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Abschied

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In zwei Wochen sollte die Reise beginnen. Jerusha graute davor, dass sie auf der Tempelbaustelle Bescheid sagen musste, dass sie so bald nach der Rückkehr von ihrer letzten Reise erneut aufbrechen musste. Also brachte sie es am nächsten Tag hinter sich. Wie erwartet war Goram TeRulius, der Erste Baumeister, außer sich vor Wut. „Du treuloses Stück Käferdung! Wie stellst du dir das vor? Der Tempel wird in genau einem Jahreslauf geweiht, und was ist, wenn dein Xatos dann halbfertig herumsteht, hä?“ Er war so aufgebracht, dass sein wilder dunkler Bart sich zu sträuben schien.

„Er wird fertig sein“, sagte Jerusha fest und bat die Göttin Shimounah darum, dass sie dieses Versprechen würde halten können. Wenn ein Baumeister schlecht über eine Bildhauerin redete, brauchte diese nicht zu hoffen, jemals wieder interessante Aufträge zu bekommen.

Goram ließ den Fäustelhammer auf einen Arbeitstisch fallen und klopfte sich die Hände ab, dass es staubte. „Wie lange wirst du denn überhaupt weg sein, und wohin soll´s gehen? Wirst du mit deinem Geliebten die Blütenküste entlangflanieren oder was? Ein hoher Offizier ist er, habe ich gehört, ein Terak Denar.“

Aha, also hatte Goram von Kiérans Besuch auf der Tempelbaustelle erfahren! Es war ein Fehler gewesen, Kiéran nicht offiziell vorzustellen, das hatte sie jetzt davon.

Es schüchterte Jerusha nicht ein, dass Goram so ärgerlich war, im Gegenteil, so langsam entzündete sich ihre eigene Wut. „Nein, Goram“, schleuderte sie zurück. „Wir werden nicht die Blütenküste entlangflanieren, wir werden versuchen, einen Krieg zu verhindern! Damit dieser miese, kleine Tempel nicht zu Rauch und Asche wird mitsamt allen Ornamenten darin!“

Das bremste Goram, einen Moment lang blickte er sogar verblüfft drein. „Ach wirklich?“, brummte er. „So schlimm steht es? Woher weißt du das?“

„Glaub mir, ohne guten Grund würde ich meine Arbeit nie unterbrechen – du weißt, was mir dieser Xatos bedeutet“, sagte Jerusha etwas besänftigt.

Der Erste Baumeister grinste verschmitzt. „Ja, Mädel, und seit gestern weiß ich auch wieso. Immerhin hast du dich nicht in einen hässlichen Gnom verguckt, das hätte nicht gepasst.“

Jerusha stöhnte. Also war die Ähnlichkeit schon gestern einigen aufgefallen, wie peinlich. Aber das war wohl nicht zu verhindern gewesen, Kiéran hatte sie gewarnt.

Für Goram war das Gespräch anscheinend beendet, er schlug ihr auf die Schulter, brummte ein „Cerak leite dich!“ und ging wieder an die Arbeit.

Das war ja nochmal glimpflich ausgegangen. Allerdings war Jerusha noch nicht klar, wovon sie in der Zeit, in der sie unterwegs war, ihre Familie ernähren sollte – einen Lohn würde sie natürlich nicht erhalten, ihre Mutter verdiente als Wäscherin wenig und Liri sollte auf keinen Fall die Schule hinwerfen, um eine Arbeit anzunehmen. Natürlich, Kiéran ist nicht arm, schließlich stammt er aus einem einflussreichen Clan, ging es ihr durch den Kopf. Aber ich würde ihn niemals darum bitten, mir Geld zu geben, das wäre zu demütigend. Wie hatte Kiéran es bei ihrer ersten Begegnung ausgedrückt? „Ich glaube, Ihr leidet an der gleichen Krankheit wie ich – zuviel Stolz.“ Ja, das stimmte, und sie kannte keine Heilung dafür.

Jerusha arbeitete besonders hart an diesem Tag, um auszugleichen, dass sie ihre Arbeitsgefährten schon bald im Stich lassen würde. Völlig erschöpft ritt sie lange nach Sonnenuntergang auf Louc, den sie von Kiéran geliehen hatte, nach Hause.

Am liebsten hätte sie sich gleich ins Haus geschleppt, doch das ging nicht, erst musste sie sich um die Nachtlilien kümmern. Alle paar Tage brauchten sie Wasser mit einer Prise Asche als Dünger darin, damit sie keine welken Stellen bekamen. Also ritt Jerusha gleich weiter zum Hof ihrer Familie, einem niedrigen, aus Feldsteinen gemauerten Gebäude. Dort brannte anscheinend ein Feuer im Kamin, und Jerusha sog die klare, kalte Luft ein, die nach Holzrauch roch.

Doch dann hörte Jerusha ein sausendes, zischendes Geräusch, das hinter dem Hof hervordrang, und wusste Bescheid. Sie schwang sich von Louc, kam hart auf den Boden auf, hetzte los, stolperte über den Grenzstein neben der Straße, fand ihr Gleichgewicht wieder, rannte weiter. Hoffentlich kam sie noch rechtzeitig! Atemlos umrundete sie den Hof, und tatsächlich, hinter dem Haus stand gerade ein Mann, ließ mit wutverzerrtem Gesicht einen Stock durch die Luft pfeifen und wollte ihn gerade auf die Nachtlilien niedersausen lassen. Ihre Nachtlilien!

„Halt!“ brüllte Jerusha, und weil sie wusste, dass das normalerweise nicht viel nützte, rannte sie einfach weiter. Als sie zwischen dem Fremden und ihren Lilien stand, griff sie mit beiden Händen nach dem Stock und zerrte daran. Verbissen rangen sie um das Stück Holz.

„Was soll das?“, keuchte der Mann halb wütend, halb verblüfft. „Lass los, du miese Viper!“

Jerusha hatte nicht die Absicht, das zu tun. „Warum wolltet Ihr auf die Blumen einschlagen?“, schoss sie zurück. „Ghalils Schande, die haben Euch nichts getan!“

Es wirkte, der Kampfgeist wich aus dem Fremden und er lockerte unwillkürlich seinen Griff. Mit einem Ruck riss Jerusha ihm den Stock weg. Nun wirkte der Fremde ein wenig verwirrt, so als wisse er selbst nicht mehr so recht, warum er eigentlich hier sei. „Warum?“, wiederholte er und runzelte die Stirn. „Nun…“

„Ja, genau“, sagte Jerusha kampflustig. „Warum wolltet Ihr das tun?“

Sie erwartete keine Antwort. Es kam nie eine, die auch nur annähernd Sinn machte.

„Shani, bist du das?“ Schnelle Schritte näherten sich, und Liriele, ihre jüngere Schwester, bog leichtfüßig um die Ecke, über der Schulter wie so oft den Bogen. Hoch aufgeschossen und schlank stand sie im Gegenlicht, das aus den Fenstern des Hofs fiel. Obwohl sie sonst so übermütig war wie ein Fohlen, erkannte sie sofort den Ernst der Lage. In einer einzigen fließenden Bewegung nahm sie den Bogen von ihrer Schulter, nockte einen Pfeil auf, spannte die Sehne und zielte auf den Fremden. „Besser, Ihr verschwindet – und lasst Euch nie wieder hier sehen!“

Erschrocken murmelte der Mann einen Protest und machte gleichzeitig einen Schritt nach hinten, dann noch einen und noch einen. Er verschwand hinter der Hütte, und sie hörten, wie er sich hastig entfernte.

Liri strich sich eine kurze, blonde Strähne aus der Stirn. Ihre Haare waren noch feucht vom Waschen. „Oh, Shani, schon wieder einer. Kann es sein, dass es mehr werden?“

„Scheint fast so“, sagte Jerusha. „Danke, Liri, du bist genau zur rechten Zeit gekommen.“

Sie überprüfte, ob ihren Nachtlilien etwas geschehen war. Zum Glück hatten sie nur ein paar Blätter verloren – das, was geknickt am Boden lag, war hauptsächlich Gras. Die zwölf handlangen, in einem dunklen Violett schimmernden Blüten waren unversehrt, und ihr herrlicher Duft, den sie nur nach Einbruch der Dunkelheit verströmten, stieg Jerusha in die Nase. Es ist ein Duft, der nicht von dieser Welt ist. Das ist sicher auch der Grund, warum manche Leute die Nachtlilien hassen, ohne selbst zu wissen wieso! Die Feindschaft zwischen Menschen und Eliscan geht tief.

„Komm, wir gehen wieder rein“, sagte Jerusha und lächelte ihre Schwester an, die noch immer den Bogen hielt. Liri hatte das Talent der KiTenaros geerbt – ihr Clan hatte schon viele berühmte Bogenschützen hervorgebracht. „Warum wartest du mit dem Üben nicht, bis deine Haare trocken sind? Brauchst du gerade eine Erkältung?“

Liri verdrehte die Augen. „Führ dich nicht auf wie Mama!“

„Fängt das jetzt an mit den Widerworten?“ Jerusha knuffte ihre kleine Schwester. „Alle haben mich gewarnt, dass Kinder in diesem Alter grauenvoll frech werden.“

„Gute Idee“, meinte Liri heiter, und sie gingen zusammen ins Haus; Jerusha wollte kurz ihre Mutter Myrial begrüßen. Doch auch diesmal war das keine angenehme Erfahrung, ihre Mutter beachtete sie kaum. Ihr Blick war teilnahmslos, ihr Gesicht blass, ihre dunklen Locken stumpf – für sie hatte sich nicht viel geändert dadurch, dass der Fluch aufgehoben war. Es ließ sich ja nicht mehr rückgängig machen, dass sie unter dessen Einfluss versucht hatte, ihren Mann – Jerushas Vater Josuan – zu töten.

Schon nach kurzer Zeit im bedrückenden Schweigen sagte Jerusha „Ich gehe dann mal wieder“, denn es war spät, sie hatte bohrenden Hunger und die beiden hatten längst gegessen. Zum Glück hatte wenigstens Kiéran auf sie gewartet. Er hatte mit Kräutern eingeriebenen Lammrücken und Pristanbohnen gekocht, die Hälfte hatte er vorhin bei ihrer Familie vorbeigebracht. Für beides bekam ihr Gefährte einen dankbaren Kuss.

„Es war ziemlich knapp mit den Nachtlilien vorhin“, erzählte Jerusha ihm, während sie ihren Anteil vertilgte. „Wieder jemand, der sie zerstören wollte.“

„Verdammt“, entfuhr es Kiéran.

„Liri hilft mir dabei, sie zu hüten“, versicherte ihm Jerusha. Sie wusste, dass Kiéran diese Blumen inzwischen fast so viel bedeuteten wie ihr selbst.

Kiéran nickte und wechselte das Thema. „Morgen ist Jilderstag, da ist in Mandeth Pferdemarkt, habe ich gehört. Ich würde vorschlagen, wir gehen hin, du brauchst endlich wieder ein eigenes Pferd.“

Jerusha ließ die Gabel sinken, ihr war der Appetit vergangen. Das stimmte, ohne Pferd konnte sie eine solche Reise wie die mit dem Eliscan-König nicht antreten – nur Geld hatte sie leider kaum noch. Werde ich die letzten meiner Skulpturen, die ich selbst besitze, verkaufen müssen?

„Was ist los?“, fragte Kiéran beunruhigt. Jerusha wusste, dass er keine Gesichtsausdrücke erkennen konnte, auch den ihren nicht, deshalb musste er oft herumrätseln oder ihrer Stimme ablauschen, was sie bewegte.

„Ein Pferd ist teuer“, brachte Jerusha nur heraus.

Kiéran schüttelte den Kopf. Er ging zu einer Truhe im Wohnraum, klappte sie auf und tastete herum, bis er einen Lederbeutel fand. „Stell mal die Teller weg“, bat er sie, dann kippte er den Inhalt des Beutels auf den Tisch, und ein Strom von Silbermünzen ergoss sich auf die Holzplatte.

Jerusha schnappte nach Luft, sie hatte nicht gewusst, dass er so viel Geld in ihrer Kate aufbewahrte – und meistens verriegelten sie nicht mal die Tür, wenn sie gingen! Die Münzen waren alle frisch geprägt und trugen auf der einen Seite den Kopf des Fürsten AoWesta, auf der anderen das Symbol Ouendas, einen Brunnen, der von einem Wasserdrachen geschützt wird. Es musste das Geld sein, das er bei seiner ehrenhaften Entlassung aus den Diensten AoWestas bekommen hatte.

Kiéran tastete nach den Münzen, teilte den Stapel in zwei ungefähr gleich große Haufen und schob ihr einen davon zu. „Hier. Ich habe genug von dem Zeug. Das Erbe meiner Eltern habe ich bisher nicht mal angetastet.“

Lange starrte Jerusha auf das Geld, und das Bild vor ihr verschwamm, als sich ihre Augen mit Tränen füllten. Nein, meine Familie muss sich diesmal nicht von wässriger Kräutersuppe ernähren, während ich weg bin. Und ich muss nicht auf dem Boden schlafen und Äpfel aus fremden Obstgärten stehlen.

„Jetzt sag mir bitte nicht, dass du sowas nicht annehmen kannst, sonst muss ich dich leider schlagen“, sagte Kiéran, ohne eine Miene zu verziehen.

Jerusha sprang auf, fiel über ihn her und küsste ihn, bis ihnen beiden die Luft ausging.

***

Als sie ankamen, herrschte auf dem Marktplatz schon reger Betrieb, der Geruch von Tieren und feuchtem Stroh hing in der Luft. Kiéran sah nicht sonderlich viel von den Pferden, sie traten kaum aus der Dunkelheit hervor, weil das Oscurus, das seinem Amulett die Kraft verlieh, sie anscheinend nicht als wichtig erachtete. Doch er konnte sich vorstellen, wie es hier aussah – Braune, Rappen, Füchse, Großpferde und Ponys in allen Farben und in jedem Stockmaß. Wahrscheinlich standen Hunderte von Tieren hier, während ihre Besitzer neben ihnen auf Käufer warteten. „Ganz schön was los hier“, bestätigte ihm Jerusha.

Schräg von vorne hörte er Schnauben und das scharfe Geräusch von Hufeisen auf dem Kopfsteinpflaster. Ein paar Meter weiter wieherte ein Pferd, dem Klang nach begrüßte es einen Stallgefährten. Und überall unterhielten sich Menschen, fachsimpelten, handelten, berieten sich. Kiéran lauschte mal hier, mal dort einen Moment lang und lächelte, als er jemanden hörte, der einen Rosstäuscher beschimpfte.

„Ich war schon ewig nicht mehr auf dem Pferdemarkt“, erzählte Jerusha, sie klang aufgekratzt. „Und diesmal macht es sogar richtig Spaß. Ich habe drei Silber eingesteckt, dafür bekommt man ein Pferd, wie man in Loreshom noch keins gesehen hat.“

Nebeneinander schlenderten sie über den Markt, und Jerusha hielt Ausschau nach einem Tier, das ihr gefiel. Kiéran hoffte inständig, dass sie ihn trotzdem rechtzeitig warnte, bevor er in einen Stapel Strohballen hineinlief. Peinliche Situationen hatte er schon genügend überstehen müssen, seit er blind geworden war.

„Schau mal, ob du ein Pferd aus der Zucht von Tinad´alshar findest“, meinte er. „Die sind nicht zu schlagen, was Schnelligkeit und Ausdauer angeht. Und beides werden wir auf so einer Reise brauchen.“

Er vermisste seinen schwarzen Hengst Reyn mehr denn je, das Mistvieh war ihm sehr ans Herz gewachsen. Ob Charis überhaupt schaffte, es ihm vor dem Aufbruch zurückzubringen? Oder, noch schlimmer, würde sie Reyn mit Hilfe seiner Vollmacht aus Cyr abholen und dann einfach verschwinden? Bin ich ein Trottel gewesen, ihr zu vertrauen? Warum habe ich eigentlich gedacht, dass sie tun würde, worum ich sie bitte? Wahrscheinlich, weil sie sich gemeinsam mit Tarxas so rührend um mich gekümmert hat in dieser unerträglichen Zeit nach Santiagos Tod, als ich dachte, dass Jerusha mich verraten hat.

„Die hier macht einen guten Eindruck, und es ist eine Fuchsstute, so wie Amadera.“ Jerusha seufzte tief. Sie fragte den Verkäufer nach dem Preis, und währenddessen versuchte sich Kiéran mit den Händen ein Bild davon zu machen, ob das Pferd etwas taugte. Edler Kopf, lange Mähne – klar, das sah gut aus, so etwas mochten Frauen – doch die Beine gefielen ihm nicht, die vordere Fessel fühlte sich sogar ein wenig warm an, konnte sein, dass mit der Sehne etwas nicht stimmte.

„Kein gutes Geschäft“, sagte Kiéran, und sie gingen weiter. Als nächstes begeisterte sich Jerusha für einen Apfelschimmel, doch Kiéran schüttelte den Kopf. „Ein Schimmel? Vergiss es. Stell dir vor, du bist mit deinen Leuten gerade im Wald und willst möglichst nicht gesehen werden – nur leider hast du ein Pferd, das jeder ruckzuck entdeckt ...“

„Aber wir haben bald Winter, und wenn Schnee liegt, ist ein weißes Pferd sehr gut getarnt“, widersprach Jerusha, sie klang enttäuscht.

„Ja, aber was ist, wenn wir durch Yantosi reisen müssen?“, wandte Kiéran ein. „Dort wird dir der Gaul unter dem Hintern weg beschlagnahmt, weil dort nur Richter weiße Pferde besitzen dürfen.“

„Stimmt“, sagte Jerusha, und danach lange nichts mehr. Sicher dachte sie jetzt an diesen Bastard, den Gerhan KaoRenda und was er ihr angetan hatte. Es tat Kiéran leid, dass er sie daran hatte erinnern müssen; auch er hielt kaum aus, daran zu denken. Wahrscheinlich war sie jetzt außerdem wütend auf ihn, weil er ihr den Spaß an jedem Pferd verdarb, das ihr gefiel. Ab jetzt halte ich den Mund, außer sie will einen Ackergaul erstehen, der keine Chance hat, mit den leichtfüßigen Eliscan-Pferden mitzuhalten!

Er hörte, wie ihre Schritte sich beschleunigten. „Das da vorne“, sagte sie. „Das ist das Richtige.“

„Woran siehst du das?“, fragte Kiéran alarmiert, weil sie dem Vieh anscheinend nicht mal auf die Zähne geschaut hatte.

„Weil es ein Eliscan-Pferd ist“, sagte Jerusha, und Kiéran schnappte nach Luft. „Es ist was ...?!“

„Keine Sorge“, sagte sie und kicherte. „Nein, ein echtes ist es natürlich nicht. Aber es sieht genauso aus. Lange Beine, zierliche Hufe, aufmerksamer Blick, stolze Haltung, du weißt schon.“

Langsam beruhigte sich Kiéran wieder. „Welche Farbe? Nicht weiß, oder?“

„Du spinnst wohl, ich nehme doch kein weißes Pferd!“ Jerusha klang empört, sie bekam das ziemlich echt hin.

Kiéran grinste. „Niemals würdest du sowas tun, ich weiß.“

„Es ist eine isabellfarbene Stute, so nennt man das doch, oder? Hellbraun, mit blonder Mähne und Schweif. Perfekt getarnt! Wenn mir die im Herbstwald wegläuft, finde ich sie nie wieder.“

Sie hatte schon begonnen, den Verkäufer zu befragen. Doch auch ohne dessen Auskünfte hätte Kiéran rasch gemerkt, dass die Stute aus der Zucht von Tinad´alshar stammte. Ihre Beine fühlten sich an, als seien sie aus Stahl. Sanftmütig war sie außerdem; während Kiéran ihre Hufe abtastete, knabberte sie nur leicht an seinem Hemdkragen. „Braves Mädchen“, murmelte Kiéran und klopfte ihr den Hals. Reyn hätte ihm in der gleichen Situation das halbe Hemd zerfetzt.

Der Verkäufer wollte zwei Silber und fünf Dag, doch Jerusha handelte ihn gnadenlos auf zwei Silber herunter. Kiéran lächelte in sich hinein. Nein, eine Verschwenderin würde sie in diesem Leben nicht mehr werden.

Nachdem Jerusha eine Proberunde auf der Stute geritten war, fragte Kiéran den Verkäufer: „Wie sieht´s mit ihrem Stammbaum aus?“

„Sie heißt Dola und stammt von Diamy aus der Riikion“, bekam er zur Antwort, dann ratterte der Verkäufer die Namen ihrer sämtlichen Vorfahren bis in die 10. Generation herunter. Kiéran erkannte ein paar und nickte zufrieden.

„Wir nehmen sie“, verkündete Jerusha. „Aber Dola ist kein schöner Name, ich werde sie Damaris taufen. Irgendwann habe ich mal eine Geschichte gehört, in der jemand so hieß.“

Kiéran wettete, dass der Verkäufer jetzt ziemlich blöd dreinblickte. Stumm händigte er Jerusha etwas aus, wahrscheinlich den Kaufvertrag und eine Schriftrolle mit dem Stammbaum. Dankend nickte Kiéran ihm zu, dann führten sie ihre Neuerwerbung zu einem Stand mit Lederwaren, um gleich noch Sattel, Zaumzeug und Satteltaschen zu erstehen.

***

Und dann, nach vielen Vorbereitungen, war es soweit. Der Sichelmond stand am Himmel, in dieser Nacht würden sie aufbrechen – sie hatten versucht, so viel wie möglich am Tag zu schlafen, um später durchzuhalten. Jerushas Herz klopfte. Würden der König und die anderen Eliscan überhaupt am Treffpunkt sein, so wie vereinbart? Vielleicht hatte Qedyr es sich noch einmal anders überlegt, ob er wirklich das Risiko eingehen wollte, mit ihnen durch Ouenda zu reisen.

Sie prüfte zum dritten Mal, ob sie auch alles richtig gepackt hatten – Proviant, Sachen zum Wechseln, ihren neuen Umhang aus leichter, aber warmer Wolle, ein Reise-Medicum, Bildhauerwerkzeug und vieles andere mehr. Auch ihren Bogen aus Eschenholz und zwei Dutzend selbst gefertigte Pfeile würde Jerusha mitnehmen. Eine richtig gute Schützin werde ich zwar nicht mehr, dazu sind meine blöden Augen einfach zu schwach. Aber ich werde den KiTenaros auch keine Schande machen!

Dann war es Zeit, sich zu verabschieden. Ihrer besten Freundin Kianna hatte sie schon am Nachmittag schweren Herzens Lebewohl gesagt, nun war ihre Familie dran. Gemeinsam gingen sie und Kiéran hinüber zum Hof der KiTenaros. Liri schlang die Arme um Jerushas Hals.

„Ich werde wieder auf die Nachtlilien aufpassen, das schwöre ich. Jeder, der ihnen schaden will, bekommt einen Pfeil zwischen die Rippen!“

„Na klar.“ Jerusha lächelte. Das hatte ihre Schwester auch bei ihrem ersten Abschied versprochen, doch sie bezweifelte stark, ob sie die Drohung wahr machen würde. Liri brach ja schon in Tränen aus, wenn sie einen Hasen für den Kochtopf schießen sollte.

„Versprichst du mir, dass du regelmäßig in die Schule gehst?“, flüsterte Jerusha ihr ins Ohr. „Nicht schwänzen, auch wenn du noch so gerne mit dem Bogen üben würdest, in Ordnung?“

„Versprochen“, flüsterte Liri zurück. Dann umarmte sie auch Kiéran. „Xatos schütze dich!“

„Ich hoffe, er findet Zeit dazu“, sagte Kiéran und lächelte schief.

Der Abschied von ihrer Mutter war weniger gefühlvoll. „Kommt bald zu uns zurück, ihr beiden“, sagte Myrial zu ihnen, bevor sie sie umarmte. Ihre Berührung war leicht wie ein Windhauch. Kraftlos. Jerusha musste an ihre Großmutter Kala denken, und merkte, dass sie sie vermisste. Wie gut, dass wenigstens Kala noch ihren Frieden gefunden hatte. Was kann ich tun, damit auch Mutter neuen Lebensmut gewinnt?, ging es ihr durch den Kopf. So bitter es ist, wahrscheinlich nichts.

Dann ritten Jerusha und Kiéran los. Damaris tänzelte frohgemut voran, gehorchte aber Jerushas leichtestem Schenkeldruck, es fühlte sich fast wie Gedankenübertragung an, sie zu reiten. Jerusha ritt voran, und Kiéran folgte ihr auf Louc. Da Charis noch nicht mit Reyn aufgetaucht war, würde sich Kiéran vorerst mit seinem Ersatzpferd begnügen müssen.

Die Sonne schickte letzte Strahlen in den Abendhimmel, der sich schon zu einem tiefen Stahlblau gefärbt hatte. Um sie herum ragten die Silhouetten der Bäume auf wie riesige Wächter, die sie beschirmten. Erst im letzten Moment sah Jerusha den unscheinbaren, einfach gekleideten Mann, der am Wegesrand stand. Der Geruch nach Eichenteer stieg ihr in die Nase. Es war Gorias, ein Elis, der aus dem Reich seines Volkes verbannt worden war und seither unerkannt zwischen den Menschen des Dorfes lebte. Als er Jerusha sah, verbeugte er sich. „Gute Reise, Lady Jerusha“, sagte er, und Jerusha nickte ihm lächelnd zu. „Ke´syn ten Erieth“, erwiderte sie in der Sprache der Eliscan. Das liegt in der Macht des Mondes.

Wusste Gorias, wen sie heute treffen würden? Erzählt hatten sie es ihm nicht. Aber vielleicht spürte er es.

Ihre Pferde trabten den schmalen Pfad entlang, der zum Fir Evarn führte. Aufwärts, immer weiter aufwärts zum Hügel der Gesichter.

Lilienwinter

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