Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 29

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Das Geständnis

Hirka wollte nicht aufstehen. Sie gab sich Mühe, nicht zu fühlen, dass sie einen Kloß im Bauch hatte. Rime war schon lange gegangen, doch sie hatte immer noch seine Stimme im Ohr. Die Gabe tut nicht weh …

Rime An-Elderin, Són-Rime. Vom Ratsgeschlecht. Er hatte versucht, ihr zu helfen, und jetzt lief sie Gefahr, wegen einer Notlüge aufzufliegen. Vielleicht hatte er es schon begriffen?

Auf dem Boden vor ihr trippelte Kuro umher und strengte sich an, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er hüpfte vor und zurück, verlor dann aber die Lust und flog seiner Wege. Die Dunkelheit legte sich über die Hochebene auf dem Vargtind. Die Sonne war untergegangen. Hirka wurde kalt.

Sie stand auf und trat an die Felskante, die die Hochebene umgab. Einige Felsen waren um ein Vielfaches größer als sie. Sie reckten sich scharf in die Luft, als glaubten sie, sie könnten eines Tages Löcher in den Himmel stechen. Der Wind versuchte sie zu erfassen, sie über die Kante zu locken. Doch Hirka hatte keine Angst vor der Kante oder vor der Höhe. Ihr war schwindlig, aber das hatte einen Grund: die Gewissheit, dass sie allein dastand.

Sie war ein Odinskind. Sie kam von woanders her und sie konnte nicht umarmen. Vater konnte ihr nicht mehr helfen. Das hatte er eigentlich nie gekonnt, seit sie geboren wurde.

Wo wurde ich geboren?

Und jetzt hatte sie den Einzigen vertrieben, der vielleicht etwas hätte machen können. Hirka schlang die Arme um sich. Sie hätte ihren Umhang mitnehmen sollen. Vater hatte recht. Manchmal dachte sie nur bis zum Ende ihrer Nasenspitze. Sie musste lernen, vorausschauend zu denken. Aber in ihrer Zukunft gab es nur eins.

Das Ritual.

Kurz hatte sie an ihren eigenen Plan geglaubt. Sie hatte geglaubt, sie würde lernen können, so wie die anderen zu werden, und unauffällig das Ritual durchlaufen. Aber sie hatte sich getäuscht. Vater hatte die ganze Zeit gewusst, dass das unmöglich war. Sie mussten fliehen und es gab nichts, was Hirka machen konnte. Sie würden fliehen, ein Leben ohne Rast und Ruhe führen, von einem Ort zum anderen ziehen.

Hirka fühlte eine Sehnsucht, die sie nicht erwartet hatte. So hatten sie doch einen Großteil ihres Lebens verbracht. Das war doch gar nicht so übel? Es war ein Leben wie die Raben im Wald, wie wilde Tiere, die niemandem trauten außer sich selbst. Das hätte ein gutes Leben sein können. Aber es war ungerecht! Warum sollte sie fliehen? Gejagt werden, als hätte sie etwas Unrechtes getan? Sie hatte es satt, sich zu verstecken. Sie hatte es satt, immer weiter von einem Ort zum nächsten zu ziehen. Sie hatte es satt, niemand anderen als nur Vater zu haben. Es musste eine andere Möglichkeit geben.

Hirka überquerte die Hochebene und machte sich an den Abstieg. Der Himmel war dunkelblau und die Sterne waren schon aufgegangen. Aus den Augenwinkeln sah sie Licht. Unten an der Landungsbrücke hatte man die Fackeln angezündet. Sie erkannte schemenhaft Leute, die Kisten hin und her schleppten. Dort lag wieder ein Handelsschiff mit Waren aus Kleiv oder vielleicht aus Kaupe. Hirka ging durch Elveroa und hinunter zu den Landungsbrücken. Die Buden, in denen fast täglich das Leben brodelte, waren zur Nacht zugesperrt. Die Tresen hatte man zusammengeklappt und die Waren eingeschlossen. Hirka hörte von der Landungsbrücke Gespräche. Sie hielt inne. Das gab ihr ein Instinkt ein, der so alt war wie sie. Warum hatte sie immer das Gefühl, dass sie sich an Leuten vorbeischleichen musste? Und je mehr es waren, umso schlimmer. Als könnte etwas Schreckliches geschehen, wenn sie sie sahen. Was dachte sie denn, was sie tun würden? Erkennen, was sie war, und sie verbrennen?

Sie ging weiter. Das Schiff dümpelte am Kai, als verschliefe es das Löschen und Laden. Mehrere Männer kletterten in den Masten und vertäuten die Segel. Starke Arme trugen Säcke und Holzkisten an Hirka vorbei in das Speicherhaus, auf dem Hirka einmal durchs Dach gebrochen war. Sie hütete sich, jemandem in die Quere zu kommen.

Die Leute waren unter dem Vorwand herbeigeströmt, dass sie mitanpacken wollten, aber hauptsächlich daran interessiert, den neuesten Klatsch und Tratsch zu hören. Syljas Mutter unterhielt sich mit einem der Männer. Sie zählte ihm Silberstücke in die Hand, sah aber nicht froh aus. Das tat sie nie, wenn es ans Bezahlen ging.

»Hirka!«

Syljas Stimme durchschnitt das Gemurmel.

»Komm mit!« Sie packte Hirka am Arm und zog sie mit sich hinter das nächste Speicherhaus.

»Was machst du h…«

»Schh!« Sylja lugte um die Ecke, schnellte aber wieder an die Wand zurück.

»Mutter schickt mich nach Hause, wenn sie dich sieht!«

Sylja schaute sie an und lächelte das breite Lächeln, das ganz Elveroa glauben ließ, sie sei gesegnet.

»Orm ist hier!«

Hirka erwiderte das Lächeln. »Wein-Orm? Bist du sicher?«

»Ja!«

Sylja spähte um die Ecke und drehte sich mit einem zufriedenen Gesicht wieder zu Hirka um. Ihre Mutter war weggegangen. Sie kamen aus ihrer Deckung und gingen an den Fackeln vorbei. Hirka spürte, wie die Wärme wieder in ihren Körper zurückkehrte. Einige Männer fragten, ob sie nicht zu so später Stunde im Bett liegen sollten, und lachten lauthals über den Scherz. Einer rief, seiner sei länger als der Schwanz. Sylja starrte ihn an und spielte die Schockierte.

»Da habe ich aber was anderes gehört«, antwortete Hirka, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Hirka entdeckte Orm und sie schlenderten wie beiläufig zu ihm hinüber. Er trug zwei Säcke auf dem Kopf. Das war für einen normalen Mann Schwerstarbeit, aber nicht für Orm, denn er hatte keinen Hals. Sein Kopf saß direkt auf den Schultern und er war breit wie zwei Mann. Sein Hemd war bestimmt einmal weiß gewesen, sah jetzt aber gelb aus. Hirka hoffte, dass das am Schein der Fackeln lag.

Er lachte, als er sie entdeckte.

»Ich habe mich schon gefragt, wo denn meine kleinen Damen wohl bleiben!« Er zwinkerte ihnen zu.

Sylja zierte sich und lächelte kokett. »Brauchst du Hilfe?«

Orm seufzte schwer. Hirka wusste, warum. Er würde von Syljas Mutter eine Menge Ärger einstecken müssen, wenn sie erfuhr, dass er junge Mädchen im Austausch gegen Wein mit anpacken ließ, aber wer konnte Sylja schon etwas abschlagen? Sie trugen ein paar Kisten mit Gewürzen, einige Mettwürste aus Smalé, zehn Paar Stiefel und eine Kiste mit Büchern an einen anderen Platz. Es war nicht viel Arbeit, aber ihre Belohnung bekamen sie trotzdem. Orm nahm sie zur Seite und gab ihnen eine grüne Flasche, die in seinen großen Händen fast verschwand. Er behauptete, das sei die beste Sorte von den Südhängen in Himlifall. Dann kniff er Sylja in die Wange und forderte sie auf, zu verschwinden, ehe er Probleme bekam.

Sylja knotete die Flasche an ihrem Gürtel fest, versteckte sie unter ihrem Rock und dann liefen sie, so schnell es die Flasche erlaubte, den kleinen Hügel zwischen den Landungsbrücken und dem Haus des Schmieds hinauf. Sie setzten sich lachend und außer Atem auf die ›Steinbank‹, eine Mulde im Fels, die Wind und Wasser im Lauf von Generationen ausgehöhlt hatten. Hirka schnitt mit ihrem Taschenmesser den Korken heraus und genehmigte sich einen Schluck, ehe sie die Flasche an Sylja weiterreichte. Der Geschmack von sonnenreifen Trauben breitete sich im Mund aus und Hirka schloss die Augen. Orm hatte nicht zu viel versprochen. Das hier war ein guter Wein. Der, den sie letztes Mal bekommen hatten, war so sauer gewesen, dass man ihn kaum trinken konnte, obwohl sie das nicht davon abgehalten hatte, die Flasche zu leeren.

Hirka lächelte, als sie spürte, wie sich die Wärme in ihrem Körper ausbreitete. Das hier war der Geschmack der Erde. Genau wie Tee. Damit komme ich dem Umarmen am nächsten.

Sie nahm noch einen Schluck, einen größeren als beim ersten Mal. Sylja kicherte schon und fantasierte von den Armen eines der Männer auf der Landungsbrücke.

Hirka schaute sie an. Sylja war eine Blume, sie selbst hingegen ein Stein. Die Stimme der Freundin klang wie Harfenmusik, wogegen Hirkas sich wie ein Waschbrett anhörte. Sylja knickste graziös, während Hirka heranrauschte, und wenn Hirka verschwitzt war, duftete Sylja nach Blumen. Kein Wunder, dass die Freundin immer ihren Willen durchsetzte.

Auch bei Rime?

Sie war bei ihm gewesen, mit demselben Lächeln und demselben Blumenduft. Hatte er ihr geholfen? Der Gedanke war für Hirka wie ein Druck im Magen, der sich weiter ausbreitete. Durch den Wein hatte die Schwermut freie Bahn und nun musste sie darunter leiden. Sie konnte sich die Frage nicht verkneifen:

»Hast du mit Rime gesprochen, seit er …«

»Habe ich das nicht erzählt?!«, rief Sylja mit vor Skandal strahlenden Augen aus.

»Er hat vor ein paar Tagen bei uns zu Abend gegessen. Mutter war schockiert, dass Ilume nicht selbst gekommen ist, aber das machte nicht so viel. Rime sieht unglaublich gut aus!«

Hirka war noch nicht einmal in der Lage zu nicken. Sylja sprach hemmungslos weiter.

»Aber er ist sehr sonderbar und stur. Eigentlich ziemlich anstrengend, ich glaube nicht, dass ich mich für ihn interessieren könnte. Außerdem hat er mich den ganzen Abend mit seinen Augen verschlungen!«

Hirka spürte, wie sich ihr der Hals zuschnürte.

»Das war unglaublich peinlich, Hirka! Das hättest du mal sehen sollen!«

»Was hätte ich sehen sollen?«, hörte Hirka sich fragen. Warum bloß? Sie hatte nicht im Geringsten den Wunsch, die Antwort zu erfahren.

»Du weißt schon …« Sylja legte sich die Hand auf die runde Brust und lachte.

Hirka schluckte.

»Was ist mit dir los?« Sylja nahm Hirka die Flasche aus der Hand und schüttete den Rest in sich hinein. Hirka starrte aufs schwarze Meer. Segelte man nur weit genug, kam man nach Brott. Von Brott ging es dann nicht mehr weiter. Wie weit musste man reisen, um dort anzukommen, woher sie kam? Konnte man überhaupt dorthin fahren?

»Wir ziehen weiter.« Während sie das sagte, kamen ihr die Tränen. Sie wusste, dass es so war, doch es kam ihr vor, als sei es erst wahr geworden, als sie es laut aussprach.

»Häh?«, sagte Sylja verwirrt.

»Wir ziehen von hier weg.« Hirka zog die Knie an und machte sich so klein sie konnte. Ihr schnürte sich der Hals zu und Tränen tropften auf ihre Hose. Hirka wusste nicht, warum sie ausgerechnet jetzt kamen. Sylja setzte sich gerade hin.

»Das kommt überhaupt nicht infrage!«

Hirka musste unter Tränen lachen. Das war so typisch für Sylja, dass sie sich die Wirklichkeit nach ihrem Willen zurechtbog. Sylja glaubte tatsächlich, nur weil sie es ihnen verbot, würden sie es auch nicht tun.

»Wir müssen.« Hirka wusste, dass das Gespräch gerade eine gefährliche Wendung nahm. Sie konnte die Fragen nicht beantworten, die kommen würden.

»Warum?«

Hirka versuchte aufzustehen. Sie musste hier weg. Sie konnte nicht bleiben. Sie war ein Odinskind. Und sie hatte Rime belogen. Aber die Beine gehorchten ihr nicht. Sie machte ein paar unsichere Schritte, fiel aber hin. Sie blieb auf der Seite liegen und schaute die leere Flasche an, die vor ihr lag. Sylja fragte wieder.

»Warum?«

Alles sah durch das Glas der Flasche grün aus.

»Das Ritual! Wir müssen wegen des Rituals wegziehen.«

»Wegfahren, meinst du wohl? Alle fahren zum Ritual. Warte, bis du meine neuen Schwanzringe gesehen hast, Hirka! Pures Gold und in Form von Schmetterlingen.« Sylja strahlte. Hirka wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schnodder ab.

»Nicht wegfahren. Wegziehen!«

Sylja sah aus, als habe sie endlich den Ernst der Worte begriffen. Sie legte sich auf die Seite und schaute Hirka an.

»Wann?«

»Ich weiß nicht.«

Hirka sah durch die leere Flasche, wie sich Syljas Gesicht veränderte. Es war jetzt grün. Die Nase war zu den Augen hochgezogen und der Mund ein halb offenes Grinsen. Sie sah aus, als habe sie angefangen zu verfaulen.

Die Rabenringe - Odinskind

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