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Erdblind

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Sie ist erdblind!

Rime sprang von dem Felsvorsprung in der Bergwand und umarmte sich abwärts. Jetzt war er stark genug, dass ihm ein Fall aus fünf Mannshöhen gelang. Und mit jedem Tag wurde er besser. Wenn er von der Gabe umschlossen war, schien es ihm, als federte sie ihn von der Erde ab, wenn er landete. Als sei die Luft wie Sirup. Es hatte ihn mehrere Beinbrüche gekostet, so weit zu kommen. Aber er würde noch besser werden. Er würde dafür sorgen, dass Schwarzfeuer stolz auf seinen Schüler war. Schwarzfeuer war der stärkste Umarmer, dem Rime je begegnet war. Er hatte gesehen, wie er über ein Gewässer ging, ohne nasse Füße zu bekommen. Er blieb den Raben nichts schuldig, wie die Alten immer sagten.

Aber Hirka. Sie hatte ihn belogen. Sie war erdblind und hatte das Gefühl gehabt, dass ihr nichts anderes übrig blieb als diese Lüge. Er hatte so etwas noch nie gehört. Kleine Kinder konnten erdblind sein und er hatte gehört, dass sehr Alte manchmal die Gabe verloren. Vielleicht Leute, die geisteskrank waren. Aber normale Leute …

Hirka hatte Rime drei Jahre Freiheit geschenkt. Drei Jahre voller halsbrecherischer Herausforderungen. Kostbare Zeit für ihn. Spiele für sie. Er hatte sich immer schon stark zu ihr hingezogen gefühlt. Manchmal so stark, dass er gespürt hatte, wenn sie draußen stand, noch ehe die Steinchen sein Fenster trafen. Jetzt war sie ein noch größeres Rätsel geworden. Hatten sie in den drei Jahren wirklich nie übers Umarmen gesprochen?

Nein. Warum sollten sie darüber gesprochen haben? Rime war mit der Gabe aufgewachsen. Sie war der Fluch, der ihn zu dem machte, der er war. Jetzt begriff er, dass sie dem Thema genauso gründlich aus dem Weg gegangen war wie er. Rime spürte einen Anflug von Enttäuschung, dass ihm nicht eher aufgefallen war, dass etwas nicht stimmte.

Er hatte schon immer ein Gespür für Zwischentöne, für das Unterschwellige gehabt. Ein gesegnetes Kind, das die Wahrheit in den Gesprächen der Leute auf den Korridoren heraushörte, in den Worten, die ungesagt blieben, den Blicken, die stumme Macht ausübten. Das war das Spiel, das eine ganze Welt regierte. Dann waren da noch Bücher in der Bibliothek, von denen er wusste, dass er sie nicht lesen durfte. Das rätselhafte Skriptorium seiner Großmutter, Rabenbriefe, deren Inhalt man erahnen konnte, wenn man sie gegen eine Öllampe oder eine Kerze hielt. Für vieles, was er damals gelernt hatte, war er noch zu jung gewesen, um den tieferen Sinn zu verstehen. Rime blickte wieder hoch zum Vargtind. Für vieles davon war er vielleicht nach wie vor zu jung, um den tieferen Sinn zu verstehen.

Er machte einen Abstecher ins Dorf. Die Sonne stand niedrig am Himmel und die Bäume warfen dunkle Schatten auf den Weg hinauf zum Haus. Er würde dieses Haus vermissen. Hier verlor er sich nicht in den Räumen. Sie waren für Leute, nicht für Riesen gebaut. Im Haus in Mannfalla war er zwar geboren und aufgewachsen, aber es war für ihn nie ein Zuhause gewesen. Dort standen die Wände einfach zu weit auseinander. Das Haus An-Elderin war großartig und er schätzte dessen Schönheit und Geschichte. Doch das Haus in Elveroa ließ ihn einen Platz ausfüllen.

Nur ein anderer Ort auf der Welt vermittelte ihm dieses Gefühl. Dort gab es keine Paläste, bloß Bäume und Räume, die sich zum Gebirge hin öffneten. Dort gab es keine Möbel, abgesehen von einigen Bänken und Kissen. Und dort würde er – mit Schwarzfeuer und den anderen – bleiben und sein bisheriges Leben hinter sich lassen.

Rime betrat die Eingangshalle, die im Halbdunkel lag. Eine Öllampe auf dem Fußboden spendete Oda Licht, die auf einem Schemel stand und den Staub von den Bildern wischte. Die Hälfte der Gemälde stand an die Wand gelehnt, in Leinenstoff verpackt, zur Heimreise bereit. Oda verbeugte sich und lächelte ihn an.

»Són-Rime. Draußen, bevor die Sonne aufgeht, und drinnen, wenn sie sich schlafen legt?«

Er erwiderte das Lächeln und unterließ es, den Titel zu kommentieren. Ilume hatte keinerlei Zweifel daran gelassen, wie die Dienerschaft ihn anzusprechen hatte. Er machte ihnen nur das Leben schwer, wenn er protestierte.

»Es duftet nach Brot?« Er stellte plötzlich fest, dass er Hunger hatte.

Oda wollte vom Schemel steigen, doch Rime hielt sie davon ab.

»Nein, nein. Ich mache das selbst.«

Er ging in die Küche hinunter und aß eine Scheibe warmes Brot, während er darüber nachdachte, wie er das Gespräch mit Ilume angehen sollte. Er wollte wissen, warum Hirka nicht umarmen konnte. Er hatte nie gehört oder gelesen, dass jemand noch nicht einmal fühlte, wie der Strom der Gabe, der Strom des Lebens, in der Erde floss. Im Lauf der Zeit hatten viele Künstler lauthals darüber geklagt, dass sie die Gabe verloren hätten. Frang, der Maler von Kindern aus Ormanadas, hatte sich vor mehr als zweihundert Jahren von der Mauer in Eisvaldr gestürzt, angeblich, weil ihn die Gabe verlassen hatte. Rime glaubte das nicht. Der wahre Grund waren die Künstlerseelen, Dramen, zu viel Wein, das ja. Aber verschlossen für die Gabe? Nein.

Rime ließ die Gabe für einen Augenblick seinen Körper ausfüllen, wie um sich zu vergewissern, dass er es noch konnte. Wie leer musste einem doch die Welt vorkommen, wenn man dieses Gefühl nicht kannte. Wie sinnlos. Eine Welt ohne Lebenskraft. Ohne den Seher.

Er spülte das Brot mit Apfelsaft hinunter, dann ging er wieder hinauf und ins Skriptorium. Der Raum war jetzt kahl. Die Möbel und Teppiche waren schon auf dem Heimweg zum Gut in Mannfalla. Der Schreibtisch, ein dunkler Koloss aus Eiche, stand noch verwaist an seinem Platz. Ilume saß dort über einen Brief gebeugt.

Hinter ihr drang das Sonnenlicht durch die Glasmalerei, ein Bild des Sehers, der über ausgestreckten Händen schwebte. Braune Lichtflecke ruhten auf Ilumes weißem Gewand. Es sah beinahe schmutzig aus. Doch Rime wusste, sobald sie aufstand, würde sie wieder sauber sein. So war das mit Ilume. So war das mit den Räten. Sie trafen sich, sie entschieden täglich über das Schicksal der Leute und nach jeder Sitzung wuschen sie ihre Hände in großen Silberschalen. Immer rein. Würde sie sich auch diesmal rein erheben?

Ihr Dienst in Elveroa war urplötzlich beendet, nach sechs Jahren voller Verhandlungen, wie der Rat es nannte. Sechs Jahre, in denen man Ravnhov unter Druck gesetzt hatte. All diese Jahre in Elveroa und nun schlug Ravnhov auf die Schilde, munkelte von den Blinden und rügte den Rat. Die Lage war instabil, instabil genug, um Ilume zurückzurufen.

Rime war klar, dass Ilumes Widersacher ihr vorwerfen würden, versagt zu haben. Ravnhov war kein Teil von Mannfalla, aber genau das war das Ziel und Ilumes wichtigster Auftrag hier gewesen.

Rime trat einen Schritt weiter in den Raum hinein. Sie hob den Kopf und blickte ihn an. Er wartete, denn er wusste, dass Ilume eine Weile brauchte, bis sie zu einem Gespräch bereit war. Sie legte die Feder in eine weiße, beinerne Schale, setzte sich aufrecht hin und faltete die Hände. Würde dieses Gespräch womöglich leichter werden, als er gedacht hatte? Nach dem Abend auf Glimmeråsen war Ilumes offenkundiger Hass einer erschreckenden Gleichgültigkeit gewichen. Sie plante etwas. Rime spürte der Stimmung nach und überlegte, wie er beginnen sollte. Ilume belehrte ihn liebend gern darüber, wer er war. Das war der sicherste Weg, um Antwort zu bekommen.

»Wie stark war die Gabe bei Mutter?«

»Schwächer als bei dir.«

Eifrig griff Rime diesen Gesprächsfaden auf. »Woher weiß man, wie stark jemand ist?«

Ilume schaute ihn an. »Wer es wissen will, weiß es. Du weißt es doch auch.«

»Werden alle damit geboren?«

»Womit?«

Er begann, im Raum herumzugehen. Mit der Hand strich er über die Regale in den leeren Bücherschränken, die hierbleiben würden. Sie waren vollkommen staubfrei. Alle Wörter waren fort. Er versuchte, seine eigenen Worte zu finden. Hirka hatte ihn belogen, aber er wusste etwas über sie, was vermutlich niemand sonst wusste. Etwas, von dem er überzeugt war, dass er es nicht verraten durfte.

»Damit, dass sie die Erde genauso gut wie andere fühlen. Sind darin alle gleich?«

»Natürlich nicht. Jede Familie hat ihren Anteil an der Gabe, einige mehr als andere.«

Das wusste Rime schon, aber er ließ sie weitersprechen.

»Du hättest nicht Diener des Sehers werden können, wenn es dir nicht im Blut läge, Rime.«

»Aber wer hat das stärkste Blut?«

Ilume lachte. Rime fielen die Falten in ihrem Gesicht auf. Sie waren sonst fast nie zu sehen, nur wenn sie lachte. Er wünschte, sie würde mehr lachen.

»Wenn du die Familie Taid fragst, werden sie mit ›Wir‹ antworten! Und wenn du die Familie Jakinnin fragst, dann werden sie genau dasselbe sagen.«

Rime merkte, dass er ungeduldig wurde. Er kam so nicht weiter. »Taucht nie jemand auf, der viel stärker … oder viel schwächer ist … als andere?«

Ilumes Lächeln erlosch und sie zog eine schmale Augenbraue hoch. »Hast du jemanden getroffen, der stärker ist als du?«

Das war nicht der Fall, deshalb fiel es ihm nicht schwer, dem Blick der alten Frau standzuhalten.

»Nein.«

Sie ließ ihn nicht aus den Augen.

»Aber vielleicht könnte es jemand werden, der während des Rituals ausgewählt wird«, versuchte er es.

Ilume seufzte und legte die Hände auf die Armlehnen. »Das Ritual ist nicht mehr das, was es einmal war. Wenige fühlen die Erde noch so, wie wir alle es immer getan haben. Die Gabe dünnt sich aus. Ebbe und Flut sind bald dasselbe. Ein sprudelnder Bach, der mit den Jahren austrocknet.« Ilumes Stimme war beinahe sanft. Sie schaute aus dem Fenster. »Wer weiß, wie lange die Gabe noch währt? Wer weiß, ob es sie schon immer gegeben hat oder ob sie nur noch durch uns durchfließt, um dann zu versiegen? Kostbar und selten oder ewig und im Überfluss. Haben wir zu viel getrunken oder füllt sich das Glas dadurch, dass wir trinken? Wenn wir uns falsch entscheiden, berauben wir die Welt.« Sie schaute Rime wieder an.

»Aber jemand muss uns weiterführen«, sagte sie und jetzt war die Sanftheit verschwunden. Rime spürte eine Unruhe im Körper.

»Bestraft uns der Seher?«

»Wir bestrafen uns selbst.«

Ilumes Blick schweifte durch den leeren Raum. Ihre Augenlider wurden schwer. Draußen verflüchtigte sich das letzte Licht. Die Farben starben und die Gestalt seiner Großmutter wurde in Halbdunkel gehüllt.

»Großmutter?«

Schnell stand Ilume auf und rollte die Papiere zusammen. »Großmutter kannst du zu mir sagen, wenn du es bereust. Wenn du dir über deinen Platz im Klaren bist und mir das Messer aus dem Rücken ziehst. Dann kannst du mich Großmutter nennen. Bereust du es?«

»Natürlich nicht. Ich diene dem Seher.«

Rime würde von ihr keine Antwort bekommen. Er war kein Familienmitglied mehr. Der Rat und das Schicksal des Volkes gingen ihn nichts mehr an. Ilume durfte gern ihre Geheimnisse für sich behalten. Rime hatte nicht den Wunsch, sie zu erfahren. Aber wenn man dem Rat sein Leben lang so nahegestanden hatte wie er, dann war es eine Qual, mit anzusehen, wie sie im Dunklen tappten. Er wusste, dass er es besser lassen sollte, aber er sprach es trotzdem aus.

»Wir geben alle unser Bestes. Ich habe für den Seher gekämpft. Und ich werde alles geben, wenn wir bedroht werden.«

Ilume hielt inne und Stille breitete sich im Raum aus. Sie sah aus, als wolle sie etwas sagen, habe es sich aber anders überlegt.

»Wenn wir jemals bedroht werden, dann ist das auch deine Aufgabe«, sagte sie. »Blind zu dienen, ohne zu wissen, ohne zu fragen.«

Rime schnappte die fast unmerkliche Betonung des letzten Wortes auf. Er nickte und verließ den Raum. Sie hatte sich beinahe zu der Frage verleiten lassen, woher er wissen konnte, dass Ymsland bedroht war.

Rime fühlte sich plötzlich alt. Vor nur ein paar Jahren wäre er vor Begeisterung, Ilume An-Elderin überraschen zu können, außer sich gewesen. Er war achtzehn Winter alt, sie ein Dreivierteljahrhundert und sie saß im Insringin, im inneren Zirkel des Rates. Und er hatte sie dazu gebracht, unfreiwillig Auskunft zu geben. Heute Abend beunruhigte ihn das nur. Er ging in die Bibliothek, doch dort gab es weder Stühle, auf denen er hätte Platz nehmen, noch Bücher, in denen er hätte lesen können. Die Räume waren leer. Es klopfte unten an der Tür und er hörte, wie Oda öffnete: Ramojas Stimme und Vetles. Er hörte Schritte die Treppe heraufkommen und sah Ramoja an der Tür zur Bibliothek vorbeihasten, gefolgt von Vetle.

»Ramoja?«

Sie steckte den Kopf zur Tür herein. Ihre Wangen glühten rot. »Rime. Kannst du …?« Sie schob Vetle ins Zimmer.

»Natürlich.«

Er begrüßte Vetle und Ramoja verschwand hinein zu Ilume. Offenbar hatte sie ein Anliegen, das keinen Aufschub duldete. Nichts duldete Aufschub in letzter Zeit. Und wenn etwas keinen Aufschub duldete, dann verließ man sich auf Ilume. Ramoja hatte sich in allen Belangen auf Ilume verlassen, seit Rimes Mutter gestorben war. Vetle setzte sich auf den Boden und Rime ließ sich neben ihm nieder. Der Junge spielte mit einer Steinfigur, die ein Mädchen darstellte. Sie war schön bis ins letzte Detail, aber der Schwanz war abgebrochen. Rime dachte an Hirka und lächelte. Hirka Schwanzlos, wie Kolgrim sie immer nannte.

Hirka Schwanzlos, die nicht umarmen konnte.

Rime spürte, wie sich ihm die Haare auf den Armen aufstellten.

Die Rabenringe - Odinskind

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