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Ein Gefallen

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Der Regen hatte Elveroa fest und feucht im Griff. Vater hatte vor Wetterfühligkeit beim Frühstück geknurrt. Für Hirka spielte es keine Rolle, ob es trocken oder nass war. Sie hatte sich einen neuen Plan überlegt. Es war zwar kein besonders guter Plan, aber es war der einzige, den sie hatte.

Sie folgte dem Pfad entlang der Alldjup-Schlucht, während sie der Gedanke daran quälte, was am Vortag alles schiefgelaufen war. Rime hatte unnahbar wie ein Götterbildnis vor den dunklen Felsen auf dem Vargtind dagestanden. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten. Vergeblich. Hirka umfasste den Griff des Korbs fester, den sie bei sich trug, doch das konnte die Erinnerung an seine kalten Augen, an den schiefen Zug um seinen Mund nicht vertreiben, als er glaubte, sie wolle sich bei ihm einschmeicheln, damit er ihr half, ausgewählt zu werden. Als sei sie eine Glücksjägerin. Ihr zog sich der Magen zusammen, wenn sie daran dachte. Der Regen trommelte hohl auf ihren Umhang und sie zog die Kapuze tiefer ins Gesicht. Ihr Rand bildete einen Rahmen um den schmalen Pfad zwischen den Bäumen.

Rime war so ein Dummkopf! Kannten sie sich denn nicht, seit sie neun Winter alt war? Wie oft hatte sie ihm nicht schon geholfen, idiotensichere Erklärungen für zerrissene Hosenknie zu finden? Oder für Abschürfungen? Er hatte ihr leidgetan, weil er sich abends aus dem Haus schleichen musste, damit er das tun konnte, was für sie selbstverständlich war. Sie hatte es nie interessiert, dass er von blauem Geblüt war. Sein Name und seine Geschichte waren ihr herzlich egal. Und auf den Reichtum seiner Familie pfiff sie – der war so groß, dass sie sein Ausmaß ohnehin nicht erfassen konnte. Dass sich Leute, wie die auf Glimmeråsen, etwas darauf einbildeten, aus einer Ratsfamilie zu stammen, war deren Sache. Hirka hatte nicht den Wunsch, Korridorwanderin in Eisvaldr zu werden. Im Gegenteil. Und wenn ihr nun vorgeworfen wurde, sie habe versucht, ihn auszunutzen? Dummes Zeug!

Hirka beschleunigte ihre Schritte. Der Pfad verlief über ein Moor und es gurgelte unter ihren Füßen. Sie würde die Schuhe abschrubben müssen, wenn sie wieder zu Hause war. Sie waren nasser und schmutziger als dieser aufdringliche Rabe. Sie hatte ihm inzwischen den Namen Kuro gegeben. Er flog von einem Baum zum anderen, immer ein Stück vor ihr, und suchte Schutz im Blätterdach, während er auf sie wartete. Er war wie ein glänzender Schatten, immer in ihrer Nähe, aber außer Reichweite.

Hirka seufzte. Das Schlimmste war, dass sie Rime keinen Vorwurf machen konnte. Sie hatte gesehen, wie sich Kaisa auf Glimmeråsen an Ilume festgesaugt hatte wie ein Blutegel. Und Rime hatte selbst gesagt, dass Sylja ihn um Hilfe gebeten hatte. Was zum Draumheim wollte sie von Rime, ausgerechnet sie, die schon alles hatte?

Sie hörte Syljas Lachen wie ein Echo in den Gedanken. Mannfalla, Hirka! Perlende Weine, Kleider aus Seide und blaublütige Burschen, die die ganze Nacht tanzen wollen! Hirka knirschte mit den Zähnen. Sie hatte Rime nie tanzen gesehen. Zum Glück. Nicht dass es von Bedeutung war. Warum sollte es auch?

Das Trommeln der Tropfen auf ihre Kapuze ließ nach. Endlich hatte es aufgehört zu regnen. Der Pfad öffnete sich zu einer Lichtung, zu den gedämpften Gesprächen von Hunderten von Raben. Vor ihr stand das turmähnliche Holzhaus, in dem Ramoja und Vetle wohnten. Sie strich die Regentropfen von dem Lederstück, das sie zum Schutz über den Korb gelegt hatte. Dieser und auch sein Inhalt hatten den Regen unbeschadet überstanden. Heute hatte sie die Möglichkeit, einige Leute froh zu machen. Und wenn sie Glück hatte, dann würde sie von Ramoja Hilfe bekommen. Hilfe, die sie wohlbehalten durchs Ritual brachte. Hirka war nervöser, als sie gedacht hatte.

Zwischen den Bäumen konnte sie das Flechtwerk erkennen, an dessen Errichtung Vater beteiligt gewesen war. Für den Bau der Rabnerei hatten drei Mann einen ganzen Sommer gebraucht. Es schimmerte schwarz. Die Raben saßen unbeweglich wie düstere Früchte in den Bäumen. Ein optimistischer Fink versuchte sich an einer Huldigung der Sonne, wurde aber vom heiseren »Kraa« eines Raben unterbrochen. Er unternahm keine weiteren Versuche mehr.

Hirka erreichte das Haus und hob die Hand, um anzuklopfen. Im selben Augenblick wurde die Tür geöffnet und Ramojas braunes, lächelndes Gesicht erschien. »Ich will die Raben füttern. Komm mit.«

Ramoja ging an Hirka vorbei nach draußen, in der Hand einen Kübel, der nach Blut roch. Hirka folgte ihr in eine kleine Vorkammer, die vom Rest des Käfigs abgetrennt war. Die Raben wussten, was gleich kam. Sie begannen hin und her zu flattern und die Plätze zu tauschen, um näher heranzukommen, doch die Gitterstäbe verhinderten, dass sie Ramojas Kübel mit dem rohen Fleisch und den Essensresten erreichten.

Zwei Raben saßen allein auf einer Stange in der Vorkammer. Regennass und glänzend. Ihr Federkleid schillerte in Blau- und Lilatönen. Ramoja stellte den Kübel auf dem Boden ab und ging zu ihnen. Sie lehnten sich geschickt zur Seite, damit sie besser an sie herankam. Mit flinken Fingern löste Ramoja zwei Briefhülsen. Sie waren an beiden Enden gewachst, um den Inhalt vor Nässe zu schützen. Sie steckte sie in die Tasche, ohne sie zu öffnen. Die ganze Zeit flüsterte sie beruhigend auf die Raben ein. Hirka hörte aufmerksam zu. Der Klang war fremd, voller R und langen O. Ramoja redete mit den Raben wie mit Kindern und genau das war der Grund, warum Hirka hergekommen war. Das hier war der Plan und sie spürte, dass der günstige Augenblick bevorstand.

Ramoja sorgte dafür, dass der vordere Rabe sich auf ihren Arm setzte. Er hatte nicht genug Platz, um die Flügel vollends auszubreiten, versuchte aber dennoch, den Regen abzuschütteln. Der beeindruckende Schnabel wurde zu einem lautlosen Gähnen geöffnet, als wolle der Vogel nur dessen Kraft demonstrieren, sich zur Schau stellen.

Hirka merkte, wie sie Gänsehaut bekam. Wenn dieses vollkommene Wesen ein normaler Rabe war, wie sah dann der Seher aus? War Er größer, böser? Hirka sah vor ihrem inneren Auge einen Saal mit Männern und Frauen des Rates. Sie selbst saß auf der Anklagebank und starrte den schwarzen Vogel auf dem Stab der Rabenträgerin an. Der Rabe wuchs und wuchs. Er schlug mit den riesigen Schwingen, die schnell den ganzen Raum einnahmen, während er den Schnabel öffnete, um Hirka anzuschreien.

»Er mag dich heute«, sagte Ramoja.

Hirka zuckte zusammen. Der Rabe setzte sich besser zurecht und blinzelte zufrieden mit blanken Augen. Eine bessere Gelegenheit als diese würde sie nicht bekommen. Es galt jetzt oder nie.

»Woher weißt du das? Verstehst du alles, was er sagt?«, fragte Hirka und fand, dass ihre Stimme etwas seltsam klang. »Er versteht mehr als ich«, antwortete Ramoja und zwinkerte ihr zu, aber Hirka hielt das nicht für einen Scherz.

Ramoja öffnete das Gitter zu den anderen Vögeln und sagte ein paar unverständliche Worte. Die beiden Raben erhoben sich und flogen hinein. Aufgeregtes Krächzen war von drinnen zu hören und Hirka lauschte. Vielleicht konnte sie etwas von dem verstehen, was gesagt wurde? Aber sie begriff nichts.

Ramoja nahm den Kübel und ging hinein. Die Raben verhielten sich ruhig, während sie in der Mitte des Käfigs herumging und das Futter in eine Rinne schüttete. Die Vögel reihten sich an der Rinne auf und fraßen. Hirka war von ihnen umgeben. Es roch nach Erde, Blut und Regen. Plötzlich wurde ihr flau. Sie hatte aus schierer Verzweiflung die Rabnerei aufgesucht. Als ob die Raben oder Ramoja ihr sagen könnten, was sie tun musste. Heute Morgen hatte sie das für den letzten Ausweg gehalten. Jetzt, da sie hier war, kam es ihr nur noch lächerlich vor.

Sie hatte nicht die Gabe, um mit den Raben zu sprechen, und sie hatte auch kein ganzes Leben mehr vor sich, um das zu lernen. Und selbst wenn sie es gehabt hätte, würde es ihr wohl kaum helfen, wenn sie dem Seher Auge in Auge gegenüberstand. Doch in gewisser Hinsicht tat sie das ja schon. Das hier waren die Kinder des Sehers, die Augen der Welt. Vielleicht wussten sie schon über sie Bescheid? Vielleicht wussten sie es, taten aber nichts. Und bedeutete das vielleicht, dass keine Gefahr bestand?

Hirka klammerte sich an den Gedanken. Die Raben wären bestimmt mit Schnäbeln und Klauen auf sie losgegangen, wenn sie der Meinung gewesen wären, sie sei etwas Verdorbenes, das den Tod verdiente?

»Ich habe mich darauf gefreut, mich bei dir zu bedanken«, sagte Ramoja.

»Wofür denn?« Der Kübel war leer und Hirka ging mit ihr aus dem Käfig hinaus zu Vetle, der aus dem Haus gerannt kam. Er fiel Hirka um den Hals und umarmte sie so fest, dass man begriff, mit ihm war etwas nicht ganz in Ordnung. Zum ersten Mal hatte Hirka Angst vor Nähe. Sie war heute nicht mehr die Gleiche wie an dem Tag, als sie Vetle zuletzt gesehen hatte. Was, wenn er ihr zu nahekam? Was, wenn ihm plötzlich einfiel, sie zu küssen? Würde er dann verfaulen? Hirka wurde von Trauer überwältigt. Das Gefühl, eine Tür aufgestoßen zu haben, die sich nicht wieder schließen ließ, machte ihr Angst.

Denk nicht dran!

»Vetle, ich habe dir etwas mitgebracht«, sagte sie und der Junge ließ sie los. Hirka nahm das Stück Leder vom Korb und holte die Steinfigur heraus, die Hlosnian ihr geschenkt hatte.

»Jomar!«, rief Vetle und drückte sie an die Brust.

»Das ist nicht Jomar«, lachte Hirka. »Jomar war doch ein Pferd. Das hier ist eine Frau.« Vetle schaute seine Mutter an und lächelte glücklich. »Jomar!«

Hirka holte einen Leinenbeutel aus dem Korb und gab ihn Ramoja. »Das ist für dich. Vater hat Zimt auf dem Schiff aus Brekka gekauft, das neulich hier war. Der private Vorrat des Kapitäns.« Dass er ihn vermutlich gegen Opia eingetauscht hatte, ließ sie unerwähnt.

Ramoja knotete das Band um den Beutel auf und atmete den Duft von zu Hause tief ein. Ein seliges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus und sie deutete auf eine Holzbank, bevor sie ins Haus verschwand. Hirka setzte sich auf die Bank und schaute Vetle zu, wie er im Gras mit dem neuen Jomar spielte. Er hatte nasse Knie und Ellbogen. Hin und wieder schaffte es ein Sonnenstrahl, die Wolkendecke zu durchdringen, und verwandelte Vetles Haar in schimmerndes Gold. Doch es dauerte nur einen kurzen Augenblick lang, bis alles wieder farblos wurde.

»Du hast ihm aus der Alldjup-Schlucht geholfen, habe ich gehört.«

Ramoja reichte Hirka eine kleine Schale, aber ihr Blick ruhte auf Vetle. Hirka fühlte, wie sie warme Wangen bekam. »Er ist besser klargekommen als ich«, antwortete sie und trank einen Schluck Tee, während sie nach einem Grund suchte, der ihren Besuch hier erklärte.

»Ich weiß, was du für ihn getan hast, Hirka. Rime hat mir erzählt, was passiert ist.« Rimes Name durchfuhr Hirka wie ein kalter Hauch.

Er hält mich für eine Glücksjägerin.

Der Tee schmeckte plötzlich süß und schal. Hirka guckte Ramoja vorsichtig an. Sie war auch eine Dienerin des Rates. Eine Rabnerin. Aber auf Ramojas Brust war kein Rabe eingestickt. Und sie trug auch nicht die schweren Gewänder des Rates. Ramoja war in Grün und Braun gekleidet, und die Stoffe waren dünn und lebendig. Sie trug Armreife und Schmuck, der klirrte, wenn sie sich bewegte. Das schwarze Haar war zu Hunderten von Zöpfchen geflochten, die mit bunten Perlen zusammengehalten wurden. Ramoja war alles, was Hirka nicht mit dem Rat in Verbindung brachte. Ramoja war dunkel und voller Farben, Wärme und Düfte. Sie war anders. Und dennoch war sie ein Teil des Rates. Stand ihm allzu nah.

Ich hätte nicht herkommen sollen.

Hirka stand auf, war aber sofort von schwarzen Flügeln und lautem Gekrächze umgeben. Ein Rabe! Sie wurde angegriffen! Sie wedelte einen Augenblick lang wild mit den Armen, bis ihr klar wurde, dass der Rabe nicht darauf aus war, ihr zu schaden. Er versuchte, sich auf ihre Schulter zu setzen. Und der Rabe war ihr auch nicht fremd. Es war Kuro.

Er hatte sich vorher noch nie auf sie gesetzt. Er war unbeholfen und sein Gewicht lastete schwer auf ihrer Schulter. Die Klauen waren deutlich durch den Umhang zu spüren, aber sie wollte ihn nicht wegjagen. Ramojas Mandelaugen starrten sie an, als habe Hirka sich Flügel zugelegt. Hirka hatte das Gefühl, dass sie ihr eine Erklärung schuldig war.

»Er verfolgt mich schon seit ein paar Tagen. Ich … ich habe ihm einmal Käse gegeben, an der Alldjup-Schlucht, und seitdem ist er immer in meiner Nähe. Ich nenne ihn Kuro.«

Die meisten von Ramojas Raben wirkten mächtiger und würdevoller als Kuro. Hirkas neuem Freund standen ein paar Federn vom Kopf ab und er guckte sich wie ein neugieriges Kind um. Ramoja streckte die Hand aus und kraulte den geselligen Vogel unter dem Schnabel.

»Es kommt vor, dass wilde Jungraben sich nach Gesellschaft sehnen und sich rund um die Rabnerei aufhalten. Aber normalerweise mögen sie Leute nicht …«

»Ich gehöre doch auch zu den Leuten!« Hirka biss sich auf die Lippe.

Ramoja schaute sie mit durchdringendem Blick an. »Aber er ist trotzdem zu dir gekommen?«

Hirka zuckte die Schultern. Sie suchte nach Worten, die sie so normal wie möglich klingen ließen, ihr fiel aber nichts ein.

»Ein paar Dinge solltest du wissen«, sagte Ramoja.

Sie setzten sich wieder hin und es hagelte Ratschläge. Der Rabe war wild und durfte nicht im Haus schlafen, es sei denn, man ließ die Fenster offen und sorgte für gute Lüftung. Der Vogel sollte nicht gefüttert werden, wenn der Schnee geschmolzen war. Fetter Käse und Honigbrot waren kein Futter und so weiter. Hirka nutzte die unerwartete Gelegenheit. Sie wäre nie darauf gekommen, Kuro als Vorwand zu nehmen!

»Kann ich mit ihm sprechen?«, fragte sie.

Ramoja schaute Hirka eine Weile an, bevor sie antwortete. »Die Leute, die tatsächlich mit Raben sprechen können, kannst du an den Fingern einer Hand abzählen. Es gibt welche, die behaupten, dass sie diese Kunst beherrschen. Aber ganz gleich, ob das den Tatsachen entspricht oder nicht, haben sie sich alle in den Rabenschulen des Rates oder auf Ravnhov viele Jahre abgeschuftet.«

Hirka ließ den Kopf hängen. Sie bat um das Unmögliche und sie bat um etwas, das zu wissen sie kein Recht hatte. Die besten Rabner brauchten noch nicht einmal Briefe zu verschicken. Sie konnten den Raben erzählen, was sie mitzuteilen hatten. Und die trugen ihre Worte weiter, wenn sie beim Empfänger ankamen. Um das zu können, musste man mit der Gabe eins sein.

Man muss auf jeden Fall umarmen können.

Ramoja stand von der Bank auf und ging auf die Wiese. Sie starrte zum Himmel hoch und nach einem kurzen Moment konnte Hirka sehen, wie aus einem schwarzen Punkt langsam ein Rabe wurde. Er flog in die Vorkammer des Käfigs gleich hinter ihnen und hatte sich kaum hingesetzt, als Ramoja schon bei ihm war, um ihn von der Briefhülse zu befreien.

Hirka spürte, wie es ihr schwer ums Herz wurde. Der Besuch war vorüber. Zwischen den Gitterstäben des Käfigs sah sie die Rabnerin, wie sie auf die kleine Hülse starrte, die sie dem Raben abgenommen hatte. Sie öffnete sie an einem Ende, zog ein Stück Papier heraus und begann zu lesen.

Dann fiel sie zu Boden.

Hirka warf die Teeschale weg und lief zu Ramoja. Kuro flog von ihrer Schulter auf und verschwand. Ramoja hatte sich am Gitter hochgezogen und war wieder auf die Beine gekommen. Sie sah blasser aus und ihre Augen flackerten umher, als sei sie nicht ganz sicher, wo sie war.

»Was ist los, Ramoja? Bist du krank? Hast du Schmerzen in der Brust?« Hirka befürchtete das Schlimmste. Sie legte Ramoja die Hand auf die Schulter und versuchte, ihren Blick einzufangen. Ramoja ballte die Hand, das Briefchen wurde zerknüllt und verschwand in ihrer Faust.

»Alles in Ordnung, Ramoja?«

»Hirka … Ja. Keine Sorge. Nur schlechte Nachrichten. Ein alter Freund.« Ihre Mundwinkel fielen nach unten und enthüllten die Lüge. Hirka sah gerade noch das Zeichen des Rates auf der weißen Hülse, bevor Ramoja sie in die Tasche steckte. Vetle kam in den Käfig gelaufen.

»Ich habe Hunger!«, rief er, ohne etwas von der angespannten Stimmung mitzubekommen. Hirka legte die Hand auf Vetles Bauch, als sei er ein kleines Kind, obwohl er fast genauso alt war wie sie.

»Bald gibt es was zu essen. Lauf nur rein und reib den Bauch mit den Händen, damit du ihn aufwärmst.« Vetle lachte und lief ins Haus. Hirka konzentrierte sich wieder auf Ramoja. Sie hatte sich gefasst, aber ihre Pupillen waren klein wie Stecknadelköpfe. Sie ließ sich von Hirka aus dem Käfig führen und verschloss ihn.

»Hedra und Hreidr«, sagte sie. »Hedra und Hreidr. Hierher und nach Hause.«

Hirka blieb noch stehen und schaute Ramoja nach, die zum Haus ging. Wenn sie nun den Verstand verloren hatte? Vielleicht war es das Beste, Vater zu holen. Da fiel Hirka ein, dass es nicht mehr so leicht wie früher war, Vater zu holen. Jetzt mussten die Leute stattdessen zu ihm kommen. Die Rabnerin blieb stehen und drehte sich wieder zu Hirka um.

»Er ist nicht abgerichtet, darum ist es möglich, dass er nie auf dich hören wird. Aber wenn doch, dann musst du mit etwas Verwirrung rechnen, bis er begreift, wo er zu Hause ist.« Sie ging weiter, drehte sich jedoch abermals um. »Und du? Das bleibt unter uns.« Ramoja ging ins Haus und schloss die Tür.

Hirka merkte, wie ihr Lächeln immer breiter wurde. Rabensprache! Ramoja hatte ihr die Rabensprache beigebracht! Zwei Wörter. Hirka wiederholte die Worte im Kopf, während sie den Pfad entlangging. Kuro flog hoch über den Tannenwipfeln, folgte ihr aber weiterhin.

»Hedra!«, rief Hirka und schaute sich nervös um, aus Angst, jemand könnte sie hören. Aber sie war allein auf dem Pfad. Kuro kam nicht. Er saß in einem Tannenwipfel und reckte den Hals.

»Hedra!«, versuchte sie es wieder, aber ohne Erfolg. Sie wiederholte das Wort mehrmals, aber Kuro ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie hätte fast schwören können, dass er lachte. Ramoja hatte recht. Das hier würde mehrere Jahre brauchen. Kuro konnte vielleicht ein Freund werden. Aber er konnte ihr beim Ritual nicht helfen.

Das konnte niemand.

Die Rabenringe - Odinskind

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