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Der Schrecken der Gast­häuser

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Jerusha arbeitete rasch – sie wollte nicht riskieren, dass jemand vorbeikam und sie hörte. Mit genau dosierter Kraft ließ sie den Hammer auf das schmale Eisen niedersausen, das sie in der rechten Hand hielt, und meißelte die Konturen von Lilie und Drachen aus dem Granit. Das Zeug war verdammt hart, aber ein anderes Gestein gab es hier nicht.

Schon zum dritten Mal brachte sie unterwegs das Zeichen an, drei Tage lang waren sie nun unterwegs. Und langsam wurde es ernst. Sie waren bereits im Wald von Atordar, und das Dorf Oordak, wo sich angeblich der Zwischenfall mit den verletzten Eliscan ereignet hatte, würden sie noch an diesem Nachmittag erreichen. Die Eliscan reagierten sehr unterschiedlich darauf: Qedyr wirkte geradezu aufgekratzt, Colmarél hielt es kaum noch aus vor Erwartung und die ohnehin stille Rawelha wurde noch stiller. Sie trug ihr Schwert jetzt nicht mehr offen, sondern verborgen unter einer Art weitem Hosenrock, aber so, dass sie es jederzeit ziehen konnte. Wahrscheinlich machte auch sie sich Sorgen darüber, was sie in Oordak erwarten würde und ob drei Kämpfer genügen würden, um den König gegen eine hasserfüllte Menge zu verteidigen.

Doch eine solche Menge war vorerst nicht in Sicht, und als sie sich Oordak näherten, hatte Jerusha andere Sorgen als die seelische Verfassung ihrer Schützlinge. Es würde bald dunkel werden, und außerdem wuchsen am Himmel Wolken, die ihr ganz und gar nicht gefielen. Sie drehte sich im Sattel um und rief den anderen zu: „Ich bin dafür, dass wir in einem Gasthaus übernachten. Es wird nicht angenehm, wenn das Gewitter uns erwischt.“

Die Eliscan sahen sich an. Jerusha konnte sich denken, was ihnen durch den Kopf ging: Konnten sie wirklich als Menschen durchgehen? Und wollten sie es ausgerechnet hier auf den Versuch ankommen lassen?

„Ein Gasthaus brauchen wir sowieso“, gab Kiéran zu bedenken. „Das ist der beste Ort, um halbwegs unauffällig Fragen zu stellen. Bringen wir es hinter uns.“

Qedyr nickte. „So sei es. Aus diesem Grund sind wir schließlich hier.“

Colmarél wirkte erleichtert, er warf einen misstrauischen Blick zum Himmel. „Gute Idee! Blitz und Donner sind meine Freunde nicht.“

„In Wirklichkeit willst du einfach nicht nass werden“, zog Jerusha ihn auf. Damit hatte sie anscheinend ins Schwarze getroffen, sogar Rawelha musste lächeln. Doch auch sie schien sich vor dem aufziehenden Sturm zu fürchten, immer wieder blickte sie besorgt nach oben.

Das Wetter verschlechterte sich schnell. Windböen rüttelten die Kronen der Bäume, der Himmel wurde schwarz wie Schiefer, und Minuten später begannen die ersten Regentropfen zu fallen. „Legen wir mal einen Zahn zu“, schlug Kiéran vor, und obwohl ihn Colmarél verblüfft anschaute und „Was für einen Zahn denn?“ fragte, nickten Qedyr und Rawelha schon und forderten ihre Pferde zum Galopp auf. Die gewandten Eliscan-Pferde jagten über die Handelsstraße, ihre Hufe berührten kaum noch den Boden. Jerusha gab Damaris den Kopf frei, die Stute ließ sich ohnehin kaum zurückhalten, weil sie den anderen Pferden folgen wollte. Mit einem freudigen Wiehern setzte sie ihnen nach, und ihre Mähne flog Jerusha ins Gesicht.

Doch als sie sich umwandte, merkte sie, dass Kiéran Probleme mit seinem Ersatzpferd Louc hatte, und zügelte Damaris wieder. Louc war ein freundliches, zuverlässiges Tier, aber nicht gerade schnell. Kiéran versuchte ihn anzutreiben, doch über einen gemächlichen Galopp kam der Braune nicht hinaus.

„Ich hätte mir auf dem Pferdemarkt einen besseren Gaul kaufen sollen“, fluchte Kiéran, während Millionen Tropfen auf sie herunterprasselten. Jerusha sah kaum etwas, so dicht strömte das Wasser herab, und die Handelsstraße war innerhalb von kurzer Zeit eine einzige Pfützenlandschaft. Doch das Schlimmste war nicht, dass der Regen sie bereits völlig durchtränkt hatte – das Schlimmste war, dass die Eliscan außer Sicht waren.

„Hoffentlich warten die am nächsten Gasthaus auf uns“, sagte Jerusha, während sie nebeneinander her ritten.

„Garantiert!“ Kiéran musste schreien, damit sie ihn über das Heulen des Windes verstand.

Ein greller Blitz fuhr in einen Baum neben der Straße, und der Donner sprengte Jerusha beinahe die Ohren. Erschrocken scheute Damaris und brach zur Seite aus, Jerusha schaffte es kaum, sich auf ihr zu halten. Sie hing halb neben ihrem Hals und hatte außerdem einen Steigbügel verloren – wenn ihre Stute durchging, dann sah es übel aus für sie. Verzweifelt klammerte sich Jerusha an den Lederzügeln fest, obwohl ihre Hände vom langen Reiten schon steif und wund waren, und angelte mit der Fußspitze nach dem Steigbügel. Wo war das verdammte Ding?

Kiéran holte sie ein und beförderte sie mit einem Schubs wieder in den Sattel. „Danke“, keuchte Jerusha und strich sich das klatschnasse Haar aus der Stirn.

Als sie endlich das nächste Gasthaus auf der Handelsstraße erreichten, den Hof zur Goldenen Schlange, warteten nicht, wie sie gehofft hatten, drei Reisende unter dem Vordach.

„Die werden doch nicht etwa weitergeritten sein?“ Jerusha erwartete keine Antwort, und von Kiéran kam auch keine. Er hatte es jetzt richtig eilig, ließ sich schon aus dem Sattel gleiten, bevor Louc zum Stehen gekommen war, und zerrte den Wallach hinter sich her in den Stall, der wie üblich in einem Seitengebäude des Gasthofes untergebracht war.

Jerusha atmete auf, als sie sah, dass dort die drei Eliscan-Pferde angebunden waren und ihre Nasen in Bottiche mit Getreide steckten. Anscheinend hatte das Wetter ihre drei Begleiter dazu gebracht, sämtliche Ängste zu überwinden und den Gasthof schon zu betreten.

Weniger begeistert war sie darüber, dass der Stalljunge, der Qedyrs Hengst mit einem Strohwisch trocken rieb, vor Bewunderung fast zerfloss. „Was für ein Tier! Ghalils Schande, solche Hufe habe ich noch nie gesehen, die schimmern richtig, und was für ein …“

Jerusha hörte sich die Hymne nicht weiter an, sie hetzte hinter Kiéran her, der mit langen Schritten auf dem Weg war zur Gaststube. Sie mussten durch einen Gang zwischen den Gebäuden und gelangten zu einer Tür, die in die Gaststube führte… doch bevor sie sie öffnen konnten, kam ihnen schon jemand entgegen: Colmarél. Er war leichenblass und stürzte aus der Gaststube, als seien tausend Dämonen hinter ihm her.

„Col! Was ist passiert?“ Kiéran packte ihn am Arm. „Wo sind die anderen?“

Doch Colmarél schaute ihn nur kurz an, dann stützte er sich kraftlos gegen die Wand und erbrach sich. Kiéran ließ ihn stehen, hastete weiter und riss die Tür zur Gaststube auf. Jerusha holte ihn im gleichen Moment ein, alarmiert blickte sie sich um. Shimounah sei Dank, dort standen Qedyr und Rawelha eng beieinander an einer Seite der Gaststube, sie wirkten eingeschüchtert, aber unverletzt.

„Sag mir, was du siehst“, kommandierte Kiéran knapp.

Rasch blickte sich Jerusha um in dem Raum mit den gemauerten Ziegelwänden und rohen Holzbalken an der Decke. Leise beschrieb sie, was sie sah: Etwa zehn Gäste, ihrem Aussehen nach hauptsächlich Händler, aber auch Männer in der Kleidung einfacher Bauern und zwei gelangweilt wirkende, unrasierte Söldner, saßen auf roh gezimmerten Bänken und Tischen. Einige von ihnen schienen gerade erst vor dem Gewitter hierher geflüchtet zu sein, denn vor dem Feuer, das im großen Kamin loderte, hingen zahlreiche Umhänge zum Trocknen. Einige der Gäste schauten neugierig zu ihnen herüber, versuchten wohl festzustellen, was überhaupt los war – niemand wirkte aggressiv oder hatte gar eine Waffe gezogen. Es roch nicht nach Wut und Angst in der Gaststube, sondern nach feuchter Wolle, Gewürzbier und einem Braten, der irgendwo brutzelte. Gerade tauchte der bärtige Wirt aus der Küche auf, nickte ihnen zu und deutete auf einen freien Tisch.

„Alles ganz friedlich“, schloss Jerusha verwirrt – was bei allen Göttern konnte Colmarél so zugesetzt haben?

Sie und Kiéran gingen hinüber zu Qedyr und Rawelha. „Was ist los?“, fragte Kiéran leise. „Falls ihr es noch nicht wisst, Colmarél ist vor der Tür und stülpt gerade seinen Magen nach außen.“

Qedyr schaffte ein verkniffenes Lächeln. „Ich fürchte, unser junger Freund hat den Schock nicht ganz verwunden über die Art, wie Menschen sich ernähren.“

So langsam dämmerte Jerusha, was gemeint war, denn in diesem Moment nahm einer der Söldner seinen mittlerweile getrockneten Umhang vor dem Feuer weg, und sie und Kiéran sahen, dass über dem Feuer ein ganzes Spanferkel am Spieß briet. Ein kleines Mädchen war damit beschäftigt, den Spieß zu drehen, und gerade säbelte der Wirt mit einem großen, gezackten Messer eine Portion Braten auf einen Teller ab.

„Ihr esst so was nicht? Nur Pflanzen, oder?“, fragte Jerusha Rawelha, und die große junge Frau nickte schwach, ihr Gesicht war noch blasser als sonst.

Jerusha versuchte sich vorzustellen, wie sie sich wohl gefühlt hätte, wenn sie in ein Anderwesen-Gasthaus hineinmarschiert wäre, in dem gerade Mensch am Spieß zubereitet wurde. Das war vermutlich vergleichbar. Trotzdem war sie erleichtert, dass nichts Schlimmes passiert war.

„Ist es in Ordnung, wenn wir trotzdem hier bleiben?“, fragte Kiéran vorsichtig. „Draußen findet so eine Art Weltuntergang statt.“

„Ja. In Ordnung“, sagte Qedyr und ging mit festen Schritten zu einem der freien Tische. Tapfer, tapfer, fand Jerusha und ging nach Colmarél sehen. Der stand elend, mit hängenden Schultern im Gang, während eine Küchenmagd dabei war, die Schweinerei aufzuwischen. Jerusha hatte erwartet, dass die Magd ihn auszanken würde wegen der zusätzlichen Arbeit, doch weit gefehlt – die Küchenmagd konnte kaum die Augen von ihm lassen. Was leider dazu führte, dass sie das unschöne Produkt seines Magens eher verteilte als entfernte. Dabei plapperte sie unaufhörlich. „Sowas kann ja mal passieren, hoher Herr, mir ist das auch schon mal widerfahren, beim letzten Frühlingsfest – die Bowle, ach, die Bowle, die hat mir einfach den Rest gegeben! Also grämt Euch nicht, und ich bin übrigens Agnes aus dem Clan YaCidor und…“

„Entschuldigt, der hohe Herr muss jetzt leider gehen“, sagte Jerusha und zog den Elis am Ärmel davon.

Cetha Erieth, beim süßen Licht des Mondes, diese Frau war sehr freundlich zu mir“, meinte Colmarél halb verblüfft, halb geschmeichelt.

„Ja, und als nächstes hätte sie dir wahrscheinlich einen Heiratsantrag gemacht“, sagte Jerusha trocken. „Du wirkst vornehm, und Eliscan sind nun mal schöner als Menschen, weißt du?“

„Du meinst, sie fand mich schön?“

Jerusha musste lächeln. „Ja, natürlich. Du bist nun mal ein gutaussehender Mann.“

Fast staunend blickte Colmarél sie an, und Jerusha begriff. In einer Welt, in der jeder groß war und harmonische Gesichtszüge aufwies, war gutes Aussehen nichts Besonderes, es fiel höchstens auf, wenn jemand wie Qedyr vom Ideal abwich. Für die Eliscan musste Ouenda ein Reich von hässlichen Gnomen sein!

Colmarél wandte sich halb um und blickte zu der Küchenmagd zurück, doch Jerusha dachte nicht daran, ihn loszulassen, und zog ihn weiter. Es hat gerade noch gefehlt, dass es in diesem kleinen Gasthof im Nirgendwo amouröse Verwicklungen zwischen Menschen und Anderwesen gibt!

Schließlich kehrten sie zurück in die Gaststube, obwohl es nicht ganz leicht war, Colmarél dort hinein zu befördern, er stemmte die Füße gegen den Boden wie ein bockiges Maultier. Jerusha gab ihm einen leichten Schubs. „Schau am besten nicht hin“, raunte sie ihm zu, damit ihm vom Anblick des Spanferkels nicht schon wieder schlecht wurde, und führte ihn zum Tisch, an dem es sich die anderen bequem gemacht hatten.

Gerade näherte sich ihnen der Wirt. „Wohlstand dem Clan…“

„… und Wohlstand dem Earel“, ergänzte Qedyr, was der Wirt mit einem verblüfften Blick quittierte.

„Er meint natürlich Treue“, mischte sich Kiéran ein. „Entschuldigt meinen Begleiter, er kommt aus dem fernen Elisondo und ist noch nicht so vertraut mit unseren Gebräuchen.“

Auf dem Gesicht des Wirts zeichnete sich ein breites Grinsen ab. „Ach, ich fand den Gruß passend – der Earel meines Clans ist klingender Münze sehr zugetan. Was darf es denn für euch sein heute Abend?“

Obwohl Jerusha furchtbar gerne ein Stück Spanferkel gehabt hätte, verzichtete sie darauf, um die Magennerven ihrer Begleiter zu schonen. Kurzerhand bestellte Kiéran Kürbisauflauf mit Rahm und Nüssen für alle, dann atmete er tief durch und warf einen Blick in die Runde.

Colmarél lächelte schief, er war noch immer blass und vermied, zur Feuerstelle zu blicken. „Ganz schön in den Schlamm gesetzt haben wir das, nicht wahr?“, sagte er. „Wenigstens den Gruß hätten wir richtig hinbekommen können.“

„Das war nicht weiter schlimm“, sagte Kiéran ruhig. „Aber ihr hättet uns nicht davonreiten dürfen. Nicht nur um euretwillen. Was wäre gewesen, wenn wir eure Hilfe gebraucht hätten?“

Jerusha hielt den Atem an. Wie würden die Eliscan reagieren? Gerade hatte Kiéran ihren König ganz offen zurechtgewiesen.

Doch die drei Eliscan blickten nicht gekränkt drein, nur betroffen.

„Das ist richtig“, sagte Qedyr schließlich. „Eine Gruppe, die Mitglieder achtlos zurücklässt, ist keine gute Gruppe. Verzeiht uns.“

„So sei es“, erwiderte Kiéran förmlich, und Jerusha nickte.

Immerhin, der Auflauf und das Gewürzbier schmeckten den Eliscan. Nach dem Mahl war es Zeit, mit den Nachforschungen zu beginnen. Jerusha liess sich von den Eliscan noch einmal genau erklären, wann, wo und mit wem der Zwischenfall angeblich stattgefunden hatte, dann winkte sie den Wirt zu ihrem Tisch und erkundigte sich: „Könnt Ihr uns sagen, ob es hier in Oordak vor nicht allzu langer Zeit einen Zwischenfall gab? Einen Zwischenfall, bei dem vier Reisende verletzt wurden?“

Der Wirt schüttelte ohne Zögern den Kopf. „Ghalils Schande, nein, das hätte ich sicher gehört. Was ist denn mit den Reisenden passiert, wurden sie ausgeraubt?“

„Angeblich wurden sie von Dorfbewohnern angegriffen.“

„Also, das kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen! Wir leben doch hier an der Handelsstraße, wir sind gewöhnt, dass Fremde durchreisen. Wovon sollen wir leben, wenn wir sie vergraulen?“

Jetzt mischte sich Qedyr höflich ein. „Aber so etwas kommt vor. Man streitet sich, ein Wort gibt das andere, und zu den harten Worten kommen Taten, die man nachher bereut.“

Ratlos hob der Wirt die Schultern. „Natürlich, wem sagt ihr das, gerade die jungen Burschen können laut und heftig werden, wenn sie dem Met zugesprochen haben. Ich werfe jede Woche einige von ihnen raus. Aber gleich vier Reisende… nein, das hätte ich sicher erfahren, mir und den Meinen kommt viel von dem zu Ohren, was in Oordak vorgeht.“

„Ich verstehe“, sagte Qedyr ruhig. „Wir danken Euch, Wirt.“

Nachdem sie wieder allein waren, sahen sie sich alle fünf gegenseitig an, einen Moment lang herrschte Schweigen am Tisch. Dann stand Jerusha auf. Nächste Runde der Nachforschungen! „Ich versuche, mit den Bauern dort zu reden, die wohnen sicher in der Gegend und wissen womöglich etwas.“ Sie holte ihren halb getrockneten Umhang und nutzte dabei die Gelegenheit, mit den Männern ins Gespräch zu kommen. Nachdem sie eine Weile mit ihnen geplaudert und gescherzt hatte, wurde sie ihre Fragen los. Wieder gab es keinen Hinweis darauf, dass hier Anderwesen beinahe gelyncht worden waren. Rawelha, die sich als Zeugin des Gesprächs zu ihr gesellt hatte, lauschte aufmerksam.

„Wir hören uns morgen nochmal in Oordak um“, sagte Kiéran. „Dann sollten wir endgültig Klarheit haben.“

Doch die Stimmung der Eliscan war schon jetzt deutlich entspannter als zuvor, sie glaubten wohl nicht mehr daran, dass das Ereignis stattgefunden hatte. Sie plauderten bis zu später Stunde und wirkten noch frisch wie eh und je, doch als Jerusha verstohlen gähnte, reagierten die Eliscan sofort.

„Zeit, die Zeche zu begleichen und unsere Zimmer in Augenschein zu nehmen“, sagte Qedyr und winkte den Wirt heran, als habe er so etwas schon tausendmal gemacht. „Wir bleiben zwei Nächte, guter Mann.“

Zum Glück sah Jerusha rechtzeitig, dass der Eliscan-König ein Goldstück aus der Tasche zog und auf den Tisch legte. Rasch stellte sie ihren Krug darauf, bevor der Wirt es sah, und zog selbst ein paar Kupfermünzen aus ihrer Börse, mit denen sie die Zimmer zahlte.

„Was war das denn?“, fragte Kiéran verwirrt, als der Wirt davongewatschelt war. Münzen blieben seinen neuen Augen verborgen.

„Unsere neuen Freunde haben versucht, das ganze Gasthaus zu kaufen“, berichtete Jerusha vergnügt, und die Eliscan machten große Augen. Jerusha schob ihnen das Gold wieder zu. „Das müssen wir irgendwann in einem größeren Ort wechseln. Hier würde es zu viel Aufsehen erregen.“

„Sehr erstaunlich. Dabei haben wir uns bemüht, Münzen aus Ouenda zu beschaffen, um nicht aufzufallen.“ Qedyr drückte das Gold Jerusha in die Hand. „Hier, bitte nehmt das – natürlich tragen wir die Kosten der Reise.“

„Ich danke Euch!“ Ehrfürchtig drehte Jerusha das weiche Metall in den Fingern. Sie hatte noch nie eine Goldmünze in der Hand gehabt und war verblüfft, wie schwer sie war. Sorgfältig steckte sie sie ein.

Und dann – endlich wieder allein mit Kiéran, so lange hatte sie sich nach diesem Moment gesehnt. Wortlos streckte er die Arme aus, und Jerusha schmiegte sich hinein, warf alle Sorgen von sich. Er ließ sich gegen sie sinken, sie hielten sich ganz fest und atmeten zum ersten Mal seit Tagen wieder leichter. Jerusha merkte, wie sehr die letzten Tage an ihren Kräften gezehrt hatte, wie schwer die Verantwortung wog, für die Sicherheit eines Eliscan-Königs zu sorgen.

„Und, hast du auch befürchtet, dass es sich als wahr herausstellen könnte?“, fragte Kiéran. „Xatos´ Rache, so viel Angst wie heute hatte ich schon länger nicht mehr – zumindest nicht in den letzten zwei Wochen.“

„Und ich erst“, seufzte Jerusha, ließ sich aufs Bett fallen und streckte alle Viere von sich. Kiéran zog sein Hemd aus und steuerte die Waschschüssel an, die eine Magd bereitgestellt hatte. Jerusha stützte sich auf einen Ellenbogen und beobachtete ihn dabei, sie liebte seinen sehnigen, durchtrainierten Körper, an dem kein Gramm überflüssiges Fett war. Kiéran hatte ihr erzählt, dass manche Gegner ihn unterschätzten, weil er auf den ersten Blick nicht sehr muskulös wirkte. Jerusha hatte ihm sofort geglaubt. Doch sie hatte ihn schon kämpfen sehen und wusste, dass er sich so schnell und geschmeidig bewegte wie ein Wolf.

Jerusha kroch vom Bett, stellte sich hinter ihn und ließ die Hände über seine glatte, warme Haut wandern, spürte das Spiel der Muskeln darunter. Als Kiéran sich zu ihr herumdrehte, schien in seinen bernsteinfarbenen Augen ein Feuer zu brennen. Jerusha konnte es kaum erwarten, dass sie sich lieben würden, und zum ersten Mal tauchte dabei ein neuer Gedanke in ihr auf.

Wie es wohl wäre, ein Kind von ihm zu haben? Einen Sohn oder eine Tochter.

Schön wäre das. Sie hatte bisher nichts getan, um zu verhindern, dass sie schwanger wurde… und würde es auch diesmal nicht tun.

***

Kiéran wusste, dass er Jerusha nach all dem, was sie erlebt hatte, nicht überfordern durfte, und zwang sich, es langsam angehen zu lassen. Er beugte sich zu ihr herab, küsste ihren Hals und begann, ihre Leinenbluse zu öffnen, einen Knopf nach dem anderen, obwohl er kaum noch schaffte, sich zurückzuhalten. Wie so oft schloss er die Augen, um Jerusha in solchen Momenten nicht als Schatten mit farbiger Aura zu sehen … sein Tastsinn und seine Fantasie taten viel bessere Dienste.

Seine Hände glitten über ihre kleinen, festen Brüste, die zarte Innenseite ihrer Schenkel, streiften ab, was sie noch an Kleidung fanden, während seine Lippen mit den ihren verschmolzen. Wie schön es war, mit einer Frau zu schlafen, die man liebte – jeder Moment war ein Fest, jeder Atemzug ein Jubel, weil es nicht irgendeine war, die hier bei ihm lag, sondern sie. Jerusha. Die er fast verloren und doch wiedergefunden hatte.

Sie klammerte sich an ihn, während er sich in ihr bewegte, und Kiéran war es egal, ob die Eliscan in den Räumen nebenan sie hörten. Wir haben uns lange genug beherrscht während der gemeinsamen Nachtlager im Wald!

Eine Welle der Lust schlug über ihm zusammen, sein Körper bäumte sich auf, und dann lagen sie schweißnass nebeneinander, noch nicht bereit, sich loszulassen. Als sie wieder zu Atem gekommen waren, nahm Jerusha sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn. „Ganz habe ich mich noch nicht daran gewöhnt, dass die Narben weg sind“, flüsterte sie.

„Ich mich auch nicht“, sagte Kiéran. Das Gefecht in Daressal hatte ihn gezeichnet, so schwer, dass er sich kaum getraut hatte, die rechte Seite seines Gesichts zu berühren. Er begriff noch heute kaum, dass sich Jerusha trotzdem in ihn verliebt hatte. Und dann hatte dieser junge und unerträglich arrogante Elis, Silmar, ihm vor einer Feier in Khorat ganz beiläufig eine Tube Salbe in die Hand gedrückt: Ach ja, hier ist noch was für dein Gesicht. Diese Worte würde Kiéran nie vergessen. Seither war er die Narben los, zumindest die aus Daressal – sein Körper trug noch viele andere.

„Lass uns schlafen, morgen wird ein langer Tag“, flüsterte er Jerusha ins Ohr, und als er die Augen schloss, war jeder Gedanke an Krieg für ihn weiter weg als die Wolken.

Lilienwinter

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