Читать книгу Lilienwinter - Siri Lindberg - Страница 8

Qedyr

Оглавление

Als sie angekommen waren, hob Jerusha die Laterne und sah sich um. Bei gutem Wetter konnte man von hier aus über das ganze Tal des Lint blicken, doch jetzt beschien das Licht nur einige kahle Äste in der Nähe.

„Noch niemand da“, sagte Kiéran, und Jerusha nickte, sie wusste, dass die Gestalten der Eliscan für ihn von weithin sichtbar waren. Sie stiegen ab, um die Pferde grasen zu lassen. Doch Damaris schien nicht hungrig zu sein, sie wirkte nervös und scheute sogar einmal, ohne dass Jerusha einen Grund erkennen konnte. „He, he, was soll das denn?“ Jerusha hielt die Zügel fest, damit die Stute ihr nicht davonlief.

„Ihr fehlt noch etwas die Gelassenheit“, meinte Kiéran. „Gib ihr Zeit, sie ist jung, das wird schon.“

„Ganz ruhig“, murmelte Jerusha ihrem Pferd zu und glättete Damaris´ Stirnlocke – dass sie das mochte, hatte sie schon herausgefunden.

Dann begann das Warten. Kiéran wirkte wachsam, und Je­rusha schien es, als würde die Zeit einfach nicht vergehen. Waren sie umsonst gekommen? Oder würden die Eliscan bald eintreffen? In den letzten Tagen war ihr klar geworden, was für ein unglaubliches Risiko Qedyr mit dieser Reise einging. Wenn sie und Kiéran sein Vertrauen missbrauchten, dann konnte er als Geisel in die Gefangenschaft der Menschen geraten.

Das Licht von Jerushas Laterne fiel auf einige der sechs Gesichter, die sie damals auf Schulterhöhe in den Stamm der Craunen geschnitzt hatte. Eine Frau mit schön geschwungenem Mund, entrückt sah sie aus, ihre Augen blickten unverwandt das geschnitzte Gesicht eines jungen Mannes an, dessen Züge auf dem Baum gegenüber verewigt waren. Auf den Zügen eines Alten, den sie als letzten geschnitzt hatte, lag ein schalkhaftes Lächeln, als plane er einen Schabernack mit ihnen. Während Jerusha sie betrachtete, beschlich sie ein seltsames Gefühl. „Sie sehen nicht mehr ganz so aus, wie ich sie geschnitzt habe“, sagte sie zu Kiéran.

„Natürlich nicht, der Baum hat sich ja verändert, und das Holz ist verwittert ...“

„Das meine ich nicht“, sagte Jerusha und beugte sich vor, um eins der Gesichter aus der Nähe zu betrachten. „Die sehen auf irgendeine Art lebendiger aus als zuvor.“

Kiéran sah aus, als hätte er das jetzt nicht unbedingt hören wollen. „Kein Wunder, dass der Hügel hier den Leuten unheimlich ist. Mir auch, ehrlich gesagt.“

„Keine Sorge, ich war schon oft hier, und nie hat mich ein Dämon angefallen“, beruhigte ihn Jerusha, doch da spürte sie schon, dass jemand in der Nähe war. „Meine Liebe, wie schön, dass du mir mal wieder Gesellschaft leistest“, flüsterte eine Stimme direkt neben ihrem Ohr.

Jerusha lächelte. Es war kein Dämon, natürlich nicht. Sie hatte schon damit gerechnet, dass ihr Schattenspringer bald auftauchen würde – er ließ sich in letzter Zeit nicht oft im Dorf blicken, doch hier auf dem Fir Evarn tummelte er sich gerne. „Sei gegrüßt, Grísho“, sagte sie. „Und, wie ist die Nacht heute? Schön schwarz und saftig?“

„Geht so“, sagte Grísho und seufzte, es klang wie ein Windhauch. „Dieser Regen! Er ist unerträglich. Kein Schatten weit und breit, der größer ist als ein Mäuseschwanz.“ Schattenspringer wie er waren unkörperliche Wesen, die tagsüber von einem Schatten zum nächsten huschten und in der Dunkelheit der Nacht neue Kraft sammelten.

„Ich hätte dir hin und wieder eine Lampe vorbeibringen können – aber ich habe es vergessen, fürchte ich“, meinte Jerusha zerknirscht und warf Kiéran einen Seitenblick zu. Er tat so, als lausche er nicht, doch Jerusha war klar, dass ihm kein Wort entging.

„Du hast anderes im Kopf, ich weiß, meine Liebe“, beruhigte sie Grísho.

„Ach, weißt du etwa, was ansteht?“ Allmählich kam es Je­rusha so vor, als sei schon jeder informiert darüber, was sie vorhatten.

„Nicht genau, ich weiß nur, dass ihr reisen werdet – das war schwer zu übersehen.“ Die Frage, ob er als Reisegefährte erwünscht war, hing in der Luft, doch Jerusha konnte sie nicht alleine beantworten.

„Was meinst du, Kiéran?“, wandte sie sich an ihren Gefährten. „Kann er mitkommen, oder ist das keine gute Idee?“

Kiéran wandte sich um, und Jerusha sah, dass seine Augen etwas folgten – im Gegensatz zu ihr konnte er Grísho sehen, seit er das Amulett aus dem Tempel der Schwarzen Spiegel trug. „Grísho ... wärst du bereit, für uns zu kundschaften?“, fragte er. „Dann würden wir uns sehr freuen, wenn du uns begleiten könntest.“

„Bereit? Ob ich bereit bin? Selbstredend!“, gab Grísho geschmeichelt zurück, und Jerusha freute sich, dass er dabei sein würde.

Sie unterhielten sich noch ein wenig, dann verfielen sie in Schweigen, während sie warteten. Der Himmel war dicht mit Wolken bedeckt, und Jerusha konnte nicht erkennen, wie hoch der Sichelmond stand. Hoffentlich, hoffentlich treffen die Eliscan noch ein! Sonst liegt es nicht mehr in unserer Hand, ob es einen Krieg geben wird oder nicht ...

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Kiéran schließlich knapp sagte: „Sie kommen.“ Er wandte sich in eine bestimmte Richtung und blickte in die Dunkelheit.

Jerushas ganzer Körper spannte sich an. Es war soweit.

Dann waren sie plötzlich da, lautlos wie Schatten. Als erstes erschien eine junge, hochgewachsene Frau auf einem schwarzen Pferd mit sahnefarbener Mähne auf der Lichtung. Ihr Gesicht war ungeschminkt, doch es hatte eine schlichte, strenge Schönheit, die Verzierung nicht nötig hatte.

Die Frau sah sich um, nur kurz blieb ihr Blick an Jerusha und ihrem Gefährten hängen, dann stieß sie einen leisen Ruf aus, und zwei weitere Reiter kamen aus dem Wald hervor. Sie saßen ab und gingen langsam auf sie zu. Jerusha erkannte Colmarél, er lächelte stolz und seine prachtvollen roten Locken fielen ihm auf die Schultern. Er ging einen Schritt hinter einer Gestalt, deren Gesicht unter der Kapuze eines einfachen Reisemantels verborgen war. Alle Eliscan trugen Handschuhe, um das silberne Mondsymbol an ihrer Hand zu verbergen.

Zwei Armlängen vor Jerusha und Kiéran blieben die beiden stehen, dann schlug der Mann langsam seine Kapuze zurück. Ja, es war der König – obwohl Jerusha ihn nur einmal kurz gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort. Seine intensiven dunklen Augen sondierten sie, und obwohl sie es weder geplant noch besprochen hatten, verbeugten Jerusha und Kiéran sich beide tief vor ihm.

Etwas verlegen richtete sich Jerusha wieder auf und nahm sich die Zeit, Qedyr genauer zu mustern. Qedyr hatte ein kantiges Gesicht mit einer wuchtigen Nase, seine Statur war solide und muskulös, nicht so feingliedrig wie die seiner Gefährten. Zum Glück ist er für einen Eliscan nicht sonderlich schön. Das ist gut für diese Reise, schließlich müssen wir unerkannt bleiben – Colmarél und die Frau sind schon Blickfang genug!

Aber was war mit seiner Ausstrahlung? Schon bei Kiéran dachten die Menschen oft, dass er ein Earel sein müsse, ein Clanführer – er fiel auf, und bei Qedyr würde das nicht anders sein. Würde nicht sofort jeder merken, dass er ein Fürst war, wenn auch keiner aus dieser Welt?

***

Es hatte wieder begonnen zu regnen, aber Kiéran spürte es kaum. Er dachte zurück an die Nacht des Aes Erieth – der Mond-Zeremonie – und an seinen Kniefall vor diesem Mann, der wahrscheinlich Tausende von Jahren alt war. Damals hatte er um Gnade für Ouenda gebeten, und jetzt war Qedyr hier, eine bessere Antwort gab es nicht. Kiéran war so bewegt, dass er kaum zu sprechen wagte.

Es war der König, der schließlich das Schweigen brach. „Kiéran SaJintar“, sagte er, und es war Kiéran, als höre er seinen Namen das erste Mal, so fremdartig und melodisch klang er, wenn Qedyr ihn aussprach. „Jerusha KiTenaro. Ich muss mich daran gewöhnen, euch so zu nennen, wie es in eurer Welt üblich ist. Sonst merkt jeder, dass wir nicht von hier sind.“ Irgendwie wusste Kiéran, dass er jetzt lächelte.

Kiéran fiel gerade noch rechtzeitig das Eliscan-Wort für Majestät wieder ein. „Thybrelis, es ist uns eine Ehre, Euch durch Ouenda zu geleiten, und am besten nennen wir uns ab jetzt einfach beim Erstnamen, wenn Ihr einverstanden seid.“

Der König nickte leicht und bedeutete seinen beiden Begleitern mit einer Geste vorzutreten. „Rawelha“, stellte er die Frau vor, die wohl seine Leibwächterin war; sie war etwas größer als der König und ihre Gestalt hatte für Kiérans neue Augen einen hellen, fast silbrigen Glanz. „Colmarél“, sagte Qedyr, und auch sein zweiter Begleiter trat jetzt vor, Kiéran erkannte ihn an dem rotgoldenen Schimmer seiner Erscheinung.

Jerusha räusperte sich. „Gi sa wyín, ardesh k´ion“, sagte sie. „Sprecht ihr alle Ouén? Es würde Verdacht erregen, wenn wir uns in Alter Handelssprache unterhalten.“

„Natürlich.“ Qedyr neigte den Kopf. „Dieser Gedanke kam uns auch, deshalb habe ich Rawelha für die Begleitung ausgewählt – sie beherrscht mehrere Sprachen ...“

„ ... und ich habe Tag und Nacht gelernt“, mischte sich Colmarél eifrig ein. Zu Kiérans Überraschung duldete es Qedyr, dass sein jüngerer Begleiter ihn unterbrach, er beachtete es einfach nicht und sagte: „Wir haben alte Schriften studiert und unsere Kundschafter in euren Reichen befragt, damit es uns gelingt, nicht aufzufallen. Haben wir passende Kleidung gewählt?“

Fragend blickte Kiéran zu Jerusha hinüber, er selbst sah solche Details ja nicht mehr. An Jerushas Stimme hörte er, dass sie sich das Lachen verbeißen musste. „Fast. Rawelha ... diese Lederkappe tragt Ihr falsch herum. Colmarél, die Haare offen zu tragen, ist in diesem Fürstentum Frauen vorbehalten, besser Ihr bindet sie hinten zusammen. Und ach ja, Euer Pferd. Rawelha ... ich fürchte, wir müssen es ein bisschen färben. Sonst wird es Aufsehen erregen, denn schwarze Pferde mit weißer Mähne gibt es bei uns nicht.“

„Färben?“, fragte die Leibwächterin, ihre Stimme klang leise und etwas eingeschüchtert, mädchenhaft. Doch wenn man ihr den Schutz des Königs anvertraut hat, muss sie eine außergewöhnliche Kämpferin sein. Kiéran beobachtete sie, doch solange er sie nicht in der Bewegung sah, fiel es ihm schwer, ihre Fähigkeiten einzuschätzen. Wenn sie ebenso schnell ist wie Silmar, könnte sie mich wahrscheinlich in ein paar Minuten erledigen.

„Das mit dem Färben ist nicht so schwierig wie es klingt“, versicherte ihr Jerusha rasch. „Bei unserem nächsten Rastplatz bereiten wir einen Sud aus Nussschalen zu, der verwandelt das Weiß in ein dunkles Braun.“

„Wir werden ohnehin behaupten, dass ihr aus Elisondo seid, es ist also nicht weiter schlimm, wenn ihr anderen Leuten etwas ausländisch vorkommt“, meinte Kiéran. „Elisondo ist so weit weg, dass kaum einer weiß, wie die Leute dort leben. Man traut ihnen alle Merkwürdigkeiten zu.“ Von den verschiedenen Ländern, in denen er als Sohn eines Gesandten gelebt hatte, konnte er sich an Elisondo am klarsten erinnern, und es waren gute Erinnerungen.

„Ah ja, Elisondo, das Land der blauen Wolken – es ist beliebt bei unsereins“, sagte Qedyr, er klang erfreut.

„Umso besser“, übernahm Jerusha wieder das Wort. „Nun zu unserer Reiseroute – wohin wollt ihr? Kennt ihr die Namen von Orten, an denen die Menschen angeblich den Krieg gegen euch vorbereiten?“

„Ja“, sagte Colmarél und holte etwas aus seinem Umhang, wahrscheinlich eine Schriftrolle. Jerusha las halblaut vor, was darauf stand: „Oordak, nahe dem Wald von Atordar.“

„Dort wurden, so sagt man, vor einem Jahreslauf vier Eliscan von Menschen angegriffen und schwer verletzt“, sagte Qedyr, er klang sehr ernst.

Wieder Jerushas Stimme, sie las den zweiten Punkt vor. „Uming, an der Grenze zwischen Benaris und Yantosi. Was soll dort passiert sein?“

„Dort sammeln sich Berichten nach Bewaffnete und üben den Kampf gegen Eliscan. Doch wir wissen nicht genau, ob wir diesen Berichten vertrauen können.“

Nur mit äußerster Selbstbeherrschung schaffte es Kiéran, seine gleichmütige Miene beizubehalten. Xatos´ Rache, hoffentlich stimmte das alles wirklich nicht. Dass ein wütender Mob über Leute herfiel, die für Anderweltler gehalten wurden, konnte passieren ... und was war, wenn in Uming tatsächlich Manöver stattfanden? Vielleicht waren es die Priester des Schwarzen Spiegels, die sich dort auf den schlimmsten Fall vorbereiteten. Das einzige, was ihm Hoffnung gab, war die Lage des Ortes. Nahe der Grenze zweier Fürstentümer ... das kann ich mir nicht wirklich vorstellen, welcher Regent würde das tun? Er riskiert doch, seinen Nachbarn gegen sich aufzubringen ... außerdem ist das Ganze zu weit im Westen, und die Bedrohung kommt aus Richtung Khorat, aus dem Osten ...

Wieder Jerushas Stimme, sie las den dritten Punkt vor. „Ger Iena, in Yantosi.“

„Dort rüstet man für den Krieg, heißt es“, ergänzte Qedyr.

Ger Iena, die Burg von Fürst Ceruscan! Kiéran stöhnte innerlich, er hatte gehofft, dass sein Weg ihn nie mehr dorthin führen würde. Doch wie es schien, war diese Hoffnung vergebens gewesen. War das ein schlechter Scherz der Götter, Xatos´ Rache für die Statue, an der Jerusha arbeitete?

Nein, wahrscheinlich einfach Pech.

***

Schon während sie vorlas, hatte Jerusha rasch im Kopf überschlagen, welche Entfernungen sie auf dieser Reise würden überwinden müssen. Ein wenig zweifelnd wandte sie sich an den König. „Diese Reise wird sicher Wochen dauern, kann Euer Volk Euch denn so lange entbehren?“

Qedyr lächelte. „Meine Frau Célafiora regiert ohnehin gemeinsam mit mir, jetzt muss sie eine Weile alleine klarkommen, ich denke, das ist machbar.“

„Dann los“, sagte Kiéran. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Sie ritten hintereinander, Jerusha voran – sie hatte Kompass und Karte, deshalb würde es ihre Aufgabe sein, sie ans Ziel zu bringen. Hoffentlich lotse ich uns in die richtige Richtung, ging es ihr durch den Kopf. Es fehlt gerade noch, dass wir irgendwo ganz anders landen, nur weil ich einen miesen Orientierungssinn habe!

„Wenn wir die ganze Nacht reiten, gelangen wir morgen schon zur Grenze nach Benaris“, kündigte sie an, und ihre Gäste nickten und lächelten. Jerusha war so aufgeregt, dass sie sich nicht einmal müde fühlte. Das kam erst später, als die Sonne schon wieder aufgegangen war und immer höher stieg. Als sie gerade durch ein dünn besiedeltes Waldgebiet ritten, beschloss Jerusha, eine Rast vorzuschlagen. Die Eliscan wirkten nicht im Geringsten müde, das lag vermutlich daran, dass sie kaum Schlaf brauchten. Doch sie stimmten höflich zu, Pause zu machen und eine Kleinigkeit zu essen.

Eifrig half Colmarél, Bruchholz für ein Feuer zusammenzutragen. „Es ist so aufregend, hier unterwegs zu sein“, schwärmte er. Als Jerusha ihn anblickte, fiel ihr etwas auf, das ihr auf einen Schlag die Stimmung verdarb – die Eliscan blinzelten nicht! Das hatte sie völlig vergessen.

„Verdammt – ihre Augen“, flüsterte sie Kiéran zu, und ihr Gefährte seufzte. „Rattendreck, ich habe auch nicht daran gedacht. Wird schon gehen, man bemerkt es nur, wenn man ihnen längere Zeit ins Gesicht schaut.“

Jerusha brühte einen Cayoral auf, während Kiéran ein einfaches Mahl aus Brot und Käse vorbereitete. Auch die Eliscan packten Proviant aus und boten es ihnen an. „Was ist das?“, fragte Jerusha neugierig, als Qedyr ihr eine Art grünes Stäbchen reichte.

„Eingelegte Schilfsprossen, bei Halbmond geerntet“, sagte Qedyr und nippte vorsichtig an seiner Tasse mit Cayoral. „Ah, ein Gewürztee! Sehr schmeckhaft.“

Jerusha schmunzelte. „Schmackhaft.“ Was sich von der Schilfsprosse nicht behaupten ließ, Jerusha fand sie arg faserig und auch Kiéran sah nicht begeistert aus von der Spezialität.

Absichtlich hatte sie einen Rastplatz in der Nähe eines Nussbaums gewählt. Ihre Stute Damaris war gerade dabei, friedlich Blätter davon abzurupfen. „He, was bist du denn für eine? Schmeckt dir das wirklich?“, fragte Jerusha lachend. Jetzt wirkte ihr Pferd völlig ruhig und ausgeglichen, vielleicht hatte ihm gestern einfach nicht gefallen, bei Nacht draußen zu sein.

Nachdem sie mit Hilfe der Nussschalen Rawelhas Pferd in ein normal gefärbtes Tier verwandelt hatten, ritten sie weiter und erreichten tatsächlich schon am frühen Nachmittag die Grenze nach Benaris. Wachen gab es hier keine. Ein paar verwitterte Grenzsteine, mehr war nicht zu sehen, denn zwischen den beiden Fürstentümern herrschte schon seit längerer Zeit Frieden. Bis zum Wald von Atordar, zum Ort des angeblichen Zwischenfalls, waren es noch etwa drei Tagesreisen.

Jerusha und Kiéran hatten beschlossen, die erste Nacht draußen zu verbringen, damit sie und die Eliscan sich in Ruhe aneinander gewöhnen konnten. Bei Dämmerung suchten sie sich eine Lichtung im Wald, um dort ihr Lager aufzuschlagen. Die Eliscan blickten zwar drein, als wären sie am liebsten noch weiter geritten, doch Jerusha war so müde, dass sie immer wieder im Sattel einnickte. Damaris entging das anscheinend nicht, denn jedes Mal begann sie zu tänzeln, als wolle sie sie aufwecken.

Diesmal war es Qedyr, der half, das Feuer vorzubereiten. Jerusha fühlte sich noch ein wenig eingeschüchtert von seiner Gegenwart – nie hätte sie sich träumen lassen, dass sie einmal Seite an Seite mit einem Eliscan-König Holz sammeln würde!

„Ihr seid Bildhauerin, habe ich erfahren?“, meinte er freundlich, vielleicht um ihr die Scheu zu nehmen.

Jerusha nickte. „Ja, und deshalb habe ich mir auch etwas ausgedacht – ich werde als Erinnerung an diese ganz besondere Reise bei jedem Nachtlager ein Zeichen in einen Stein in der Nähe meißeln. Lilie und Drachen, wenn Ihr einverstanden seid.“

„Bin ich. Das klingt nach einer ausgezeichneten Idee“, sagte Qedyr, zerrte einen toten Baum aus dem Gebüsch und zerlegte ihn mit gezielten Fußtritten auf handliche Größe. Doch eins der Stücke war zu dick, sein Fuß prallte immer wieder ab. „Zarre Mak!“, schimpfte er leise, und Jerusha lächelte, anscheinend hatte sie gerade ihren allerersten Eliscan-Fluch gelernt.

Rawelha fiel es sichtlich schwerer, sich zu entspannen – sie versuchte nicht, sich mit ihnen zu unterhalten, behielt Qedyr immer in Sichtweite und wirkte unruhig. Ihrer Haltung nach erwartet sie, dass jeden Moment ein Trupp Soldaten aus dem Gebüsch springt ...

Colmarél übernahm es, aus dem Proviant der Eliscan einen Eintopf zu kochen. Zwar hatte Jerusha keine Ahnung, was darin war, und die violette Farbe schreckte sie etwas ab, doch er schmeckte himmlisch, scharf-würzig und süß zugleich. Besonders lecker war es zusammen mit dem flachen Brot aus gemahlenen Nüssen, das Colmarél aus seinen Satteltaschen zum Vorschein brachte. „Köstlich“, sagte Kiéran und ließ sich einen Nachschlag geben.

Nach dem Essen plauderten sie noch etwas, dann zog sich Kiéran für seine täglichen Übungen ein Stück in den Wald zurück. Jerusha sah ihn nicht mehr, es war zu dunkel, doch die Augen der Eliscan waren anscheinend sanftes Mondlicht gewohnt. Immer wieder schauten sie, während sie sich mit Jerusha unterhielten, in Kiérans Richtung, blickten sich dann an und nickten beifällig. Besonders die stille Rawelha wirkte zum ersten Mal neugierig.

„Der Lin´tháresh macht das sehr gut“, sagte Colmarél zufrieden. „Wusstet ihr, dass Silmar ihn im Zweikampf nicht besiegen konnte?“

„Mir scheint, er ist ein ungewöhnlicher Mensch“, sagte Qedyr. „Aber ich kenne nicht viele Menschen, möglicherweise irre ich mich.“

„Nein, Ihr irrt Euch nicht“, sagte Jerusha, und ihr Herz klopfte stolz und warm.

***

Nach dem langen Ritt fühlte es sich gut an, seinen Körper zu strecken – und ja, auch einen Moment allein sein zu können. Kiéran entschied, als Drill diesmal den Ardosth Carh durchzugehen, einen Schwerttanz, den er vor einigen Jahresläufen in Larangva gelernt hatte. Er nahm die Anfangpose ein – Schrittstellung, das Schwert mit beiden Händen horizontal in Kopfhöhe gehalten – sammelte seine Gedanken und spannte jeden Muskel an. Dann glitt er hinein in die Bewegung, und die Klinge war ein Teil von ihm.

Nach den Übungen wusch sich Kiéran an einem Bach in der Nähe und kehrte ans Lagerfeuer zurück, wo die Eliscan beieinander hockten und sich leise unterhielten. Ein Stück entfernt unter einer Pinie schrieb Jerusha anscheinend einen Brief und sandte ihn mit einem Botenvogel ab, dann breitete sie ihren Umhang aus. Ihre Bewegungen waren langsam und kraftlos, wahrscheinlich war sie zum Umfallen müde.

Kiéran wünschte den anderen heitere Träume, obwohl er nicht wusste, ob Anderwesen überhaupt träumten, und überprüfte kurz, ob es den Pferden gut ging. Dann richtete er neben Jerusha sein Nachtlager. „Wem hast du geschrieben, deiner Schwester?“, fragte er.

Sie nickte. „Wenn Liri nicht wäre, würde ich meine Familie gar nicht vermissen – ist das nicht ein furchtbarer Gedanke?“

Kiéran zuckte die Schultern. Seine Eltern waren schon seit einigen Jahren tot, und Geschwister hatte er keine. Anscheinend fiel Jerusha das nun auch ein, denn sie sagte rasch: „Entschuldige, das war taktlos ... du hast ja nicht mal eine Familie, die du vermissen könntest, das ist viel schlimmer.“

Sie küssten sich kurz und etwas verlegen, weil sie nicht wussten, ob die Eliscan sie beobachteten, und rollten sich eng beieinander in ihre Decken.

Doch es fühlte sich eigenartig an, unter den Blicken der Eliscan schlafen zu müssen; obwohl Kiéran erschöpft war, schaffte er es nicht wegzudämmern. Vielleicht hat etwas in mir sie immer noch als Feinde eingestuft, und in Gegenwart von Feinden schläft man nicht.

„Sind sie immer noch wach?“, flüsterte er Jerusha ins Ohr.

„Ja“, hauchte sie zurück.

„Ist es nicht toll, wie sie auf uns arme, schwache Menschen Rücksicht nehmen?“

Jerusha seufzte ganz leise. „Sie sehen auf den ersten Blick aus wie wir … aber sie sind doch ganz schön anders.“

Mit offenen Augen blickte Kiéran in die Dunkelheit, deshalb merkte er, dass sich der Schattenspringer näherte – als er ihn zum ersten Mal bemerkt hatte, hatte er sich auf dieses silberne Wabern der Luft keinen Reim machen können.

„Grísho, alles in Ordnung?“, fragte er, fast ohne die Lippen zu bewegen, doch der Schattenspringer hörte es. Seine Stimme war wie ein Windhauch in den Bäumen, als er antwortete.

„Soll ich sie für euch belauschen?“

„Nein!“, sagte Jerusha erschrocken und lauter als nötig. Alarmiert legte Kiéran ihr eine Hand auf den Mund. Empört ergriff Jerusha seine Hand und zog sie weg. Na toll. Womöglich dachten die Eliscan jetzt, dass er seiner Gefährtin Gewalt antun wollte!

Innerlich seufzend drehte er sich auf den Rücken und starrte in den Himmel, in dem er nie wieder Sterne sehen würde. Grísho und Jerusha unterhielten sich noch einen Moment lang fast unhörbar, dann wandte sich Jerusha wieder ihm zu. „Schlaf jetzt“, wisperte sie und küsste ihn rasch. „Alles wird gut.“

Das sollte wahrscheinlich ein Witz sein.

Leider war Kiéran gerade nicht nach Lachen zumute.

Lilienwinter

Подняться наверх