Читать книгу Lilienwinter - Siri Lindberg - Страница 5

Ein Stück Unsterblichkeit

Оглавление

Als Jerusha ihrer Großmutter erzählte, dass der Fluch von ihrem Clan genommen worden war, sagte ihre Großmutter nicht viel. Sie nickte nur und atmete aus, lang und ein wenig zittrig. „Wie hieß er?“, fragte sie. „Dieser Fremde, mit dem ich mich damals im Gasthaus gestritten habe? Der den Fluch über uns gebracht hat?“

„Aláes“, sagte Jerusha leise. Es war nicht leicht, diesen Namen auszusprechen, alles krampfte sich in ihr zusammen vor Furcht und Hass, wenn sie es tat.

Ihre Großmutter nickte wieder. Sie hob den Kopf und blickte Jerusha an mit Augen, in die ganz langsam ein Lebensfunke zurückkehrte. Ihre faltige, trockene Hand schloss sich um Jerushas Finger, drückte sie sanft.

„Ich danke dir“, sagte ihre Großmutter, dann stand sie auf und ging nach draußen, in den Garten des Hofes, in dem Jerusha mit ihrer Mutter und Schwester lebte. Verwirrt blickte Jerusha ihr nach, und kurz darauf hörte sie das Gackern der Hühner, das Prasseln von Körnern auf der Erde. Wieso war sie einfach gegangen, wieso fing sie an, so spät am Abend die Hühner zu füttern? Wollte sie nicht hören, wer dieser Aláes war und was Jerusha im Reich der Eliscan erlebt hatte?

Ihre Schwester Liriele begann wieder, sie mit Fragen zu bestürmen. Jerusha erzählte und erzählte, es wurde immer später und irgendwann verabschiedete sich ihre Großmutter, um in ihre eigene, ein paar Häuser entfernte Kate zurückzukehren.

Am nächsten Tag hörte Jerusha von draußen ein eigenartiges Geräusch, war es eine Melodie? Vorsichtig lugte sie in den Gemüsegarten ihres Hofs, über dem die Herbstsonne schien. Ihre Großmutter jätete Unkraut und mit brüchiger Stimme sang sie dabei ein Volkslied vor sich hin. Jerusha staunte; noch nie hatte sie ihre Mutter oder Großmutter singen hören. Sie lauschte einen Moment lächelnd und zog sich dann lautlos zurück.

Zwei Wochen später, als sie selbst ihr Glück wiedergefunden und mit Kiéran ins Dorf zurückgekehrt war, besuchte Jerusha ihre Großmutter in deren Kate.

Sie fand sie auf einer Holzbank in der Sonne sitzend vor, ein Lächeln auf dem Gesicht. Jerushas Gruß erwiderte sie nicht, und um ihre Gestalt war eine eigenartige Stille. Sofort wusste Jerusha, was geschehen war. Sie setzte sich neben ihre Großmutter, nahm ihre Hand, die sich trotz des Sonnenscheins kühl anfühlte, und sprach mit gesenktem Kopf das Geleit des Par Teriada für Kala KiTenaro. Vielleicht hatte sie schon sehr lange darauf gewartet, gehen zu können. So lange, bis sie wusste, dass das Unheil ihre Lieben von nun an verschonen würde.

In dieser ehemaligen Kate ihrer Großmutter lag Jerusha nun in ihrem neuen Bett, das ihnen ein Nachbar aus Kulmenholz gezimmert hatte. Sie atmete den würzigen Duft frischen Holzes ein, lauschte in sich hinein und fühlte, dass ihre Trauerzeit vorbei war. Stattdessen erfüllte sie ein tiefes Glücksgefühl, während sie Kiérans Atemzügen neben sich lauschte. Manchmal konnte sie kaum glauben, dass er hier bei ihr war, dass ihre Liebe die Zerreißprobe überstanden hatte. Jeder Moment mit ihm war kostbar. Weil sowieso bald die Sonne aufgehen würde, kuschelte sie sich an seinen Rücken und legte den Arm um ihn. Wie immer war er auf der Stelle hellwach. Er drehte sich zu ihr um, küsste sie und zog sie an sich.

„Gut geschlafen?“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Kiéran seufzte und schüttelte den Kopf. „Hab wieder die halbe Nacht wachgelegen und darüber nachgedacht, wie wir die Verteidigung organisieren könnten.“

Jerusha nickte, und die Leichtigkeit verließ ihr Herz wieder. Damit ihre Großmutter in Frieden gehen konnte, hatte Jerusha ihr verschwiegen, dass ihnen allen etwas viel Schlimmeres drohte als ein Fluch. Wenn die Eliscan, die unsterblichen Wesen aus dem Nachbarland Khorat, an ihren Plänen festhielten, Ouenda zu erobern, dann lag die Welt, die Jerusha kannte, bald in Trümmern.

„Vielleicht überlegen die Eliscan es sich nochmal anders – schließlich hat Aláes doch bekommen, was er wollte“, meinte Jerusha schwach.

„Würdest du darauf dein Leben verwetten? Und das deiner Schwester?“ Kiéran glitt aus dem Bett, streckte seinen langen, sehnigen Körper, strich sich mit gespreizten Fingern durch seine schulterlangen dunkelbraunen Haare und ging zur Waschschüssel. Er fand sich dank seines magischen Amuletts so gut zurecht, dass Fremde selten merkten, dass er eigentlich blind war.

„Rattendreck, nein, ich verwette gar nichts“, sagte Jerusha, sie richtete sich auf und setzte die Füße auf den abgenutzten Webteppich, der den Boden bedeckte. „Sag mir einfach, wie ich helfen kann, ja?“

Sie wusste, dass Kiéran jede Minute des Tages, die er nicht mit ihr zusammen war, dazu nutzte, die wehrfähigen Männer und Frauen des Dorfs zu drillen und mit ihnen Verteidigungspläne durchzusprechen. Außerdem saß er bis spät in der Nacht am Tisch im Wohnraum, um all die Nachrichten zu beantworten, die ihn auf seine Warnungen hin erreichten – von Stadtkommandanten, Priestern, Fürstenhöfen. Da es ihm trotz des Amuletts schwer fiel, Schrift zu erkennen, halfen sie ihm abwechselnd dabei. Sogar Liri, die jetzt dreizehn Sommer alt war und deutlich lieber den Bogen spannte als Zeilen auf Pergament kritzelte. Jerushas Schwester und ihre Mutter hatten Kiéran längst ins Herz geschlossen, und nicht nur, weil er kommentarlos das anstrengende Holzhacken und Wasserholen übernommen hatte.

Während Kiéran seine Sachen überstreifte – schwarzes Hemd, sandfarbene Hose, weiche Lederstiefel – blickte er zu ihr herüber, und einen Moment lang wurden seine Züge weich. „Pass auf die Nachtlilien auf, so wie bisher. Ich glaube, das ist fast wichtiger als alles andere. Du weißt, was den Eliscan die Dinger bedeuten.“

„Die Dinger!“ Jerusha schnaubte, und Kiéran schickte ihr ein schnelles Grinsen. Er zog sie mal wieder auf, in Wirklichkeit achtete er die Nachtlilien ebenso wie sie. Ein Dutzend von ihnen wuchs ausgerechnet hinter dem Hof der KiTenaros, nicht weit von der Kate entfernt. Jerusha hatte ihren Duft immer mit einer schönen, aber auch traurigen Erinnerung verglichen – und seit kurzem wusste sie, dass es tatsächlich so war. Nachtlilien wurden gepflanzt, um an besondere Ereignisse zu erinnern. Doch es waren keine Menschen, denen diese Erinnerungen gehörten.

Kiéran trat auf sie zu, strich ihr über die Wange und beugte sich herab, um sie zu küssen. „Du musst jetzt bestimmt zur Tempelbaustelle, oder? Wie weit bist du mit dem Tonmodell deiner neuen Statue?“

Es rührte Jerusha, dass er trotz der Gefahr wichtig nahm, was sie tat. „Es ist gestern fertig worden, ich hatte noch keine Zeit, dir davon zu erzählen“, berichtete sie, während sie sich ebenfalls wusch und anzog.

„Darf ich vorbeikommen und schauen?“, fragte Kiéran, schnallte sich sein Schwert um und befestigte den Umhang über seinen Schultern.

Zum ersten Mal würde er sie bei der Arbeit besuchen! Eine heiße Welle der Freude stieg in Jerusha hoch, und zugleich fühlte sie sich ertappt. Wie würde er auf das Modell reagieren? Sie hatte sich entschieden, den Krieger-Gott Xatos nicht wie üblich muskelbepackt und kühn, hoch aufgerichtet in prächtiger Rüstung zu zeigen – sondern schlank, fast hager, in einfacher Kleidung. Mit leicht gesenktem Kopf, beide Hände in höchster Konzentration um den Schwertgriff geschlossen. So, wie sie Kiéran damals in Cyr gesehen hatte, in dem Moment, bevor er in die Bewegung glitt und seine Klinge ein Muster aus Licht und Schatten wob. Diese Statue würde sein Abbild sein, und sie hatte keine Ahnung, ob ihm das überhaupt Recht war ... schließlich verehrte er Xatos. Was war, wenn er sie bat, das Modell zu ändern? Denn das kam für sie nicht in Frage, all ihre Liebe zu ihm steckte darin.

Ich hätte ihn einfach fragen sollen, schalt sich Jerusha. Los, sag es ihm jetzt! Aber dann tat sie es doch nicht – sie war zu gespannt auf seine Reaktion. Vielleicht freute er sich ja.

In ihrem Einspänner fuhren sie nach Mandeth, die Kapuzen ihrer Umhänge hochgeschlagen. Tief hängende Wolken, aus denen Nieselregen sickerte, verbargen die grünen Hügel der Umgebung fast, und die Schafe auf ihren Weiden grasten eng zusammengedrängt, um sich vor Nebelwölfen zu schützen.

„Halt an, wir sind da“, sagte Jerusha schließlich. Kiéran brachte den Wagen zum Stehen, sprang vom Kutschbock und klopfte seinem Ersatzpferd Louc den Hals. Dann blickte er sich um. „Wie sieht der Tempel aus?“, fragte er, und Jerusha beschrieb es ihm. Der Ghaliltempel wirkte von außen fast fertig, und sein Kupferdach glänzte selbst in diesem trüben Licht prachtvoll. Nur im Eingangsbereich war er noch von Gerüsten umgeben, weil am Fries noch gearbeitet wurde. Doch vollendet war der Tempel längst nicht, besonders im Inneren sah es chaotisch aus. „Wir müssen uns ranhalten, damit er wirklich Mittherbst nächsten Jahres geweiht werden kann“, sagte Jerusha und entschied, Kiéran besser nicht ins Tempelinnere mitzunehmen. Einer der Freskenmaler mochte sie nicht besonders, weil sie ihm einmal gesagt hatte, dass er seine Pfoten bei sich behalten sollte – seither nutzte er jede Gelegenheit, ganz zufällig einen Topf Farbe fallenzulassen, wenn sie unter seinem Gerüst war.

Stattdessen ging Jerusha voran zu der aus Brettern gezimmerten Werkstatt, in denen die rund vierzig Steinmetze und Bildhauer in der kalten Jahreszeit arbeiteten. Schon von weitem hörten sie den Klang der Hämmer und hin und wieder ein Kommando oder einen Fluch. Konnte Kiéran verstehen, wie vertraut dies alles für sie war, wie viel es ihr bedeutete, hier zu sein? Er hatte mal gemeint, dass er nicht verstehe, wie man den ganzen Tag auf Steinen herumklopfen könne. Nun gut, das hatte er erst gesagt, nachdem sie ihm vorgeworfen hatte, seine Berufung sei, Leute in Stücke zu hacken. Was auch nicht ganz fair gewesen war.

Sie überquerten den Vorplatz, auf dem noch das Unkraut wucherte, Jerusha stemmte die Tür zur Werkstatt auf und sog den vertrauten Geruch nach Steinstaub und Metall ein, der hier immer in der Luft lag. Zum Glück war Goram TeRulius, der Erste Baumeister, gerade nicht in Sicht – er hasste es, wenn Besucher in seinem Revier herumstiefelten.

Jerusha grüßte ein paar andere Bildhauer, die neugierig zu ihnen hinüberspähten, und ging zu ihrem Arbeitsbereich. Steinsplitter knirschten unter ihren Füßen. Mit klopfendem Herzen zog sie das Leinentuch von dem Block, der mehrere Köpfe größer war als sie selbst. „Hellgrauer Marmor aus den Steinbrüchen von Kesting“, sagte Jerusha und klopfte stolz auf den Stein. „Da drin ist die Statue schon verborgen, jetzt muss ich nur noch alles abtragen, was nicht zu ihr gehört.“

Neugierig ließ Kiéran die Finger über den Stein gleiten. „Was für eine unglaublich mühsame Arbeit. Die Geduld hätte ich nicht. Aber es ist etwas, was du tun musst, oder?“

Bei der Gnade der Götter, er verstand! Das war viel mehr, als Jerusha zu hoffen gewagt hatte.

Jetzt kam der schwierige Teil. Besser, sie brachte es hinter sich.

„Hier“, sagte Jerusha und räusperte sich. „Hier ist das Tonmodell der Statue.“

Sie nahm seine Hand und führte sie zu dem Modell, das auf einem Podest stand und etwa halb so groß war wie ein Mensch.

***

Was war mit Jerusha los? Ihre Aura, sonst sonnengelb und dunkelblau, war eben hell aufgeflammt und gleich darauf fast verloschen – war sie nervös, und wenn ja, warum? Weil sie so viel Wert auf seine Meinung legte?

Hart und kühl fühlte sich der Ton unter seinen Händen an. Kiéran tastete die Figur ab, dann noch einmal. Eigenartig bekannt fühlte sie sich an, und ihm wurde klar, dass sie einen Mann darstellte, der gerade die Anfangspose des Venthis Lijxár einnahm. Jeder Schwerttanz begann auf andere Art, so dass kundige Beobachter selbst ohne Ankündigung wussten, was folgen würde.

Seine Finger glitten über den Körper der Figur, über das Gesicht. Ein Schauer überlief Kiéran; es war, als habe er sich selbst berührt, was für ein seltsames Gefühl. Jetzt wusste er also, warum seine Gefährtin so unruhig war. Er ließ die Hände sinken. „Das ... Jerusha ... ich ...“

„Gefällt es dir?“ Ihre Stimme klang ein wenig zittrig.

Plötzlich musste Kiéran lachen. „Du meinst, bin ich so eitel, mich in manchen Momenten wie ein Gott zu fühlen? Willst du das wirklich – mich als Xatos zeigen?“

Sie verschränkte die Arme. „Ja, will ich.“

„Ein paar Leute kennen mich schon in der Gegend ... wenn die mich als Marmorgestalt vor dem Tempel erkennen, werden sie sich das Maul zerreißen.“

„Das riskiere ich.“

„Dann danke ich dir“, sagte Kiéran und wurde wieder ernst. Marmor war ein Stein für die Ewigkeit. Was sie ihm schenkte, war ein kleines Stück Unsterblichkeit. Hoffentlich reagierte Xatos nicht eifersüchtig – wenn ihn in nächster Zeit ein Blitzschlag niederstreckte, war der Fall klar!

Kiéran wusste, dass ein paar andere Menschen in der Nähe arbeiteten, er sah sie als Umrisse in der Dunkelheit, die von einer leuchtenden Aura umgeben waren. Doch jetzt war ihm gleichgültig, wer zusah. Er nahm Jerusha in die Arme, küsste sie und hielt sie fest, genoss jede Sekunde, in der er sie so lebendig spürte, das Schlagen ihres Herzens, das sanfte Auf und Ab ihres Atems, ihre Wärme. Tief sog er den Duft des Nachtlilienöls ein, das sie jeden Abend in ihre Haare knetete. Nicht einmal die Götter konnten wissen, wie viel Zeit sie noch miteinander hatten und ob diese Statue jemals fertig werden würde. Wenn es Krieg gab, dann war nichts mehr sicher.

Am liebsten wäre er hiergeblieben, hätte sich auf irgendeinen Steinblock gesetzt und beobachtet, wie sie mit Fäustelhammer und Eisen die Arbeit am Marmor begann, aber das ging nicht. Er hatte gleich eine Besprechung mit dem Stadtkommandanten von Mandeth, der ihm erst ums Verrecken nicht hatte glauben wollen, dass es Geschöpfe wie die Skraelings – gefährliche Vogel-Mensch-Wesen aus Khorat – überhaupt gab.

Erst am Abend trafen sie sich wieder. Kiéran zügelte seinen Braunen vor der Baustelle, bis der leichte Einspänner zum Stehen gekommen war, und mit langsamen, erschöpften Bewegungen kletterte Jerusha zu ihm auf den Kutschbock. Jetzt roch sie deutlich mehr nach Steinstaub als nach Lilien. „Ich bin´s nicht mehr gewöhnt“, stöhnte sie. „Meine Arme sind aus Blei, wahrscheinlich kann ich nicht mal mehr ein Blatt Papier heben.“

Kiéran zwickte sie in den Oberarm, der sich ganz anders anfühlte als der seiner ehemaligen Verlobten Marielle, einer Dame der feinen Gesellschaft. „Hm“, meinte er. „Doch eher Gummi.“

Jerusha versuchte, ihn vom Kutschbock zu schubsen, schaffte es aber nicht. Grinsend schnalzte Kiéran mit der Zunge und ließ Louc antraben.

„Und, wie war´s bei dir?“, fragte sie ihn. „Irgendwas erreicht?“

„Irgendeins meiner Argumente hat ihn überzeugt. Er lässt zweihundert Barrikaden aus angespitzten Holzpfählen und einige tausend Eisenpfeile fertigen. Außerdem durfte ich seinen Leuten ein paar Tricks zeigen.“

Das Dumme war, Kiéran hatte keine Ahnung, ob das alles gegen einen Skraeling-Angriff wirklich zu irgendetwas gut sein würde. Er selbst hatte es zwei Mal nur ganz knapp überlebt, als sie ihn aufs Korn genommen hatten. Auch die Eliscan waren furchterregende Gegner, schnell, gewandt und ohne Gnade. Gegen sie half nur eins – ihnen gar nicht erst zu begegnen.

Es war nicht weit bis Loreshom. Mittlerweile kannte Kiéran den Weg zu Jerushas Heimatdorf und fand ihn ohne Probleme, obwohl er nur dünne bläuliche Umrisse in der ewigen Dunkelheit erkennen konnte. War die Sonne schon untergegangen? Er wusste es nicht, ihr Licht sah er nicht mehr.

Jerusha war so müde, dass sie sich schwer an seine Schulter lehnte. Ein paar Minuten später war sie eingeschlafen. Als sie in Loreshom angekommen waren, rüttelte Kiéran sie sanft. „Du willst nicht im Wagen übernachten, oder?“

„Danke, nein. Zu kühl.“ Sie gähnte und schleppte sich nach drinnen.

Kiéran wollte den Einspänner hinter der Hütte abstellen und Louc in den Stall bringen, doch irgendetwas ließ ihn zögern. Sein Nacken prickelte, so wie oft, wenn Gefahr drohte. Irgendetwas stimmte hier nicht! Rasch schlug er die Kapuze zurück und wandte sich um, sondierte das Gelände mit seinen neuen Augen, die kein Licht mehr brauchten. Auf den ersten Blick fiel ihm nichts Bedrohliches auf, doch das hieß nicht, dass alles in Ordnung war.

Kiéran zog sein Schwert, das ihm seine Escadron zum Abschied geschenkt hatte, und umrundete die Hütte. Seit er blind geworden war, schaffte er es nicht mehr, sich lautlos zu bewegen – und auch jetzt trat er auf einen Zweig, der mit einem Knacken brach. Verdammt! Es war nur ein kleiner Trost, dass ihn das hohe Gras so oder so verraten hätte, mit einem Wispern strich es gegen seine Beine. Wenn hier irgendwo Angreifer lauerten, hatten sie ihn längst gehört.

Als er am kleinen Fenster der Hütte vorbeikam, klopfte er an die Glasscheibe und bedeutete Jerusha, drinnen zu bleiben. Er beachtete ihre aufgeregten Was ist los?-Zeichen ebenso wenig wie das Prickeln des Nieselregens auf seinem Gesicht, vorsichtig bewegte er sich weiter. Hin und wieder blieb er stehen und lauschte – seit er fast nichts mehr sah, verließ er sich immer mehr auf seine Ohren. Diesmal meldeten sie ihm ein leises Geräusch aus dem Obstgarten. Vielleicht war es nur ein Huhn, das den Boden aufscharrte, aber irgendwie glaubte er nicht daran.

Momente später sah Kiéran ihn auch schon, den Fremden, der an irgendetwas lehnte, wahrscheinlich einem der alten Apfelbäume. Jeder andere hätte ihn sicher für einen gewöhnlichen Menschen gehalten, doch für Kiérans neue Augen strahlte die Gestalt so hell, dass er sich am liebsten abgewandt hätte. Das war ein Elis, einer der Anderweltler aus Khorat!

Lilienwinter

Подняться наверх