Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 26
ОглавлениеDie Lüge
In den nächsten Tagen verzog sich der Sommer langsam. Es wurde kühler und die Insekten kamen zur Ruhe. Elveroa wurde von einer Flut aus süßen, reifen Beeren überschwemmt. Nach und nach liefen die Schiffe aus Kleiv ein, einige kamen sogar aus Ko, das ganz im Süden der elf Reiche lag. Sie hatten Trockenfrüchte, Gewürze, Glas und Steingut geladen. Wagen brachten die zweite Jahresernte von reifem Tee aus Andrakar und Kräuter aus Brekka.
Hirka freute sich nicht darüber. Die verstreichende Zeit erinnerte sie ständig daran, dass das Ritual immer näher rückte, und sie konnte weder umarmen noch mit Raben sprechen.
Sie machte einen langen Schritt über die Rachdornen auf dem Berghang. Das war noch genauso beschwerlich wie letztes Mal, aber sie musste hinauf. Sie hatte sehr wohl begriffen, dass Rime jeden Tag hierherkam, obwohl sie den Grund dafür nicht kannte.
Sie fand eine Stelle, an der sie sich einen Augenblick lang ausruhen konnte, und beneidete Kuro, der ungehindert am blauen Himmel herumsegelte. Sie wäre gern nach Lust und Laune geflogen, wohin sie wollte. Kein Klettern mehr, kein Ritual und keine Leute, denen gegenüber sie sich verhalten musste. Und keinen interessierte es, wer sie war. Aber Hirka war an die Erde gefesselt, ob sie wollte oder nicht. Sie musste sich an die Gesetze anderer halten, an Gesetze, die nicht für solche wie sie gemacht waren.
Der Wind kühlte ihre verschwitzte Stirn. Jetzt war es nicht mehr weit. Als sie sich dem Gipfel näherte, verpasste sie den Steinen bewusst einen Tritt, damit sie fortrollten und Lärm machten. Rime war schon wütend genug, da musste sie sich nicht auch noch an ihn heranschleichen. Sie reckte den Kopf über die gezackte Kante. Rime sah alles andere als überrascht aus. Er saß im Schneidersitz auf einem Stein und schaute sie direkt an. Sie hievte sich über die Kante, bevor der Mut sie verlassen konnte, und ließ sich ein Stück von ihm entfernt ins Gras fallen. Sie hatte diesen Augenblick in Gedanken geprobt, doch nun brachte sie es nicht fertig, den Anfang zu machen. Sie war keine Glücksjägerin, wusste aber plötzlich, dass es dumm klingen würde, das laut auszusprechen.
Sie sah, wie seine Brust sich langsam hob, als hole er Luft, um etwas zu sagen oder vielleicht zu rufen?
»Ich komme nicht an die Erde heran«, sagte sie, bevor er etwas sagen konnte.
Na also! Jetzt war es heraus und schon bereute sie es. Sie wandte den Blick von seinem Gesicht ab, um nicht bestätigt zu sehen, wie albern ihre Worte waren. Was dachte sie sich dabei? Rime war dem Rat so nahe, wie man nur sein konnte! Sie hätte das genauso gut gleich dem Seher sagen können. Er reagierte nicht und sie schaute wieder zu ihm. Er stand auf und ging ein paar Schritte auf sie zu, die Augen schmal vor Zweifel.
»Alle kommen an die Erde heran«, sagte er. Seine leicht heisere Stimme schwebte irgendwo zwischen Frage und Feststellung.
»Ich lüge nicht.«
Sein Gesicht wurde sanfter und er legte den Kopf schräg, wie er es immer tat, wenn er nicht richtig schlau aus ihr wurde. Sie verschränkte die Arme, bis ihr einfiel, dass es wohl ein Zeichen für Schutzbedürftigkeit war, darum ließ sie sie schnell wieder fallen. Sie wollte nicht zeigen, dass sie etwas zu verbergen hatte.
»Ich habe letztes Mal versucht, es zu erklären«, sagte sie, »aber ich hätte genauso gut mit einem Mühlstein reden können!«
Er lächelte sein breites und vertrautes Lächeln, das ihr den Boden unter den Füßen wegzog. Hirka spürte, wie die Wahrheit ihr wie eine Lawine auf den Rücken drückte. Sie war das Einzige, was zwischen der Lawine und Rime stand, und es wäre so unendlich schön gewesen, alles rauszulassen. Es ihn wissen und mit dem Wissen machen zu lassen, was er wollte. Er kam auf sie zu. Sie wich einen Schritt zurück und stolperte. Er packte sie, ehe sie hinfiel.
»Versuch es!«, sagte er.
Konnte er ihre Gedanken lesen? »Was versuchen?«
»Versuch, zu umarmen.«
»Das habe ich öfter versucht, als du Knochen im Leib hast! Ich kann es nicht!«
»Bist du …«
»Ja, ich bin sicher. Ich bin erdblind, Rime.«
Rime trat ein paar Schritte zurück und betrachtete sie. Er gab ein kurzes »Hm« von sich, was dazu führte, dass sie sich wie eine der Rechenaufgaben vorkam, die Vater mit ihr geübt hatte, als sie noch kleiner war. Ein lösbares, aber nicht besonders fesselndes Mysterium. Sie bekam feuchte Hände. Was, wenn Rime diese Rechenaufgabe löste? Was, wenn ihm klar wurde, warum sie nicht umarmen konnte?
»Was passiert, wenn du es versuchst?« Er klang aufrichtig interessiert, aber sie konnte ihm keine Antwort darauf geben.
»Nichts.«
»Und was genau machst du?« Er zuckte die Schultern. »Versuchst du, dich ihr entgegenzustrecken oder sie zu dir hochzuziehen?« Wovon redete er da? Sie antwortete nicht, darum fragte er wieder: »Wenn du umarmen willst, Hirka, was machst du dann?«
»Ich … versuche mich der Erde entgegenzustrecken.«
Er lächelte wieder. Hatte er die Rechenaufgabe schon gelöst? »Es ist besser, die Gabe zu dir hochzuziehen, nicht umgekehrt. Setz dich.« Er setzte sich mit gekreuzten Beinen hin und schaute sie an. Sie machte es ihm nach. Er schien jetzt fast eifrig bei der Sache zu sein. »Dränge dich der Gabe nicht auf. Lass sie dich füllen.«
Hirka versuchte es. Jedenfalls tat sie so, als versuchte sie es, weil sie keine Ahnung hatte, was sie fühlen sollte. Sie fühlte, dass sie auf einem unebenen Stein saß, dass sie Rimes Duft roch. Es dämmerte ihr allmählich, dass er ihr auch nicht helfen konnte. Sie war, wie sie war. Vielleicht setzte sie sein Leben aufs Spiel allein durch ihre Anwesenheit hier. Wie viel brauchte es, um die Fäulnis zu kriegen?
Altweibergewäsch! So was gab es nicht. Sie hatte noch nie jemanden verfaulen sehen und sie hatte Leute zusammengeflickt, seit sie klein war. Sie hatte offene Wunden behandelt, jene umarmt, die aus Angst geweint hatten, Neugeborene hochgehoben, die noch immer nass vom Blut waren.
Aber sie hatte noch nie jemanden geküsst …
Rime beugte sich vor. »Na?«
Hirka wich vor ihm zurück. »Nichts.«
»Du versuchst es nicht richtig, Hirka.«
»Ich fühle nichts!«, rief sie. »Darum bin ich hier!«
Sie starrte zu Boden. Der Wind wisperte zwischen den moosbedeckten Steinen in der alten Burgruine. Sie hörte, dass Rime aufstand. Er ging vor ihr in die Hocke. Sie spürte ihren Puls im ganzen Körper schlagen. Unruhe drohte zu Panik anzuwachsen. Er durfte es nicht wissen! Sie würde seinen Blick nicht ertragen können, wenn er es erfuhr. Sie schluckte.
»Ich meine … Ich fühle die Gabe, aber ich erreiche sie nicht.«
Die Lüge schmeckte bitter und die Zunge fühlte sich geschwollen an wie von einem Bienenstich. Sie saßen eine Weile still da.
»Die Gabe sticht, das weiß ich«, sagte er. »Einige glauben, es tut weh, sie zu ergreifen. Liegt es daran?«
»Ja«, antwortete sie. Was hätte sie sonst sagen sollen?
Rime erhob sich wieder. Hirka schaute hoch. Die Sonne blendete sie. Rime war eine Kontur aus Licht, die vor ihr aufragte.
»Die Gabe tut nicht weh«, sagte er.
Hirka glühten die Wangen. Sie hörte, dass er wegging. Seine Schritte entfernten sich den Berg hinunter. Er hatte sie hereingelegt.
Das war gemein. Sie versuchte, wütend zu werden, es gelang ihr aber nicht. Er hatte das Recht auf seiner Seite. Sie hatte gesagt, sie lüge nicht, und es dennoch getan. Was würde jetzt passieren? Würde er alles durchschauen?
Bruchstücke einer alten Volksweise stiegen in ihrer Erinnerung auf. Sie handelte von einem Mädchen, das sich mit einem Emblaspross eingelassen hatte. Das Lied hatte viele Strophen, in denen der Schwanzlose darum bettelte, mit ihr schlafen zu dürfen, aber jedes Mal sagte das Mädchen Nein. Bis auf die letzte Strophe, in der sie nicht mehr anders konnte und Ja sagte. Sie verfaulte im Wald wie ein Baumstumpf, ausgehöhlt, nicht mehr wiederzuerkennen.
Das ist nur ein dummes Lied!
Aber nichts war mehr ›nur‹. Hirka hatte in ihrem Leben genügend Krankheiten gesehen und die Fäulnis war darum allzu leicht vorstellbar. Zum ersten Mal wurde ihr das ganze Ausmaß dessen bewusst, was sie war. Was es ihr nahm. Es war etwas, was sie nie besessen hatte, und dennoch tat es so weh. Sie fasste sich an die Brust und fühlte die Form des Wolfszahns in ihrer Hand. Er war eine Lüge, mit der sie aufgewachsen war. Sie ließ ihn wieder los.
Ihre Finger bohrten sich in den Boden, in die Erde, die sie hasste, die sie von sich wegschob. Sie riss eine Handvoll davon heraus und warf sie an die Felswand.
»Wenn du mich nicht willst, dann will ich dich auch nicht! Hörst du das?«
Kuro landete vor ihr auf dem Boden, kam näher und legte den Schnabel auf ihren Schenkel.
»Kooor«, antwortete er.
»Ja. Hervorragend. Das löst alle meine Probleme«, sagte sie missmutig und vergrub die Finger wieder in der Erde.
»Kooor.«