Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 23

Die Geheimnisse

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»Die Bibliothek.«

Eir hatten den Raben getragen, solange Urd zurückdenken konnte, und sie musste Eisvaldr so gut wie ihre Westentasche kennen und dennoch konnte er Ehrfurcht in ihrer Stimme hören.

»Die Bibliothek«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, um seine Ungeduld nicht zu verraten. Dies war der Kern. Dies war es, wofür er gekämpft hatte. Natürlich war das das Letzte, was sie ihm zeigte, blindes Weib!

Schon den halben Tag, seit die Uhren zwei geschlagen hatten, waren sie herumgelaufen. Durch Archive, Gärten, historische Museen, Schulen und Säle, bis die Füße mehr wehtaten als das brandneue Zeichen auf der Stirn. Der Rabe. Es brannte wie ein drittes Auge über der Nasenwurzel. Ein süßer, süßer Schmerz. Er trug das Zeichen auf der Stirn. Er war Ratsherr. Urd-Fadri. Er lächelte.

Eir ging ihm voraus über den blanken Steinboden. Der Widerhall ihrer Schritte setzte sich über viele Stockwerke hinweg fort und verflog. Die Bibliothek befand sich in einem der ältesten Türme von Eisvaldr. Sie besaß so gewaltige Ausmaße, dass es eine Weile dauerte, bis auffiel, dass der Raum rund war. Eine Rotunde in den Himmel. Und wohin man den Blick auch wendete, waren Bücher. Bücher, Rollen, Texte, Papierbögen … Informationen. Regal um Regal, Kiste um Kiste. Kleine Bücher und Bücher, die so groß waren, dass es zwei Männer brauchte, um sie aufzuschlagen. Bücher, eingebunden in gewebte Seide, in Holz, in Leder. Bücher mit Deckeln aus massivem Gold und Silber. In den Büchern stand alles, was jemals geschehen war, und bestimmt auch manches, was noch geschehen würde. In dem Raum roch es nach Ledereinbänden. Und Macht. Es roch nach Macht. So sollte Macht riechen. Ewig. Unsterblich. Grenzenlos.

Stille, grau gekleidete Frauen und Männer trugen Stapel von Büchern, schrieben und sortierten. Wandernde Schatten zwischen Regalen und zwischen Etagen. Sie stiegen die vier Treppen auf und ab, je eine pro Himmelsrichtung, aber sogar die Treppen wurden als Bücherregale genutzt. Außerdem lief noch eine unbestimmbare Anzahl an dunklen Leitern auf Schienen an den gewölbten Wänden entlang. Abkürzungen für die Routiniertesten unter den Graugekleideten.

Urd entdeckte eine Frau, die mehrere Sprossen auf einmal nahm, während ihre Leiter auf den Schienen entlangglitt. Als sie die nächste Etage erreichte, packte sie eine neue Leiter und nutzte ihren Schwung und das eigene Körpergewicht, um auch diese an den Regalen entlang in Bewegung zu versetzen. Nach dieser Methode bewegte sie sich im Nu zwischen den Stockwerken mit einer Schnelligkeit und Präzision, die nur das Ergebnis eines ganzen Lebens in diesem Turm sein konnten. Das Gleitgeräusch der Leitern unterbrach hin und wieder das konstante Kratzen der Federn auf Papier, das Hunderte von Schreibern hervorriefen.

Eir blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Er starrte den Ratskittel an, den sie trug, mehrere Lagen aus verschiedenen Stoffen, alle in Weiß und mit dem traditionellen, geteilten Übergewand. Nur die schwarzen Kantenbänder bildeten einen Kontrast zu dem Hellen. Sie verliefen vorn an den Säumen und fassten die Kapuze um Eirs Gesicht ein.

Kurz hatte er den gewohnten, bitteren Geschmack von Neid im Mund, dann fiel ihm aber ein, dass er genau den gleichen Kittel trug. Den seines Vaters. Er passte in der Länge gut, war aber etwas zu weit. Die Seiten mussten enger genäht werden und die Maße waren schon genommen. Im Lauf der Nacht würden die besten Näherinnen des Sehers ihn unverwechselbar zu seinem eigenen umändern.

Eir starrte ihn aus Eulenaugen an. Obwohl er den ganzen Tag in ihrer Nähe verbracht hatte, konnte er sich nicht an diese Augen gewöhnen. Sie durchbohrten seinen Körper genauso wie Ilumes Augen und er wusste, dass er auf seine Worte achten musste. Die beiden Frauen waren Verbündete und hielten zusammen wie Pech und Schwefel, unterschieden sich aber äußerlich wie Tag und Nacht. Bei Eir waren Gesicht und Augen rund. Sie hatte faltige braune Haut, wogegen Ilumes glatt und hell war, obwohl beide schon mehr als ein Dreivierteljahrhundert alt waren. In Eirs Gesichtszügen war deutlich zu erkennen, dass die Wurzeln der Familie Kobb in Blossa lagen, einer schlichten Jagdgegend im Norden, wo die Leute Walspeck aßen und mit ihren Zelten über die Hochebenen zogen. Dass sie nicht schon vor Hunderten von Jahren beschlossen hatten, einen standesgemäßeren Namen anzunehmen, war unbegreiflich. Wie peinlich musste es doch für die mächtigste Frau der Welt sein, von Bergnomaden abzustammen. Urd kämpfte den Impuls zu lächeln nieder.

»Alles, was je geschrieben wurde, befindet sich hier in der Bibliothek«, erklärte Eir. »Hier hast du alles, was wir sind, alles, was wir machen, und alles, was wir je gemacht haben. Alle Entscheidungen, die wir je getroffen haben, sind hier niedergeschrieben. Wie jede Familie abgestimmt hat und wie deren Vorfahren abgestimmt haben. Bis zurück zum Krieg gegen die Blinden. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.«

Urd unterdrückte ein Schnauben. Dass sie keine Miene verzog, während sie das sagte, war schon eine reife Leistung, das musste man ihr lassen.

»Du bist das jüngste Mitglied seit Langem«, fuhr sie fort. »Es muss vier Generationen her sein, dass jemand, der noch keine vierzig Winter gesehen hat, aufgenommen wurde.« Er suchte nach Respekt in ihrer Stimme und wurde ärgerlich, als er den nicht fand. Sie stellte es nur fest wie eine Tatsache. »Und du bist mit dem knappsten Ergebnis gewählt worden, das ich in meinem Leben gesehen habe. Dein Vater war ein starker Mann. Du hast noch einen weiten Weg vor dir.«

Urd spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, aber er hatte sich schnell wieder im Griff. Sie stellte ihn auf die Probe. Sie wollte sehen, wie er reagierte. Und dennoch … Er war Ratsherr. Wie konnte sie es wagen! Das würde sich rächen! Eines Tages, wenn sie es am wenigsten erwartete.

»Ich bin froh, dass nicht alle das so sehen«, erwiderte er so ruhig er vermochte.

Ohne auf seine Antwort einzugehen, fuhr sie fort: »Ich habe gegen dich gestimmt.«

Für einen Moment bewunderte er ihre Ehrlichkeit, aber dann fiel ihm wieder ein, was sie eben gesagt hatte. Die Stimmen aller waren hier in diesem Raum. Er hätte es also ohnehin herausgefunden und das wusste sie.

»Aber jetzt bist du hier.« Sie kehrte ihm den Rücken zu und setzte ihren Weg durch die Bibliothek fort.

»Du bist hier und ich hoffe, ich habe mich in dir getäuscht. Das wird sich bald herausstellen.«

Sie stiegen mehrere Stockwerke hoch, traten auf einen Balkon hinaus und gingen über eine Brücke zum nächsten Turm. Und dem nächsten. Und dem nächsten. Der Himmel war dunkel und streitlustig. Regen zog auf und es war kalt hier oben.

Endlich öffnete Eir eine Tür zu einem Turm und sie gelangten in einen dunklen Saal. Urd versuchte, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen, als er dort mehrere der anderen Ratsmitglieder erblickte. Alle trugen die Kapuzen auf dem Kopf, als hielten sie gerade ein Ritual ab. Urd spürte, dass seine Hand zuckte, doch es gelang ihm, den Impuls zu bekämpfen, sich an den Hals zu fassen. Der Reif saß, wo er hingehörte, da, wo er immer saß. Niemand konnte etwas sehen oder wissen. Er musste lernen, sich zu entspannen, sich mehr auf sich zu verlassen. Er war schließlich der mächtigste Mann der Welt!

Eir bedeutete ihm, sich auf einen Stuhl in der Mitte des Raumes zu setzen. Ein ernüchternd einfacher Holzstuhl mit schmalen Sprossen im Rücken. Ein Stuhl, wie man ihn im Zimmer eines Dieners hätte finden können.

»Der Rat beschützt das Volk vor gefährlichen Wahrheiten, Urd-Fadri«, sagte Eir. »Wahrheiten, die alle Brücken verbrennen. Ob du wie einer von uns leben kannst, hängt davon ab, wie du mit diesen Wahrheiten umgehst.«

Urd setzte sich und hob den Blick. Über ihm hing ein Fallgitter aus schwarzem Feuerglas. Die Speere saßen dicht an dicht und funkelten im Schein der Öllampen. Bei nur einer falschen Antwort würden sie ihn umbringen.

Oder hatten sie das ohnehin vor? Vielleicht wussten sie schon alles? Nein. Das taten sie selbstverständlich nicht. Dann wäre er jetzt überhaupt nicht hier.

»Aber du kannst ganz beruhigt sein«, sagte Eir. »Im Lauf der Geschichte sind nur zwei hier untergegangen. Sie haben den Verstand verloren.«

Urd lächelte nicht.


Der Himmel war schwarz und weinte. Urd stolperte die Treppe außen am Turm hinab, bevor er stehen bleiben und sich am Geländer eines Balkons festhalten musste, als sei er betrunken. Er beugte sich vor, um seine Übelkeit zu mildern, ohne dass es ihm gelungen wäre. Es goss in Strömen auf die leeren Straßen tief unter ihm.

Seine Kleider waren schwer vor Nässe. Wasser lief ihm aus den Haaren übers Gesicht. Der Regen stürzte vom Himmel und explodierte auf dem Balkon in einem gleichmäßigen und schonungslosen Takt.

Urd kniff die Augen zu, um die Wahrheiten – und die Lügen – auszusperren, die er gerade zu hören bekommen hatte. Er war ein starker Mann. Er war hier aufgewachsen und hatte unglaubliche Dinge gesehen und gehört. Er machte sich keine Illusionen über den inneren Zirkel des Rates. Außerdem war er auch ein Mann der Tat. Er durchschaute das politische Ränkespiel besser als andere. Er war das politische Ränkespiel, um des Sehers willen! Aber das hier …

Er fasste sich an den Hals. Schmeckte Blut im Mund von einer Wunde, die niemand sehen und niemand heilen konnte. Niemals. Aber das würde ihn nicht aufhalten. Gewöhnliche Leute mochten sich von allem Möglichen aufhalten lassen, aber Urd war kein gewöhnlicher Mann. Er war einzigartig. War er vielleicht nicht genau da, wohin er wollte? War ihm nicht alles geglückt, was er sich vorgenommen hatte? Wurde nicht alles, was er anpackte, zu Gold? Und jetzt war er einer von ihnen. Er hatte nichts mehr zu befürchten.

Der Regen ließ etwas nach. Er ging auf unsicheren Beinen weiter die Treppe hinab. Ein Rabe aus den Bergen hinter Eisvaldr gab drei kurze, wettermüde Schreie von sich. Die ganze Welt stand ihm offen und sie gehörte ihm, nur ihm. Das hier würde so unerhört leicht werden! Wenn er nur gewusst hätte …

Vater wusste es!

Vater hatte mit diesem Wissen gelebt, seit er im Alter von fünfzig Wintern in den Zirkel aufgenommen worden war. All diese Jahre … ohne es zu teilen. Urd sah sein Gesicht vor sich, wie es auf dem Totenbett ausgesehen hatte. Von der Krankheit war er blass, aber immer noch nicht willens loszulassen. Doch am Ende hatte er loslassen müssen. Als er seinen letzten Atemzug machte, hatte er Urd angestarrt. Nicht voller Furcht, sondern voller Abscheu.

Aber wer hatte gewonnen? Wer konnte denn jetzt mit Verachtung zurückblicken? Spurn hatte zwar das Wissen gehabt, es aber nie genutzt. Er hatte nie Grenzen überschritten. Er war schwach gewesen, hatte vor einem System gekuscht, das älter war als die Zeit.

Urd überquerte den Platz des Sehers. So kurz vor dem Ritual war der voller Blumen und Geschenke aus aller Welt. Einige hatte ein paar Zeilen auf Gebetsfahnen und Bänder geschrieben, andere hatten etwas in Stein graviert: Glückwünsche, Gebete an den Seher von ganz kleinen Frauen und Männern mit ganz kleinen Problemchen wie Krankheiten, Geld, Liebe …

Urd begann zu lachen. Er setzte die Kapuze auf und ging durch das nächste Tor in der massiven Mauer hinaus, nach der Eisvaldr benannt worden war. Eine Mauer aus weißem Stein, die man vor tausend Jahren als Schutz gegen die Blinden gebaut hatte. Die besten Krieger des Sehers waren in Blindból einmarschiert, um sie aufzuhalten, aber die Leute hatten Angst. Sie bauten die Mauer, nachdem die Krieger einmarschiert waren, und sperrten so die ersten zwölf ein. Sie opferten ihre mutigsten Leute, um sich selbst zu retten. Aber die Krieger hatten überlebt. Sie hatten gewonnen. Mithilfe des Sehers hatten sie jeden Mann und jede Frau gerettet und den ersten Rat gebildet. So lautete die Geschichte.

Die Mauer war undurchdringlich gewesen. Heute war sie mit Bogengängen wie eine mehrstöckige Brücke von der einen Seite von Eisvaldr bis zur anderen durchlöchert. Sie war nichts weiter als eine beeindruckende, symbolische Trennlinie zwischen Eisvaldr und dem Rest von Mannfalla. Ein Tor vom Gewöhnlichen zum Großartigen, von Arm zu Reich, vom Schmutz zum Heiligen.

Urd zog den Umhang fester um sich, um von den Torwächtern nicht wiedererkannt zu werden. Wer zum inneren Zirkel gehörte, verließ Eisvaldr selten allein. Er eilte die Straßen entlang. Es würden umso mehr herunterkommen, je weiter er nach Osten kam. Er versteckte sein Gesicht in den wenigen Fällen, da ihm jemand entgegenkam. Er durfte nicht gesehen werden auf dem Weg dorthin, wohin er gerade unterwegs war. Nicht als Urd-Fadri. Die meisten, die ihm begegneten, waren Trunkenbolde, die sich dort hingesetzt hatten, wo sie Schutz fanden, oder Leute, die in fremden Sprachen zankten. Es waren Leute, die wegen des Rituals in die Stadt gekommen waren, ohne Geld für ein Zimmer. Ein junges Mädchen überraschte ihn. Sie trat aus dem Dunklen auf ihn zu und stand mit hungrigen Augen plötzlich vor ihm.

»Ich habe Wärme zu verschenken, Fremder«, sagte sie und legte ihre schmutzige Hand auf seine Kapuze. Er wandte das Gesicht ab und schob sie von sich. Verfluchte Huren! Sie wussten nicht, was das Beste für sie war. Konnte er sich sicher sein, dass sie ihn nicht erkannt hatte? Das war eine Sorge, um die er sich später kümmern musste.

Er zwängte sich durch enge Gassen vorwärts, bis er das fand, wonach er gesucht hatte. Er öffnete eine Tür und stieg eine Treppe hinab. Warmer, süßlicher Rauch schlug ihm entgegen wie eine Wand und Musik: verführerische Rhythmen von Trommeln und Harfen. Hier war es immer voll, doch der Regen hatte noch mehr Leute als sonst hineingetrieben. Morgen war Ruhetag, also tranken viele fleißig, während sie mit halb offenen Mündern zwei Mädchen anglotzten, die auf der Bühne tanzten. Damayanti war nicht dabei. Damayanti tanzte immer allein.

Urd durchquerte den Raum, ohne jemanden anzusehen. Er ging die Treppe neben der Bühne hinauf und klopfte an die rote Tür im ersten Stock. Er trat ein, ohne eine Reaktion abzuwarten.

Damayanti wandte ihm den nackten Rücken zu. Er begegnete ihrem Blick im Spiegel. Sie machte eine fast unmerkliche Handbewegung und zwei Mädchen verließen das Zimmer durch einen klirrenden Vorhang aus schwarzen Perlen. Sie waren allein. Und dennoch war der Raum voll. Das lag an den süßlichen, würzigen, nahezu stickigen Düften. Einige waren neu, andere so alt, dass davon vermutlich dicke Schichten auf den Öllampen lagen.

Damayanti klebte sich den letzten Edelstein ins Gesicht. Sie trug dort mehrere in unterschiedlichen Farben. Sie rahmten ihre Augen ein, die schwarz wie Kohle angemalt waren. Sie wirkte zufrieden mit dem Ergebnis. Und das durfte sie auch sein, denn auch Urd hatte an diesem Abend etwas vorzuzeigen. Er setzte sich in den ausladenden Sessel neben der Feuerstelle und hielt seine gefalteten Finger vors Gesicht, als habe er alle Zeit der Welt.

Sie stand auf und ließ sich rekelnd auf einem mit Samt bezogenen Divan vor ihm nieder. Dort blieb sie auf der Seite liegen, ein rundes Kissen unter dem Arm. Muster aus funkelnden Schmucksteinen wanden sich um ihren braunen Körper wie Schlangen. Sie glitzerten bei jeder ihrer Bewegungen, züngelten den Hals hinab, bedeckten mit knapper Not die Brustwarzen, füllten den Nabel und setzten ihren Weg um die Hüften fort, die ein durchsichtiger Rock bedeckte. Ihr Schritt war ein dreieckiger Schatten hinter dem rot-gelben Stoff.

Damayanti war vermutlich die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Unglücklicherweise waren sie sich beide allzu ähnlich und zwar so sehr, dass auch sie Frauen den Vorzug gab. Doch sie wusste, dass er sie begehrte. Und das machte ihr große Freude. Abends tanzte sie mit nur einem einzigen Ziel vor Augen: Männer in den Wahnsinn zu treiben. Das war kein schwieriges Unterfangen. Sie war eine Legende. Leute, die es sich leisten konnten, kamen aus der ganzen Welt angereist, um sie tanzen zu sehen.

Hätten sie gewusst, wie sie zu ihren Gaben gekommen war, dann hätten sie sie auf der Stelle verbrannt. Urd war intelligenter als die meisten. Er erkannte Blindwerk, wenn er es sah. Damayanti hatte keine physischen Grenzen. Sie erlegte sich selbst Grenzen auf, weil sie dazu gezwungen war. Das war ein Balanceakt. Ihre Geschicklichkeit war legendär, aber nicht so weit ausgeprägt, dass sie Misstrauen wecken konnte.

Sie hatte auch andere Talente. Und Urd brauchte sie. Er hasste es, jemanden zu brauchen. Er brauchte sie schon seit vielen Jahren, aber das sollte nicht immer so bleiben. Bald war er sein eigener Herr und Meister.

»Urd. Wie geht es meinem Suppe essenden Freund?«, fragte sie.

Er hob automatisch die Hand zum Hals, ertappte sich aber selbst dabei. Das war es, was sie wollte, ihn reagieren sehen. Aber sie würde sein Bedürfnis nicht zu sehen bekommen. Diesmal nicht. Stattdessen schob er die Kapuze zurück, sodass das Zeichen auf seiner Stirn zum Vorschein kam. Er wartete auf ihre Reaktion.

Sie sah das Zeichen und lachte. Ein perlendes Lachen, das wie Gift in seinen Körper floss. Aber er tröstete sich damit, dass ihre Augen kurz geflackert hatten. Sie war nicht ganz unbeeindruckt. Sie wusste, welche Macht dieses Zeichen ihm verlieh. Ihr Leben lag in seinen Händen. Leider lag auch sein Leben in ihren Händen.

»Ein geringerer Mann hätte das so gedeutet, als seist du erstaunt«, sagte er kühl.

»Natürlich nicht. Ich komme meinen Zielen näher.«

Urd spannte die Unterkiefer an. Damayanti hatte die Tendenz, die Dinge so zu drehen, wie es ihr passte. Und jetzt beanspruchte sie die Ehre für seine Arbeit. Als ob er ohne sie nicht dahingekommen wäre, wo er jetzt stand. Ohne eine Hure, eine tanzende Hure. Sie fixierte ihn, als habe sie seine Gedanken gehört.

»Ein Mann des Sehers. Was kann ich denn für einen Ratsherrn tun? Ihm die Mitgliedschaft hier im Haus verschaffen? Essen und Getränke besorgen? Tänzerinnen?« Ihr Tonfall war gereizt. Sie wusste nur zu gut, was er wollte, aber heute würde er dafür gequält werden. Dabei handelte es sich um nichts weiter als einen verzweifelten Versuch, Würde und Macht zu wahren. Das Zeichen machte ihr Angst. Sie war nur verdammt geschickt darin, es zu verschleiern.

»Ich habe keine Zeit zu verschenken«, antwortete er und legte einen Haufen Münzen auf den Tisch.

»Zeit. Das war schon immer deine größte Schwäche, Urd.«

Sie stand auf und schloss einen Schrank mit einem Schlüssel auf, ohne dass er begriff, wie sie ihn am Körper versteckt haben konnte. Sie bückte sich hinunter, tat so, als würde sie nach etwas suchen, um ihm Zeit zu lassen, sie von hinten zu betrachten, bevor sie zurückkam und ein silbernes Fläschchen auf den Tisch stellte. Es hatte die Form einer Speerspitze und war mit Ornamenten verziert und gerade so groß, dass Urd es in der Hand verstecken konnte. Er beugte sich über den Tisch. Er bemühte sich, keine Eile erkennen zu lassen. Er verstaute das Fläschchen in dem Lederbeutel und gab das leere, das er mitgebracht hatte, Damayanti.

Sie ließ Fläschchen und Geld liegen und streckte sich wieder auf dem Divan aus.

»Zeit und Hochmut. Du solltest vorsichtiger sein, Urd. Niemand verdoppelt seine Gabe über Nacht. Nur ein Dummkopf glaubt das. Ein kluger Mann würde sich vorsehen.«

Urd spürte, wie seine Lippen zuckten. Er wusste, dass jedes Wort, das diese Schlange hervorbrachte, der Angst entsprungen war. Sie tat ihr Bestes, zu betonen, dass er sie brauchte, weil sie sich plötzlich bedroht fühlte. Aber dennoch empfand er eine gewisse Unruhe.

Niemand verdoppelt seine Gabe über Nacht.

Er war stärker geworden. Er hatte die Grenzen zwischen den Welten ausradiert. Eine Gabe, die man für längst ausgestorben hielt. Aber Damayanti hatte recht. Ihm war es über Nacht gelungen, plötzlich und unmerklich. Warum? Und woher konnte sie das wissen? Eine alte Unruhe regte sich in seiner Brust. War er nicht so stark, wie er glaubte? Bekam er von jemandem Hilfe? Unmöglich! Nur Die Stimme konnte ihm geholfen haben und Die Stimme wusste nichts davon, was Urd getan hatte. Es sei denn …

Es sei denn, das Kind hatte damals überlebt. Was, wenn es so war? Was, wenn sie hierhergekommen war? Dann wäre sie jetzt alt genug für das Ritual. Fünfzehn Winter. Offen für die Gabe. Bei dem Gedanken, was das bedeuten würde, lief es ihm kalt über den Rücken: Fäulnis in Ymsland. Ein Odinskind, das in den elf Reichen frei herumlief? Ein schwanzloses Tier irgendwo in den Wäldern oder in irgendeinem Dorf? Wenn sie zum Ritual kam, wäre das sein Untergang. Sie war die einzige Verbindung zwischen ihm und den Blinden. Alles wäre dann vorbei. Wirklich alles.

Der Gedanke war absurd! Das war immerhin ein Trost. Erstens war das Ritual schiefgegangen. Das Kind war nicht aufgetaucht. Sie war in der Ewigkeit verschwunden, von den Rabenringen verschlungen, von Steinen aufgefressen. Und zweitens, wenn sie doch aufgetaucht wäre, wäre sie umgekommen mitten im Winter, neugeboren und nackt, wie sie war.

Nackter als Damayanti. Urd betrachtete das Spiel ihrer Muskeln auf dem Bauch und spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Mit einem Mal wurde die Tür aufgerissen. Urd zog sich schleunigst die Kapuze über den Kopf. Er hörte eine Männerstimme, die kaum den Lärm aus dem Saal dort unten übertönte.

»Du bist dran, Damayanti.«

»Gleich«, antwortete sie. Die Tür wurde wieder geschlossen und Urd erhob sich.

»Na, dann will ich die Kunst nicht aufhalten«, sagte er und hoffte, dass ihr der spitze Unterton nicht entging. Er verließ das Zimmer, schloss die rote Tür hinter sich und bahnte sich den Weg durch Scharen von Männern, bis er die Ausgangstür erreicht hatte. Niemand schaute ihn an. Alle konzentrierten sich auf nur eine einzige Sache.

Stille breitete sich im Saal aus und ein leises Trommeln war zu hören. Verfluchte Damayanti! Verfluchtes Blindwerk! Er hatte schon die Hand auf der Klinke liegen, aber er brachte es nicht fertig zu gehen. Sein Blick wanderte zur Bühne, zusammen mit allen anderen Blicken im Raum. Damayanti stand auf Zehenspitzen, die Arme über dem Kopf verschränkt. Urplötzlich sank sie zu Boden, als hätten ihre Beine versagt. Die Männer schnappten nach Luft. Die Trommeln verstummten. Dann setzten sie wieder ein. Immer ein Schlag nach dem anderen. Regelmäßig. Wie ein Herzschlag. Damayanti drückte sich vom Boden ab in eine unmögliche Brücke. Es wirkte so, als hinge sie an einem unsichtbaren Seil, das an ihrem Nabel befestigt war. Eine außerirdische Kraft zog sie hoch, bis sie wieder auf den Füßen stand. Die Trommeln wirbelten. Sie hob ein Bein und legte es um den Hals, anscheinend ohne Anstrengung. Ihr Schwanz bog sich, erfasste den Rock und lüpfte ihn, bis jeder im Publikum ihre verbotene Frucht sehen konnte. Die Männer kamen ins Schwitzen.

Urd bleckte die Zähne, riss die Tür auf und rannte hinaus auf die Straße. Er schnappte nach Luft. Es regnete noch immer. Aber er hatte es ins Freie geschafft. Er war nicht wie andere Männer. Er ließ sich nicht wie ein Lehmklumpen formen. Er war stärker als sie. Aber er war schließlich auch Urd-Fadri. Ratsherr.

Er begann, die Straße hinaufzugehen, auf der dunklen Seite. Ein Stück weiter oben entdeckte er das Mädchen, das ihn vorhin angesprochen hatte. Er blieb ein Stück von ihr entfernt stehen und sie sah ihn kommen. Sie hatte gelernt, Männer zu bemerken, die stehen blieben.

Sie lächelte und wiegte die Hüften, als sie auf ihn zukam wie eine alte Geliebte. Sie sah nicht schlecht aus: jung, unter zwanzig, langes, kupferfarbenes Haar. Das Kleid war abgetragen und am Saum mit Lehm verschmiert, aber der Hals war sauber. Schlank, frisch und unberührt.

»Du bist zurückgekommen …« Sie drückte ihre Brüste an ihn, war aber klug genug, seine Kapuze nicht anzurühren. Er strich ihr mit einem Finger übers Kinn und den Hals hinab. Der war unerträglich nackt und das Erste, was er in seinem festen Handgriff spüren würde. Bis sie aufhörte zu atmen. Bis sie ganz still war. Sie hatte selbst Schuld. Was sollte er sonst machen? Sollte er riskieren, dass sie ihn erkannt hatte? Sollte er darauf warten, dass die Gerüchte sich den Fluss entlang hinauf bis nach Eisvaldr ausbreiteten? Nein. Wenn er eins heute Abend gelernt hatte, dann, dass er frei war, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ein Rabenschmuck hing zwischen ihren Brüsten. Ein Glücksamulett. Der Schutz des Sehers. Es war unmöglich, über diese Ironie des Schicksals nicht zu lachen.

»Komm mit«, flüsterte er.

Sie lächelte und folgte ihm wie ein Lamm.

Die Rabenringe - Odinskind

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