörper so stark zur Seite, dass das Ende des Großsegels ins Wasser tauchte und der Steuermann Leine geben musste. »Fockaffe, Vorschot dichter holen«, kam das Kommando für Ruthi, die sofort reagierte. Die drei segelten durch die sogenannten Deipen um den Wilhelmstein herum und nahmen dann Kurs auf den Ort Steinhude. Bode erklärte den Mädchen die roten Benzel an den Wandten und in welchem Winkel das Großsegel optimal Fahrt erzeugt. Er sprach von der Aerodynamik des Segelns und verglich das Focksegel mit einem Vogelflügel, hinter dem der Wind verwirbelt. Das Fähnchen auf dem Mast nannte er Verklicker und spielte mit dem Großsegel, um zu demonstrieren, wie Segel und Bootskörper aufeinander einwirkten. »Morgen üben wir Mann über Bord und wenn ihr das beherrscht, dürft ihr alleine unter Land segeln.« Selma wollte zurück ans sichere Ufer, Segeln war nichts für sie. Mit einem eleganten Aufschießer stand die Jolle stampfend vor dem Steg und Selma sollte mit dem Tau hinüber auf die Holzbretter springen, um das Schiff festzumachen. Das Kind konnte sich auf dem kippeligen Bootsrand kaum halten und wagte nicht, über den Abgrund zu springen, da kam ihm eine Hand entgegen, die den Angsthasen auf sicheren Grund zog. Ilse war immer im richtigen Moment zur Stelle.
Die beiden Enkel sollten vorschriftsmäßig die Segel bergen, das hereingeschwappte Wasser ausschöpfen, das Boot klarmachen und anschließend zum Mittagessen erscheinen, »natürlich gekämmt und mit sauberen Händen« setzte Bode hinzu. Pünktlich um ein Uhr standen die Mädchen hinter den Stühlen, bis der Großvater erschien und sich setzte, erst dann durften sie ebenfalls Platz nehmen. Jedes Mittagessen hatte drei Gänge: Suppe, Hauptspeise und Nachtisch, die nacheinander von Lina serviert wurden. Das Dienstmädchen aß in der Küche und bewohnte ein Zimmer neben der Speisekammer. Es konnte hervorragend kochen, sprach Plattdeutsch und wollte die Lieblingsgerichte der Gastkinder wissen, um sie in den nächsten Tagen aufzutischen. Lina war eine stämmige Frau mit Haarknoten, einem runden freundlichen Gesicht und roten kräftigen Händen. Mit dem Rad fuhr sie ins Dorf und besorgte täglich die Nahrungsmittel für den nächsten Tag. Die Großeltern sprach sie mit Herr Doktor und Frau Doktor an und zeigte großen Respekt vor dem Hausherren.
An einem heißen Sommertag hatte die dickliche Frau geschwitzt und man sah einen dunklen Rand unter dem Arm ihres Sommerkleides. Als sie sich über den Großvater beugte, um die Suppe zu servieren, sagte er: »Lina, ich wünsche keinen Schweißgeruch zur Suppe serviert zu bekommen.« Die gutmütige Frau stellte behutsam die Suppenterrine auf den Tisch, schlug die roten Hände vors Gesicht und fing hemmungslos an zu weinen. Die Enkel sahen betreten auf das glattgebügelte Tischtuch, Ilse wandte sich ab, um die Weinende nicht zu beschämen, und der Patriarch sagte: »Nun beruhigen wir uns mal und sehen nach, ob es eine frische Bluse im Schrank gibt, dann können wir ja wieder kommen.« Lina verschwand und erschien zum zweiten Gang komplett umgezogen in frischen Kleidern, was nicht weiter kommentiert wurde. Bei der Nachspeise wandte sich Bode an sein jüngstes Enkelkind: »Selma, wie gut kannst du schwimmen?« Selma konnte nicht schwimmen und blickte trotzig auf ihre Knie. Ruthi stieß ihr den Ellbogen in die Rippen, aber es kam keine Antwort. »Vielleicht möchtest du mir die Frage beantworten«, wandte sich Bode an die Schwester, die ihn darüber aufklärte, dass Selma nie Schwimmunterricht bekommen hatte. »Dann müssen wir das in die Hand nehmen«, entschied der Großvater und bemerkte zu Ilse: »Es ist nicht in Ordnung, dass Elsa mir eine Nichtschwimmerin schickt, obwohl sie weiß, dass wir am Wasser wohnen.«
Nach jedem Mittagessen gab es eine Mittagsruhe, während der sich die Großeltern in ihre Gemächer zurückzogen. Im Haus hatte absolute Stille zu herrschen und die Kinder sollten sich aufs Bett legen, um sich lesend zu bilden. Das Mittagsschläfchen der Großeltern fand an heißen Sommertagen auf einer geschützten Terrasse statt, wo sie sich nackt auf Sonnenliegen ausstreckten, um nahtlos braun zu werden. Selma, die noch nie einen nackten Mann gesehen hatte, bekam einen Schock beim Anblick des braungebrannten Großvaters und seines Geschlechtsteils.
Im Erdgeschoss des Hauses befand sich ein Bücherzimmer, in dem die Regale bis zur Decke reichten. Auf dem Büchertisch lag eine uralte, riesengroße Lutherbibel, die täglich an einer anderen Stelle aufgeschlagen wurde. Im ersten Regal standen die deutschen Klassiker mit goldgeprägten Lederrücken, im zweiten befanden sich die philosophischen Werke von Sophokles bis Heidegger, daneben waren die chinesischen und indischen Dichter und Denker eingeordnet. Die französische Literatur verstaubte nahe der Decke, während die Kinderbücher handlich im unteren Teil der Bibliothek eingeordnet waren. Handgeschriebene Bücher, Erstausgaben und solche, die signiert oder mit einer Widmung versehen waren, durften von der jüngeren Generation nicht angefasst werden und standen mit ihrer repräsentativen Goldprägung neben den Werken, die Bode selbst verfasst hatte. Wegen der alten Folianten verströmte dieser Raum einen leichten Modergeruch, während die restlichen Räume, klinisch weiß gestrichen und geputzt, nach Steinhuder Meerwasser rochen.
Am Nachmittag wollte der Großvater die Nichtschwimmerin Punkt drei zum Unterricht auf dem Steg treffen. Mit einem ausgeliehenen Badeanzug und einer noppigen Gummihaube, aus der die Zöpfe unten heraushingen, stand Selma fünf vor drei am verabredeten Ort und fror erbärmlich im kalten Wind. Auf die Sekunde genau um drei erschien der Hausherr und sagte: »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige.« Dann forderte er das Mädchen auf, in den moorigen See zu springen. Es stand 60 Zentimeter über den Wellen, die braun und unergründlich gegen die Holzpfosten schlugen. Selma schlang die Arme um den dünnen Körper, hatte blaue Lippen und schnatterte, dazu schüttelte sie verneinend den Kopf, als sie durch einen leichten Stoß in die Tiefe befördert wurde. Das Wasser drang ihr in die Nase, in Mund und Augen, sie schluckte die Brühe hinunter und tauchte auf. Der Morast gab den Füßen keinen Halt, die Neunjährige ruderte mit den Armen und sah, dass der Großvater über ihr Schwimmbewegungen machte, die sie nachahmen sollte. Bemüht, seinen Anforderungen gerecht zu werden, strampelte das Kind wie wild im eiskalten Nass und hatte panische Angst zu ertrinken. Bode kniete sich mit seiner schlohweißen Hose auf den Steg und sagte: »Du musst ruhig atmen, deine Arme bewegen und aufhören zu zappeln«, dann legte er ein Geldstück auf den Poller und erklärte: »Dieses Fünfzigpfennigstück ist für dich, wenn du drei Schwimmzüge schaffst.« Nach einer Viertelstunde reichte er Selma die Hand und zog sie zurück auf den Steg. Die Frierende lief ins Haus, wo sie von Lina mit einem im Backofen vorgewärmten Badetuch empfangen wurde. Beim Tee musste sich Bodes jüngste Enkelin anhören, dass sie entweder schwimmen lernte oder nach Hause geschickt würde. Fünfzig Pfennige waren ein starker Anreiz, täglich machte Selma ihre Übungen und konnte am Ende der Ferien schwimmen.
Hinter einer hohen Hecke verborgen, wohnte im Nebenhaus Bodes Tochter Erkengard mit ihren Kindern Frowis, Eckbert und Luitgard. Das Sommerhaus war aus Holz und hatte eine vorgebaute Veranda. Im Inneren gab es ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und eine Küche. Die Kinder schliefen in Stockbetten übereinander und die Mutter auf einem Sofa im Wohnzimmer. Das Haus war gemütlich, aber primitiv; das Wasser wurde mit einer Hebelpumpe aus dem Untergrund hochgesaugt, bis es nach Jahren eine Wasserleitung gab. Auch dieses Haus hatte einen großen Garten und einen Steg, an dem ein Ruderboot und ein kleines Segelboot vertäut lagen. Erkengard führte einen eigenen Haushalt. Sie und ihre Kinder kamen nur dann in den Neubau, wenn sie dazu aufgefordert wurden. Frowis, die Älteste, war achtzehn, Eckbert sechzehn und Luitgard vierzehn Jahre alt. Die Cousinen kannten sich nicht. Nachdem die Ortsansässigen genügend Freunde hatten, waren sie nicht daran interessiert, mit den Münchner Verwandten zu spielen, deshalb gab es nur wenige Anknüpfungspunkte.
Wenn das Wetter gut war, wurde der Tee auf der gegenüberliegenden Seite des Steinhuder Meeres an der Mardorfer Warte eingenommen. Hierfür machte der Hausherr das Motorboot flott, setzte eine dunkelblaue Kapitänskappe auf und steuerte über den See, während die Besatzung vom Spritzwasser der Wellen geduscht wurde. Am anderen Ufer gab es wahlweise Tee oder Kaffee, dazu durfte man sich einen Kuchen aussuchen oder einen Eisbecher mit Sahneberg, in dem ein japanisches Papierschirmchen steckte. Anschließend ging die ganze Gesellschaft ins Moor, um Blaubeeren und Preiselbeeren zu sammeln, die Lina am nächsten Tag mit Schlagsahne servierte. In der Remise neben dem Haus standen zwei silberne Mercedes Benz 190 SL. Einer gehörte Ilse, einer dem Großvater, der seinen Silberpfeil nannte. Beide Cabriolets waren exakt gleich gebaut und hatten zwei Sitzplätze vorne und einen Notsitz hinten. Die dunkelblauen Ledersessel verbreiteten einen wundervollen Duft, das Armaturenbrett und das Lenkrad waren aus Zirbelholz gearbeitet. Das schwarze Stoffdach konnte zurückgeschlagen werden, damit man bei der Fahrt über Land die verschiedenartigen Gerüche und den Wechsel von warm und kalt, hell und dunkel genießen konnte.
Als ein mehrtägiger Besuch in Hannover geplant war, verlangte der Großvater, dass die Münchner Kinder vorher neu eingekleidet würden, weil er sich mit seinen Enkeln, die er Großkinder nannte, nicht blamieren wollte. Ilse ging mit ihnen ins Steinhuder Dorf, in dem es viele Fischer gab, die ihren geräucherten Aal vor den Geschäften aufgehängt hatten. Der Ort duftete nach einer Mischung aus Räucherfisch und Brackwasser. Die Passanten grüßten »Tach, Frau Doktor«, und Ilse kaufte mal bei Schweers, mal bei Kuckuck oder bei Hodan ihren Fisch, um nur ja niemanden zu benachteiligen. Ein langer Steg ragte von der Ortsmitte in den See hinein, an ihm waren die als Auswanderer bezeichneten Segelschiffe angebunden. Es waren breite Pötte, die auf hölzernen Sitzbänken die Feriengäste auf die Insel Wilhelmstein brachten. Am Ortsrand standen alte Scheunen im Kreis um den Kirmesplatz herum, auf dem jeden Sommer ein Rummel mit Schiffschaukel, Autoscooter und einem altmodischen Karussell abgehalten wurde, dazu gab es eine Schießbude und Stände mit Zuckerwatte und gebrannten Mandeln. Im Textilhaus Behling kaufte Ilse eine blaue Latzhose und ein blau gepunktetes Kleid für die blonde Selma, die dunkle Ruthilde wählte ein klein geblümtes Hemdblusenkleid und bekam ihre erste Blue Jeans. Mit diesen Neuanschaffungen waren die armen Verwandten standesgemäß für die Stadt gekleidet.
Am nächsten Morgen ging es los, Ruthi stieg in den Mercedes des Großvaters und Selma nahm neben Ilse Platz. Bode mochte den Fahrstil seiner Frau nicht und um eventuell auftretenden Streit zu vermeiden, besaß jeder sein eigenes Auto. Wenn sie beide nach Hannover wollten, fuhren sie in ihren silbernen Flitzern hintereinander her. Ilse verließ Steinhude bewusst später, weil es ihr Ehrgeiz war, ihren Mann auf der Strecke zu überholen. Er hielt sich strikt an die Straßenverkehrsordnung, sie hatte Spaß daran, möglichst viele Verkehrsregeln zu übertreten, ohne dabei erwischt zu werden. In Wunstorf wählte Ilse eine Abkürzung, fuhr bei Rot über die Ampel, mit zwei Rädern über den Fußweg und hatte durch diese Manöver ihren Mann abgehängt. Sie winkte ihm aus dem offenen Verdeck zu und erfreute sich an der Vorstellung, dass es ihm unerklärlich schien, wie sie plötzlich vor ihm auftauchen konnte, obwohl sie doch nach ihm abgefahren war. Mit solchen Späßen zeigte sie den Kindern, wo die Macht des Mannes endet und die kleinen Freiheiten anfangen, die das Leben einer Frau zu bereichern vermögen. Als sie die Landstraße verließen, reichte Ilse der Beifahrerin eine eng anliegende weiße Pilotenmütze, mit genieteten Löchern an den Ohren. Auf der Autobahn raste die alte Dame mit 160 Stundenkilometern über die Teerstraße, sodass der Wind sie beinahe aus den Sitzen gerissen hätte. »Jetzt denkste, die Alte spinnt«, sagte sie zu Selma, der die rasante Fahrt richtig Spaß machte. Das Ziel dieser Reise war die Pelikan-Fabrik in der Podbielskistraße im Herzen von Hannover.
Ilse fuhr mit ihrem Cabrio an das Fabriktor, der Pförtner grüßte: »Guten Morgen, Frau Doktor«, hob die Schranke hoch und ließ sie in den Hof fahren. Vor dem Hauptgebäude mit einem reich dekorierten Jugendstilportal übergab die Fabrikbesitzerin den Autoschlüssel an einen Livrierten mit der Bitte, den Wagen zu betanken und zu waschen. Dann stiegen Großmutter und Großkind die Stufen hinauf und betraten das Gebäude, in dem links vom Eingang die Räume lagen, die die Bodes bewohnen konnten, wenn sie über Nacht in Hannover blieben. Durch eines der hohen Bogenfenster sah Selma den Großvater mit seinem Silberpfeil vorfahren. Er wurde ehrerbietig gegrüßt und überreichte den Wagenschlüssel. Im geräumigen Wohnzimmer war ein Sofa für die Kinder bezogen, im danebenliegenden Schlafraum gab es ein Doppelbett für die Großeltern. Ilse, die Erbin der Pelikanwerke, streifte anstelle des weißen Segelanzugs einen silbergrauen Hosenanzug mit farblich abgestimmtem Schuhwerk über und tupfte Parfüm hinter die Ohren, bevor sie sich mit den Kindern zu einem Rundgang durch die Fabrik aufmachte.
Durch hohe Hallen kamen sie in einen Raum mit riesigen Kupferbottichen, in denen die blaue Pelikantinte gekocht und umgerührt wurde. Hier roch es chemisch nach gallussaurem Eisenoxid. Im nächsten Raum wurden die verschiedenen Tinten in Gläschen gefüllt und mit einem Papieretikett versehen, auf das ein stilisierter Pelikan gedruckt war. Daneben lag die Abfüllanlage für vielfarbige Tuschen und Stempelfarben, von denen Lösungsmitteldämpfe aufstiegen, weshalb die Kinder zum Weitergehen gedrängt wurden. Die drei Besucher liefen einen Flur entlang und kamen in ein Zimmer, in dem die Deckfarben in silberne Metallschälchen tropften. Ein Angestellter im Blaumann, drückte sie in die Schienen der Schulmalkästen. Zuletzt kam in jeden Kasten eine Tube Deckweiß. In der nächsten Abteilung floss der wasserlösliche Klebstoff Pelikanol in weiße Kunststoffdöschen. Ein wundervoller Duft nach Marzipan erfüllte die Halle, in dem der aus Kartoffelstärke hergestellte Papierkleber mit einer Wachsschicht vor dem Austrocknen bewahrt wurde. Der Arbeiter klebte anschließend einen kleinen Löffel in den Deckel und schraubte ihn auf die Dose. Die Besucher betraten ein Zimmer, das berauschend nach Lösungsmitteln roch. Hier wurde der Kunstharz-Klebstoff Peligom in Tuben gefüllt. Ein netter Mitarbeiter wollte von Ruthi wissen, was für einen Kleber sie zu Hause benutzten. »UHU«, sagte die 17-Jährige.
Pelikan-Fabrik Hannover
»Sehen Sie, Frau Doktor, da müssen wir noch ordentlich Reklame für unser Peligom machen, um UHU vom Markt zu verdrängen.«
»Im Falle eines Falles klebt UHU wirklich alles«, posaunte Selma, die diesen Satz im Radio gehört hatte. Ilse war sichtlich gekränkt und packte einige Tuben Peligom in eine Pappschachtel, die sie Ruthi reichte. »In Zukunft sollt ihr nur noch unsere Pelikanprodukte verwenden und du, Selma, kannst in deiner Schule dafür Werbung machen.«
In der nächsten Werkshalle wurden die Füllfederhalter aus Kunststoff gepresst und montiert. Für dieses Markenzeichen von Pelikan gab es Federn, die vergoldet waren, weiche, harte, dünne oder schräge Metallfedern, die jeweils auf die Tintenführung gesetzt und in den Halter geschraubt wurden. Auf die Hülse konnte der Name des Eigentümers geprägt werden. Ruthilde und Selma erhielten jede einen Füller mit goldenem Namenszug als Geschenk. In einem langen Gebäudeteil war die Herstellung von Schulmalblöcken untergebracht, die im Kunstunterricht von nahezu jedem Kind in Deutschland bemalt wurden. Das Papier kam von riesigen Rollen, wurde dann beschnitten und gebündelt. In einer Stanze erhielten die Blöcke ihre DIN-Größe und eine Sollbruchstelle, sodass man die einzelnen Blätter abtrennen konnte. »Wie beim Klopapier«, rief Selma dem Fließbandarbeiter zu, der sie wegen des Lärms in der Halle nicht verstehen konnte. Zuletzt verklebte eine Maschine den Block auf einer Pappe mit farbigem Umschlagblatt. Ilse wollte den Rundgang beenden, aber Selma wollte unbedingt die Pinselwerkstatt sehen, deshalb liefen sie die Treppe hinunter und betraten einen Kellerraum, in dem Tierhaare und Borsten sortiert von der Decke hingen. Sie bekamen die Verarbeitung von Pferdehaar, Marderhaar und Schweineborsten gezeigt: Die einzelnen Strähnen wurden gebündelt, umwickelt, geleimt und beschnitten, bevor ein Lehrling sie in einer Metallhülle auf den Stil steckte. Auf dem Holz war die jeweilige Pinselstärke mit einer goldenen Nummer eingeprägt. Beide Mädchen wären gerne noch länger in der Fabrik herumgelaufen, Ilse mahnte jedoch zur Eile, weil noch ein Abendessen und anschließend ein Konzert geplant waren und man Bodes Geduld nicht zu sehr strapazieren durfte.
Das Abendessen fand in einer Gaststätte mit Blick auf den Maschsee statt, wo man Bode und seine Frau wie alte Bekannte begrüßte und zu einem rosa gedeckten Tisch mit Seeblick führte. Ein Ober, der eine weiße Serviette über den Arm geworfen hatte, servierte nacheinander mehrere Gänge. Selma hatte Probleme mit den verschiedenen Gabeln, weil man bei ihr zu Hause nur mit einer Gabel aß. Der Großvater nippte mit spitzer Oberlippe am Rotwein und lobte die Blume, die die Mädchen nicht sehen konnten. Ilse wusste sofort, warum sie kicherten: Irgendwo musste die Anstrengung, sich »comme il faut« zu benehmen, ein Ventil finden. Nach einem geräucherten Aal auf Weißweinschaum wurde gemischter Salat mit Oliven serviert. Als Hauptgang wählten die Großeltern Entenbrust auf Spinat mit Bratkartöffelchen. Selma mochte keinen Spinat und stocherte in dem eisenhaltigen Blattwerk herum, bis Ilse es ungesehen im Topf einer Zimmerpalme verschwinden ließ. Der Ober rollte einen Käsewagen neben den Tisch und reichte auf Wunsch kleine Scheibchen von grünschimmeligem Roquefort oder Chèvre, der streng nach Bergziege roch. Dann servierte er eine Schale mit gefrostetem Obst und legte kleine Messerchen mit Perlmuttgriffen neben den Glasteller. Zu jedem Gedeck wurde ein Wasserschälchen mit heißem Wasser gereicht, in dem die Erwachsenen die Fingerspitzen nässten, um sie anschließend mit dem Mundtuch trocken zu tupfen. Der Koch mit einer hohen weißen Mütze trat an den Tisch und stellte vor jedes Kind eine Eisbombe. Dem Ehepaar servierte er einen Espresso und wollte wissen, ob es den Herrschaften gemundet habe. Das anschließende Konzert fand in der Marktkirche statt. Es wurde Beethovens Streichquartett Nr. 5 gespielt und die Münchner Kinder waren von der Klangfülle überwältigt, während der Großvater mäkelte, dass er dieses Musikstück schon mal besser gehört habe.
Am nächsten Morgen besuchten sie den Zoo. Bode hatte Zeichenblöcke Stifte und zwei Klapphocker dabei und verlangte, dass die Mädchen sich ein Tier aussuchten, welches sie sehr genau studieren und zeichnen sollten. Selma sagte: »Das kann ich nicht«, und erhielt die Antwort: »Das kann ich nicht, gibt es nicht!«
Sie jammerte: »Die Tiere bleiben nicht ruhig stehen, deshalb ist es schwierig, sie zu zeichnen«, und der Großvater meinte: »Versuch doch, die Bewegung zeichnerisch einzufangen.« Ruthi und Selma probierten es bei den Pferden, dann bei den Affen und schließlich blieben sie bei den Elefanten, die vergleichsweise ruhig am Graben standen und mit ihren Rüsseln schlenkerten. Die Blöcke waren bald angefüllt mit Tierstudien und der Großvater war voll des Lobes über die originellen Kinderzeichnungen.
Als Nächstes war ein Besuch im Landesmuseum geplant, um dem Nachwuchs die moderne Kunst nahezubringen. Vor August Mackes Bild eines blonden Mädchens erklärte Bode, wie aus der naturalistischen Darstellung eine flächige wurde, Farbe und Form in der modernen Malerei mehr Gewicht erhielten als die detailgetreue Wiedergabe des Objekts. Sie gingen durch die Ausstellung, bis sie zu dem Bild Diagonale von Wassily Kandinsky kamen, welches hier als Leihgabe Bodes hing, bis er dieses 1971 dem Museum schenkte. Von links unten zielten schwarze Pfeile und Dreiecke nach rechts oben, daneben Halbkreise und regenbogenartige Flächen. Der Großvater sagte: »Kandinsky war einer der Erfinder der abstrakten Malerei und ich habe dieses Bild gekauft, weil es dem Beobachter mit seiner dynamischen Bauweise, das Kraft-Spannungsspiel der Abstrakten Kunst, das Suchen der Ausgewogenheit in Linie, Fläche und Farbe aufzeigt. Jetzt möchte ich euch bitten, mir zu sagen, was ihr seht.«
Ruthi hielt den Mund und Selma meinte: »Ich mag Bilder, wo man was erkennen kann.«
Bode meinte: »Zwick mal die Augen zu, dann spürst du die Dynamik und das Explosive des Bildes, euer Onkel Sindbert hat einmal gesagt, dass es wie ein geplatztes Auto aussieht.«
Zielstrebig ging es weiter zu dem Bild Blitzschlag von Klee, welches hier ebenfalls als Leihgabe Bodes hing. Zu sehen waren drei Strichmännchen, von denen das größte vom Blitz getroffen hinfiel, daneben ein blasser Halbmond. Der Großvater wollte, dass die Kinder ganz genau hinsehen sollten, um zu verstehen, was zeitgemäße Kunst ihnen zu sagen hätte. Er deutete mit dem Finger und sagte: »Hier wird ein Mensch in seine Merkmale zerlegt, in ihm sein Gott oder Dämon, beide im Kampf miteinander. Wir sehen die Kräftespannung, die im scheinbar toten Stoff ihr Wesen treibt, ihn schafft, ihn formt, ihn verändert und aus ihm wirkt. All diese Gedanken hat Klee für die Kunst so schön zusammengefasst in den Worten: Der Künstler soll nicht mehr Sichtbares darstellen, sondern sichtbar machen.« Ilse war der Ansicht, dass es genug war, aber ihr Mann wollte den Kindern noch seinen Schwitters und den Lissitzky zeigen. Die abstrakte Komposition Nr. 7 von Kurt Schwitters hing zwischen anderen Werken des Künstlers, die Selma mehr interessierten. Da waren Holzklötzchen, Garnrollen und Kegel spielerisch aufgeleimt und bunt bemalt. Bode war glücklich, dass sich das Kind für diesen Künstler begeistern konnte und sichtlich interessiert von Bild zu Bild ging. Er griff nach der Schulter der Neunjährigen und dozierte: »Die Kunst hat die verborgenen Antriebe aller Erscheinungen sichtbar zu machen, denke darüber nach, zu Hause erzählst du mir dann die Eindrücke des heutigen Tages.«
Paul Klee »Blitzschlag«
Bevor sie nach Steinhude zurückfuhren, wollte Ilse noch im Haus ihres Bruders vorbeifahren, der die Sommerferien auf einer Mittelmeerinsel verbrachte. Er hatte vom Vater ein Gemälde von Lucas Cranach geerbt und war in großer Sorge, dass während seiner Abwesenheit Einbrecher das Bild entwenden könnten. Aus diesem Grunde hatte er eine komplizierte Alarmanlage in sein Wohnhaus einbauen lassen und Ilse sollte überprüfen, ob alles in Ordnung war. Sie parkten vor einem modernen Haus mit vergitterten Fenstern. Schon an der Haustüre waren einige Schlösser zu öffnen, bevor man im Eingangsbereich einen Zahlencode eingeben konnte, um den Alarm zu deaktivieren. Vor der Wohnzimmertüre war eine rote Lichtschranke, die vor dem Betreten auf Grün geschaltet werden musste. Im Wohnraum hingen Kameras an der Decke, mit denen jede Bewegung registriert und gefilmt wurde. Ilse machte das Licht an und aus dem Dunkel tauchte eine nackte zarte Frauengestalt auf, mit langem lockigem Haar, knospenden Brüsten und einem Schleier, der ihre unbehaarte Scham nicht verdeckte. Zu ihrer Linken war ein nackter männlicher Engel mit einfältigem Gesichtsausdruck zu sehen. Ilse übersetzte, was links neben dem Kopf der Frauengestalt in griechischer Schrift zu lesen war: »Siehe die ehrwürdige Aphrodite! Ich bin zwar nur ihr Berater, aber der Begleiter der flüchtigen Liebesfreuden.« Zur Rechten stand: »Einst wurde ich, Venus, aus dem Schaum des Meeres geboren, jetzt lebe ich, wiedergeboren durch deine Farben, oh Lucas!« Das Bild Venus mit Amor hatte eine Größe von 172 x 90 cm und war 1525 in Öl auf Holz gemalt worden. »Sag mal, gefällt dir dieses Bild?«, wollte Ilse wissen. »Wenn ja, dann müsstest du wie mein Bruder in einem Gefängnis wohnen, ich möchte das nicht.« Selma war angerührt von der kindlichen Frau, der man die Kleider entrissen hatte, um ihre Scham für die Augen der Beschauer freizulegen. Sie konnte sich vorstellen, dass das Mädchen sich geschämt hatte, als der Mann sie beim Malvorgang musterte. Seine Augen waren über ihren Körper geglitten, wie die Blicke derjenigen, die später das fertige Bild betrachten würden. Bei der Vorstellung, dass sie selbst anstelle der jungen Venus zu sehen wäre, erschauerte die Neunjährige und war sich nicht sicher, ob es Gruselschauer waren. Sicherlich hatte die Nackte gefroren und gehofft, dass der Künstler schnell damit fertig würde, ihre spitzen Brüstchen mit dem Pinsel nachzuziehen. Ilse erklärte ihr, dass der zarte Schleier die Jungfräulichkeit darstellen sollte. Selma konnte sich darunter nichts vorstellen und fragte: »Was ist denn Jungfräulichkeit?«
Ilse gab zur Antwort: »Das bedeutet, dass man noch nie mit einem Mann das Bett geteilt hat und das Jungfernhäutchen noch heile ist.« Selma sah sie verständnislos an; »Hat eure Mutter euch nicht aufgeklärt?« Nein, das hatte sie nicht.
Nach einer rasanten Autofahrt kamen sie wieder in Steinhude an. Selma öffnete die Heckklappe, um die Koffer zu entnehmen, anschließend ließ sich der Kofferraum nicht mehr schließen. Ilse kletterte auf die Stoßstange, dann auf die wippende Klappe und sagte: »Das werden wir gleich haben.« Sie hüpfte auf das Blech, bis eine große Beule zu sehen war. In diesem Moment kam Lina um die Ecke, schlug die Hände vor den Mund und murmelte: »Wenn das der Herr Doktor sieht.« Ilse warf eine Persenning über den Schaden und machte ihn somit unsichtbar. Als Bode vorfuhr, war die Garagentür bereits geschlossen, und sie sahen, dass unerwarteter Besuch eingetroffen war.
Eine elegante Dame stürzte, umhüllt von einer Parfümwolke, auf Ilse zu, umarmte und küsste sie, dann kam Hermann dran. Die Fremde hatte ihren langen blonden Zopf um den Kopf gewickelt, ihre Lippen waren knallrot angemalt, im gleichen Farbton wie die Fingernägel. Ihre Augen waren blau wie der Lidschatten, der sich bis zur Braue hochzog. Wie bei einer Schlafpuppe klebten lange Wimpern am oberen Lidrand und das Gesicht der älteren Dame war faltenlos geliftet. Das Kostüm, die Handtasche und die hochhackigen Schuhe waren blau. In ihrer ganzen Farbenpracht ähnelte diese Person einem Bild von Nolde. Bald stellte sich heraus, dass sie Lydia Dorner hieß, aus Amerika kam und die Ehefrau von Alexander Dorner, dem bekannten Kunsthistoriker, war.
Eine große hellblaue Mercedes Limousine parkte am Wiesenweg. Den Wagen hatte sie von der Fabrik aus Sindelfingen bekommen und wollte ihn nun per Schiffsfracht mit nach New York nehmen. Lydia wirbelte durch das Glashaus, in allen Räumen roch es nach ihrem schweren Parfüm. Als das Mittagessen auf dem Tisch stand, bemerkte Bode: »Ich hoffe, die Suppe schmeckt nicht nach Moschus, nach dem das ganze Haus riecht.« Der Kaffee wurde im Freien am See serviert, an dem es stürmisch und kühl war. Die Erwachsenen lagen in Liegestühlen und Bode schickte seine Frau: »Ilse, mir ist kalt, hol doch mal mein Wollwams, Ilse, ich möchte einen Campari mit wenig Eis, Ilse, es ist windig, bring mir doch bitte eine Decke, Ilse, hast du den Gärtner angerufen, damit er die Hecke schneidet?«
»Jetzt reichts!«, brüllte Lydia. »Du verdammter Hausdrachen, hol dir gefälligst selbst deinen Scheiß!« Bode packte wortlos seine Decke und verschwand mit einem demonstrativ beleidigten Gesichtsausdruck im Haus. Die Zurückgebliebenen konnten sich über den berechtigten Ausbruch nicht freuen, der Nachmittag war verdorben.
Nach dem Abendbrot um acht versammelten sich die Hausbewohner, für die Nachrichten im Ersten Deutschen Fernsehen. Bode stand vor dem Gerät und sah auf seine Armbanduhr. Eine Sekunde vor acht drückte er auf den Knopf, sodass das Bild, gemeinsam mit den Fanfaren und dem hinter dem Tisch platzierten Sprecher ohne vorherige Werbung auf der Mattscheibe erschien. Nach dem Wetterbericht wurde das neumodische Gerät ausgeschaltet und die Münchner Kinder protestierten: »Ach bitte bitte, dürfen wir den Film mit Heinz Rühmann sehen?« Sie hatten zu Hause keinen Fernseher und waren begierig auf die bewegten Bilder, bekamen aber zu hören: »Geht jetzt ins Bett und lest ein gutes Buch, das regt die Fantasie an! Lesen ist ein schöpferischer Vorgang, bei dem ihr euren eigenen Film entwickelt.« In der Nacht blieb die gläserne Haustüre unverschlossen und Selma wandte sich an Ilse: »Warum verschließt ihr die Haustüre nicht, wenn ihr so wertvolle Bilder an den Wänden habt?«
Ilse meinte: »Wenn die Einbrecher freien Eintritt haben, dann erwarten sie nicht, dass es etwas zu stehlen gibt.« Nachts schlich sich das Kind hinunter ins Parterre und drehte den Schlüssel um, weil es sonst nicht einschlafen konnte.
Am nächsten Tag war Sonntag, der Tag, an dem Bode stets nach dem Frühstück aus seinen Werken vorlas und alle Familienangehörigen zu erscheinen hatten. Zu diesem Anlass kamen auch Erkengard und ihre Kinder Frowis, Eckbert und Luitgard ins Haupthaus herüber. Sie waren ordentlich gekleidet wie zu einem Kirchgang und begrüßten alle Anwesenden. Durch das Schlafzimmer des Patriarchen, in dem die Grundverhexte Landschaft und der Hundsteufel von Klee hingen, ging man in Bodes Arbeitszimmer. Der schwarze Schreibtisch stand schräg im Raum, dahinter waren großformatige Bildbände aufgereiht, das ein oder andere Kunstbuch war an repräsentativer Stelle aufgeschlagen. Eine moderne Aluminiumbüste vereinte die Portraits des gefallenen Sohnes Sindbert mit dem des Vaters, daneben stand eine zarte Silberstiftzeichnung mit dem Profil von Kurt. Die toten Söhne waren sehr präsent. An der Wand hing eine abstrakte Variation von Jawlenski neben dem Bild Tropenvögel von Nolde. Der ganze Raum, mit seinen Fenstern nach zwei Seiten, zeigte die typischen Einflüsse des Bauhauses und des Architekten Gropius, mit dem Bode in Briefkontakt stand. Zur Lesung erschien der Hausherr im silbergrauen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte. Die Entschuldigung von Lydia übersah er geflissentlich und nahm auf dem schwarzen Ledersessel Platz, um aus seinem »Buch der Weisheit« zu rezitieren.
Während Bode las, sahen alle Zuhörer aus dem Fenster auf den See. Die Weite des grauen Wasserspiegels, der mit dem Himmel zu verschmelzen schien, zog förmlich die Gedanken ins Leere. Zur Linken stand eine große Birke, deren grazile Äste im Wind hin- und her schwankten und Landeplatz für Meisen waren. Auf dem Wasser bewegten sich weiße Dreiecksegel, die wie in den Bildern von Lyonel Feiniger geometrische Akzente vor den farblosen Hintergrund setzten.
Vom DienenAls die selbstbewusste Kraftden Grundantrieb der Menschheit formte,war Dienen, das bescheidene Sich-fügen,die Unterwerfung unter den Befehl des Stärkeren.Als Selbsterniedrigung als Liebe galt,da wurde Dienen, das umhegende Betreuen,die herzenswarme, königliche Tugendund Gestalt der Welt.Der Verbundenheit, die uns erfüllt,ist Dienen das lebendige Empfangen,das sich im Stoff verwandelt und erlöst.
Dieser Vers war als Seitenhieb an Lydia gedacht, verfehlte aber sein Ziel, weil diese den Vortragenden unterbrach, in dem sie laut klatschte und »Bravo« rief, was die sakrale Atmosphäre der sonntäglichen Lesung störte. Ilse, die aus ihrem Mann den Halbgott gemacht hatte, wollte seine Autorität nicht beeinträchtigt sehen und bat um Ruhe. Die Gesellschaft wurde gebeten, sich eine Etage tiefer im Musikzimmer einzufinden, um einem kleinen Konzert beizuwohnen. Am Flügel saß bereits die Sopranistin Roswitha Prangel in Erwartung ihres Auftritts. Sie begrüßte Bode mit zärtlichen Küssen und einem waidwunden Augenaufschlag, der ihn sichtlich in bessere Stimmung versetzte. Roswitha erhielt regelmäßige Geldzuwendungen und war immer bereit, ihre geschulte Stimme zum Einsatz zu bringen. Ilse sollte die Sängerin am Flügel begleiten und der Großvater spielte dazu auf der Querflöte. Vor ihrem Bauch drehte Roswitha mit beiden Händen ein weißes Taschentuch, während sie zur Lockerung der Stimmbänder einige Tonleitern hören ließ. Bode hatte hinreißende Kinderlieder komponiert, die nicht auf dem Programm standen, vielmehr hatte er drei Stücke für Flöte und Klavier ausgewählt: »Der urewige Geist« (getragen mit andachtsvollem Ausdruck), »Die Lust« (mit Emphase), und zuletzt sollte »Die Weltanschauung« (mit Hingabe) zu hören sein. In der Notensammlung Gesänge hatte Bode seine eigenen Texte vertont. Die Musik erinnerte an Lieder von Schubert und war eine echte Herausforderung für die Geduld der Enkelkinder, die hofften, dass die Veranstaltung bald zu Ende wäre. Es gab keine Möglichkeit, zu entkommen, und Selma bedauerte die Kinder der Tante, die nahezu jedes Wochenende dieser Tortur ausgesetzt waren. Roswitha blähte den Busen und ließ die Stimmbänder vibrieren, während Ilse sie, in die Noten vertieft, auf dem Flügel begleitete. Bode wiegte sich mit der Querflöte hin und her und spuckte mit spitzen Lippen in das Mundstück. Alle sahen todernst aus, während der Text um die Allheit und die allumfassende Sinnkraft kreiste. Bei dem Wort »Lust« sprühte ein feiner Nebel aus dem Mund der Sängerin und Selma konnte nicht länger an sich halten. Sie prustete los und rannte in die Küche, wo sie von Lina aufgefangen wurde.
Nach dem Essen gingen alle ins Freie, wo die Haushälterin eine Kaffeetafel gedeckt hatte. Selma stand auf dem Steg und wollte gerade das Segelboot zu sich herziehen, als die Sängerin sie von hinten umfing und an sich drückte. Das Kind erschrak und schubste Frau Prangel ins moderige Wasser. Ihr Sommerkleid blähte sich auf, während man den Körper in der braunen Unergründlichkeit versinken sah. Erschrocken sah die Neunjährige, was sie angerichtet hatte. Ilse holte eine Badeleiter und half der auftauchenden Musikerin zurück auf den Steg. Die Haare und das dünne Sommerkleid klebten an der rundlichen Frau und der Großvater verlangte, dass Selma sich entschuldigen sollte, was sie tief beschämt auch tat. Lydia ergriff Selmas Partei und meinte: »Nun lasst schon das Kind in Ruhe, es ist erschrocken und Frau Prangel ist ja noch am Leben.«
Lydia blieb drei Tage im Haus und provozierte Bode. Wenn alle hinter den Stühlen standen und auf das Erscheinen des Hausherren warteten, vertauschte Lydia den Serviettenring und die Gabel des Großvaters und zwinkerte den Kindern konspirativ zu. Wenn ihm der Camembert zu hart war, stellte Lydia ihn in den Ofen und servierte den Käse breitgeflossen. Wenn Ilse geschickt wurde, etwas zu holen, stieß Dorners Frau lautstark den Stuhl zurück, sprang auf und holte es an ihrer Stelle. Dann kniete sie vor Bode nieder und reichte ihm das Gewünschte in demütiger Pose. Wirklich glücklich war Ilse nicht über die Interventionen der Freundin, sie verstimmten ihren Mann und letztlich musste sie es ausbaden, wenn er misslaunig war. Es war nicht klar, ob Ilse sein Gehabe ernst nahm oder dazu erzogen wurde, sich unterzuordnen. Nachdem Lydia abgereist war, kehrte Ruhe ein und die Hierarchie war wiederhergestellt.
Die finanzielle Situation der Familie war äußerst komfortabel. Ilse hatte mehrere Millionen geerbt, sodass ihr Mann den Zahnarztberuf aufgeben und vom Geld seiner Frau leben konnte. Seine Bildersammlung moderner Kunst hatte Bode größtenteils mit in die Ehe gebracht, ab und zu kam eine Neuerwerbung hinzu. Von jedem Enkelkind hatte der Astrologe ein Horoskop angefertigt. Dieses holte er gerne hervor, um dem jeweiligen Kind zu zeigen, wie erstaunlich sich seine Prophezeiungen erfüllt hatten. Für Selma hatte er eine starke Kraft zur Überwindung von Widerständen und künstlerischen Einfallsreichtum vorhergesagt, nun sah er sich in seiner Prognose bestätigt und überreichte dem Mädchen eine Kopie mit den Worten: »Vielleicht hilft es dir, deinen Platz im Weltengeschehen zu erkennen und die Probleme, die auf dich zukommen, besser zu meistern. Jeder Mensch hat es in der Hand, seine Eigenschaften zum Positiven oder zum Negativen hin zu entwickeln, versuche stets, das Beste aus deinen Anlagen zu machen.« Selma fühlte sich seltsam eingeschüchtert durch die Vorstellung, dass das All so viel Einfluss auf ihr Leben haben sollte und alles irgendwie vorherbestimmt war, doch die Autorität des Großvaters war derart einschüchternd, dass sie ihm unbedingten Glauben schenkte.
Am 21. August hatte Hermann Bode Geburtstag. Er feierte nicht wie die meisten Deutschen am Tag der Geburt, sondern am Abend zuvor, den er »Heilig Abend« nannte. Jedes Mitglied der Familie war aufgefordert, schon Tage zuvor ein Gedicht oder ein Lied einzuüben, um es bei der Feier vorzutragen. Die musikalischen Beiträge sollten abgestimmt werden, sodass ein kleines Konzert zustande kam. Selma wollte kein Gedicht aufsagen und meinte zu Ruthi: »›Du armes Schwein, du tust mir leid, du lebst nun nicht mehr lange Zeit‹. Soll ich sowas aufsagen?« Ilse beendete die Verweigerungshaltung der Jüngsten, indem sie ein besonders kurzes Gedicht ihres Mannes hervorholte, welches die »Lütte« einüben sollte.
Was du denkst soll schwingen,Was du sprichst soll klingen,deine Tat sei ernster Wille,deine Ruhe tiefe Stille.
Am Abend kam Erkengard mit ihren Kindern ins Glashaus. Alle hatten ihre beste Kleidung angelegt und hielten ein Geschenk in Händen. Auf dem Flügel waren zahlreiche Päckchen aufgebaut, daneben standen silberne Leuchter, in denen Bienenwachskerzen einen zarten Honigduft verströmten. Lina hatte einen Gugelhupf gebacken, auf dem mit weißem Zuckerguss die Zahl 74 zu lesen war. Ilse griff in die Tasten und alle sangen: »Viel Glück und viel Segen, auf all deinen Wegen.« Im weißen Frack trat der Jubilar ins Zimmer und als der Gesang geendet hatte, bedankte er sich mit einem gerührten Gesichtsausdruck und einem Diener, wobei er sich am Flügel festhielt. Anschließend traten die fünf Enkel dem Alter nach vor, um ihren Beitrag zum Festtag abzuliefern. Frowis, die Älteste, überreichte ein in Goldfolie gebundenes Heftchen, in welches sie mit Schönschrift einige Gedichte geschrieben hatte. Die Zartbesaitete war der Liebling des Großvaters. Mit kaum vernehmbarem Stimmchen rezitierte sie eine mehrstrophige Ballade und blieb nach dem dritten Vers hängen, woraufhin sie bitterlich zu heulen anfing. Bode nahm die 18-Jährige liebevoll tröstend in den Arm und Selma hatte den Eindruck, dass sie einer Inszenierung beiwohnte, bei der die Cousine Aufmerksamkeit erregen wollte. Ruthilde, die eine Zahnspange tragen musste, grinste unnatürlich, als sie an die Reihe kam, um ihr mit Bast umwickeltes Pferdchen zu überreichen. Sie hatte eine Bassflöte im Schrank entdeckt und eine Melodie einstudiert, welche sie fehlerlos vortrug. Der blonde Eckbert in seiner kurzen Lederhose trat vor, überreichte ein selbstgefertigtes Holzschiffchen mit Segel und zog sich schnellstmöglich hinter die Reihe der Mädchen zurück. Die 14-jährige Luitgard hatte Bodes Weisheitsbuch in Leder gebunden und es war deutlich zu sehen, dass der Beschenkte sich ernsthaft darüber freute. Selma hatte eine Burg mit Burgfräulein gemalt und das Kunstwerk mit einigen Gänseblümchen beklebt. Es hatte ihr die Sprache verschlagen, doch hinter dem Rücken des Jubilars formte Ilse lautlos die Worte, die sie nachsprechen sollte, deshalb wurde auch diese Hürde genommen. Der Großvater beugte sich gerührt zu jedem Kind hinunter und bedankte sich aufs Innigste. Dann kamen die Erwachsenen an die Reihe. Erkengard, Roswitha, Ilse, Lina und Cousine Uli, es waren ausschließlich Frauen anwesend, die zuerst einen Knicks machten, etwas Gereimtes vortrugen und errötend ihre Liebe und Zuneigung zum Ausdruck brachten. Der alte Herr genoss diese Liebesbekundungen, umarmte jede und küsste sie mit gespitzten Lippen auf die Wange. Die dargebrachten Geschenke wurden auf dem Flügel ausgebreitet und vom Großvater mit zarter Hand arrangiert. Ilse ließ Haydns Hochzeitsmarsch anklingen, um den musikalischen Teil des Abends anzukündigen. Nachdem alle Kinder gemeinsam einen Flötenkanon vorgetragen hatten, holte Eckbert seine Alt-Blockflöte und spielte mit der Mutter ein Menuett von Georg Philipp Telemann. Lina brachte ein Tablett mit kleinen pikanten Häppchen ins Zimmer, es wurde Wein gereicht und für die Kinder Limonade. Die Sonne war hinter dem Wilhelmstein untergegangen und der See verschwand in der Dunkelheit, als eine leuchtende Rakete in den Nachthimmel zischte. Von einem Torfkahn stiegen Lichtkaskaden auf und fielen dann wie blitzender Regen herab. Das Seewasser färbte sich unheimlich braun, als eine Unterwasserrakete abgeschossen wurde und langsam verglimmte. Als es wieder ganz dunkel geworden war, setzten die Fischer Papierschiffchen aus, in denen 74 Kerzen brannten. Wie kleine Glühwürmchen schaukelten die Lichter auf den Wellen, bis sie nach und nach verlöschten und versanken. Bei den letzten zählte Bode mit und sagte:
Heißt du das Lichtlein schweigen,das deinen Kreis erhellt,so wird die Nacht dir zeigen,den Wunderglanz der Welt.«
Kurz bevor alle ins Bett gehen wollten, erschien ein dunkler Schatten im spärlich erleuchteten Wohnzimmer. Der Schatten legte von hinten seine Hände über die Augen des Jubilars, der sofort sagte: »Mary – Oh Mary, mein Engel.« Er erhob sich vom Sessel und die beiden Schatten verschmolzen für einige Zeit zu einem. Dann wandte sich Mary Wigman um und bewegte sich anmutig auf Ilse zu, die sie umarmte und auf die Wangen küsste. Das Licht wurde angeknipst, deshalb konnte man das verräterische Rot der inneren Erregung auf Bodes Gesicht sehen. Er war überrascht vom Besuch der Freundin, ihr Erscheinen war ein Zeichen innerer Verbundenheit und lebenslanger Treue. Ilse reichte jedem Erwachsenen ein Glas Weißwein und mit dem Alkohol und den lebhaften Erzählungen der Tänzerin entspannte sich die steife Atmosphäre. Die Enkelkinder wurden ins Bett geschickt, als die pikanteren Geschichten zur Sprache kamen, die nach Ansicht des Großvaters für Kinderohren ungeeignet waren.
Am nächsten Morgen saß Selma bereits zeitig am Frühstückstisch und blätterte in der Fernsehzeitung, als Bode streng gescheitelt den Raum betrat. Er riss dem Mädchen die Zeitung aus der Hand und sagte zornig: »Das ist keine Lektüre für Kinder, ich wünsche nicht, dass du in Illustrierten blätterst.«
Eingeschüchtert verdrückte sich Selma in die Küche, wo sie von Lina beruhigt wurde. Kurz darauf erschien auch die späte Besucherin im Esszimmer und setzte sich neben Bode. Mary hatte kinnlange schwarze Haare, blaugraue Augen und ein asketisches Gesicht. Mit ihren langen dünnen Fingern köpfte sie graziös das Frühstücksei und sprach mit tiefer ruhiger Stimme. Sie war dem Jubilar liebevoll zugewandt und wollte von ihm wissen: »Was hältst du von dem Einfluss der amerikanischen Popkultur auf die Lebensart und Sprache der Deutschen?«
Bode machte ein angewidertes Gesicht und meinte: »Es handelt sich um eine Popkulturindustrie. Durch die Massenproduktion ist alles gleichartig und auf den wirtschaftlichen Erfolg ausgerichtet. Wenn wir das übernehmen, verarmt unsere eigene Kultur. Authentische Kultur ist individuell und hat ihren Wert in sich selbst, sie gibt Anregungen und befördert das Nachdenken. Die Pop-Art erinnert mich an Mickymaus-Heftchen, die Bilder sind anspruchslos, plakativ und am Konsum orientiert. Die Musik ist eintönig, die Schlagertexte sind banal und Coca-Cola ist ungesund.«
Mary erwiderte: »Andy Warhol sagt: ›good business is the best art‹« und Ilse schüttelte verneinend den Kopf: »Boogie Woogie ist doch irgendwie frech. Was der Pianist am Klavier vollbringt, finde ich einfach toll! Wenn die Kinder mit der Leichtigkeit des amerikanischen Lebensstils das Kriegstrauma verarbeiten können, soll’s mir Recht sein.«
Mary fügte hinzu: »Boogie Woogie ist tänzerisch sogar ziemlich anspruchsvoll, es beeindruckt mich, wie die Männer ihre Partnerin zwischen den Beinen durch und über die Schulter schleudern.«
Bode beendete das in seinen Augen leidige Thema: »Die Sieger sind immer im Besitz der Wahrheit und das wird auf die Kunst übertragen. Mich interessiert vielmehr, wie Mary ihren Auftritt in New York erlebt hat?«
Die Angesprochene lächelte: »Vor der Carnegie Hall hing ein 10 Meter hohes Plakat, auf dem ich als Hexe abgebildet war, das hat mich dermaßen eingeschüchtert, dass ich schreckliches Lampenfieber hatte. Mit meiner Truppe lief es ganz gut und der Applaus war überwältigend. New York ist eine wundervolle, energiegeladene Stadt, warum reist ihr beiden nicht auch einmal in die neue Welt?«
Bode erhob sich, für ihn war das Frühstück beendet: »Mich lockt nur wenig über den großen Teich, ich habe gehört, dass die moderne Kunst, die die Nazis aus den Museen entfernt haben, jetzt in den Washingtoner Privatsammlungen wieder auftaucht.« Die Erwachsenen stiegen die Treppe hinauf und verschwanden in den Privatgemächern, die Kinder hörten nur noch: »Das Museum of Modern Art in New York hat angeblich die wertvollsten Stücke zusammengetragen, das würde mich schon interessieren.« Als das Mittagessen aufgetragen wurde, war Mary schon wieder abgereist. Die bayerischen Schulferien neigten sich dem Ende zu. Die ersten Herbststürme peitschten über das Steinhuder Meer und die Mädchen konnten nicht mehr hinaus aufs Wasser. Schließlich brachte Ilse sie in Hannover an den Zug und steckte jedem zum Abschied einen Geldschein zu.