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Eine Niederlage

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Die Sonne ging nie auf. Die Wolken hingen tief am Himmel über Elveroa und die Luft verhieß Regen. Hirka ging den Hügelkamm talwärts zum Streitwasser und versuchte, die Reste des Zwists mit ihrem Vater vom Vorabend loszuwerden.

Sie hatte von Hlosnian erzählt und davon, wie abhängig die Leute inzwischen von ihr und Vater waren. Was sollten die denn machen, wenn sie beide von hier fortzogen? Doch ihr Vater hatte nichts übrig für Leute, die sie wie Hunde behandelten, aber in der Dunkelheit zu ihnen kamen, weil sie Hilfe gegen Ausschlag auf dem Pimmel brauchten oder weil sie bis zur Besinnungslosigkeit Opia rauchen wollten.

Früher hatte er das auch schon gesagt, aber ohne so zu klingen, als habe er aufgegeben. Er hatte über Leute gelacht, die die Nase hoch trugen, dann aber inständig bettelten, wenn die Not wirklich groß war. Für die hatte er nur ein verächtliches Schnauben übriggehabt. Es hatte ihm nichts ausgemacht. Vielleicht, weil er wusste, dass sie jederzeit wieder weiterziehen konnten? Hoffte er vielleicht tief in seinem Inneren, dass am nächsten Ort alles besser werden würde? Dass sie einen Ort fanden, wo alles so war, wie es sein sollte?

Nach dem Unfall war alles anders geworden. Vater war an den Rollstuhl gefesselt und an ein Dasein auf der Schattenseite verbannt. Aber jetzt würde er also dennoch umziehen. Weil sie so war, wie sie war. Ein Untier, das von den Leuten ferngehalten werden musste.

Hirka hatte wieder protestiert. Sie hatte versucht, alle möglichen Gründe zu finden, um in Elveroa zu bleiben, ohne den Rollstuhl zu erwähnen. Sie hatte behauptet, sie könne das Umarmen lernen, und Vater hatte gemeint, dass ein Holzschemel ein besseres Gedächtnis habe als sie. Er hatte doch schon früher versucht, es ihr beizubringen, hatte sie das denn vergessen? Nein, das hatte Hirka nicht vergessen. Sie wollte es wieder versuchen. Einen Moment lang hatte Vater beinahe hoffnungsvoll ausgesehen, als sie im Gras saß und versuchte, die Lebenskraft der Erde vor sich zu sehen, so wie er es ihr gesagt hatte. Die Gabe zu sehen wie Flüsse aus Blut, die sie zu sich hochziehen sollte. Aber die Erde wollte kein Blut mit ihr teilen. Weil sie nicht hierhergehörte.

Dennoch hatte sie es versucht. Bis sich die Kiefer fast ausrenkten, bis sie zu atmen vergaß. Aber es hatte nichts genützt. Vater hatte sie gebeten, vorsichtig zu sein, als könne sie wie ein rohes Ei zerbrechen. Sie hatte gefragt, wie es sich anfühlen solle, wenn man umarmte. Und er hatte geantwortet: »So als ob du nicht mehr allein bist.«

Aber allein war sie. In jeder Hinsicht. Der Einzige, den sie hatte, war Vater.

Genau da hatte sie begriffen, was sie tun musste.

Vater war kein starker Umarmer. Er war ein normaler Mann. In seinen Adern war nie blaues Blut geflossen. Hirka brauchte jemanden, der richtig gut umarmen konnte. Jemanden, der die Gabe fühlte. Aber das Allerwichtigste war, dass sie jemanden brauchte, der keine Angst hatte, es sie lernen zu lassen, ganz gleich, ob sie zerbrach wie ein rohes Ei. Jemanden, dem sie herzlich egal war. Sie brauchte Rime.

Hirka hatte keinen guten Plan. Aber sie wollte es mit einer Notlüge versuchen. Sie würde Rime sagen, dass sie umarmen könne, aber nur gerade eben. Und dass sie Angst habe, es könne für das Ritual nicht ausreichen. Es widerstrebte ihr, ihn zu belügen, aber was sollte sie denn sonst machen?

Sie blieb stehen. Vor ihr erstreckte sich der Wald bis zu Ilumes Haus. Hirka glaubte nicht, dass jemand aus Elveroa je diesen Prachtbau betreten hatte. Sogar die Diener waren aus Eisvaldr mitgekommen.

Und wenn Rimes Großmutter ihr die Tür aufmachte? Wäre Ilume dann klar, dass irgendetwas nicht stimmte? Ob sie wohl weiß, was ich bin, wenn sie mich sieht?

Hirka ärgerte sich über sich selbst. Sie war Ilume schon oft begegnet. Warum sollte sie plötzlich etwas anderes als dasselbe schwanzlose Mädchen sehen?

Nur ich allein weiß, dass ich nicht mehr dieselbe bin.

Hirka biss die Zähne zusammen und ging weiter. Sie duckte sich unter den alten Ahornbäumen. Das Haus vor ihr wuchs, beeindruckend und uneinnehmbar wie eine Festung. Die Mauersteine sahen in der feuchten Witterung fast schwarz aus. Was würde mit dem Haus geschehen, wenn Ilume zurückfuhr? Es war das einzige Gebäude in Elveroa, das einen Turm hatte. Fast ein Drittel des Hauses nahm der runde Westturm mit seinen vielen Fenstern aus buntem Glas ein.

Und doch hatte sie gehört, dass diese ganze Festung in einen einzigen Raum im Haus der Familie in Mannfalla passen würde. Aber das hatte Sylja behauptet, darum war schwer zu beurteilen, wie viel Wahres daran war.

Hirka ging am Stall und an zwei großen, sechsrädrigen Wagen mit Aufbauten aus Leder vorbei. Beide waren zum Teil mit Truhen und Säcken beladen. Sie hatten den Umzug schon in Angriff genommen. Vor dem Haus standen etliche Truhen und größere Holzmöbel. Hirka zuckte zusammen, als sie plötzlich sich selbst erblickte: ein Spiegel. Solche hatte sie schon früher einmal gesehen, aber die waren klein gewesen. Dieser Spiegel war größer als sie und klar wie Kristall. Hirka hatte sich selbst noch nie so deutlich gesehen. Ihre Haare sahen wie ein roter Strohhaufen aus. Die Kleider mussten wieder einmal geflickt werden. Das grüne Strickhemd wurde nur noch notdürftig durch ein paar Maschen zusammengehalten. Das eine Hosenbein war fast durchgescheuert. In dem anderen war ein Riss. Sie sah wie ein kleiner Waldtroll aus, üppig umrahmt von Goldschnörkeln.

Hirka lächelte über den Widerspruch. Doch das Lächeln erstarb, als sie plötzlich eine andere Gestalt im Spiegel erblickte. Ilume An-Elderin stand hinter ihr. Auf ihrer Stirn prangte das schwarze Zeichen wie ein drittes Auge – das Zeichen des Sehers, der schwarze Rabe des Rates –, das der Umwelt unmittelbar signalisierte, wen es sah.

Hirka wich erschrocken einen Schritt vom Spiegel zurück. Das war ein fehlgeleiteter Instinkt, denn sie lief rückwärts geradewegs in Ilume hinein. Hirka drehte sich zu ihr um und versuchte, sich zu entschuldigen, stellte aber fest, dass ihr Mund ganz ausgetrocknet war. Hirka musste sich selbst daran erinnern, dass sie nichts falsch gemacht hatte. Sie hatte nichts zu verbergen.

Ich habe alles zu verbergen.

Ilume war kaum eine Handbreit größer als sie, aber seltsamerweise füllte sie den ganzen Hofplatz aus. Hirka bekam plötzlich das Gefühl, dass der Boden, auf dem sie standen, und Ilume gleich alt waren. Sie hatte gehört, dass starke Umarmer eins mit der Erde und ein Teil der Ewigkeit werden konnten. Aus dem Grund wurde vielleicht immer alles still, kurz bevor Ilume irgendwo eintraf. Als betrete vor ihr etwas anderes den Raum. Etwas, das man nicht sehen konnte.

Ilume hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Das graue Haar war zurückgekämmt und unter einer straffen Kapuze zusammengefasst, mit Ausnahme von zwei dünnen Zöpfen, die ihr von den Schläfen bis fast auf die Taille hingen. Sie hatte schmale hellgraue Augen, die an Rimes erinnerten. Im Unterschied zu vielen anderen alten Augen waren ihre jedoch scharf wie Messer.

Hirka spürte sie im Bauch. So als durchsuche Ilume ihren Körper mit Blicken. Ein ruhiges Suchen wie bei einer Eule auf der Jagd. Der Kittel, den sie trug, schimmerte im Licht wie feinstes Papier. Er schmiegte sich an ihre Taille, bevor er sich in zwei Bahnen teilte und darunter eine weitere Lage Stoff in einer anderen Webtechnik preisgab. Ihr Schwanz kam hinten zum Vorschein. Auch der war anders als bei anderen Alten. Er war nicht ausgeblichen oder struppig geworden. Den untersten Teil zierte ein sandfarbenes, im Fischgrätenmuster geflochtenes Band. Das Haar am Schwanzende war nach wie vor dunkel. Es war geölt und quer abgeschnitten. Hirka wurde plötzlich bewusster als sonst, dass sie keinen hatte. Aber wie alle anderen kannte auch Ilume die Geschichte von den Wölfen. Hoffentlich dachte sie nicht mehr an Hirkas offensichtlichen Mangel. Nicht einmal jetzt, da sie sich gegenüberstanden.

Der Rat und die Fäulnis …

Hirka guckte hoch und versuchte, nicht den schwarzen Raben auf Ilumes Stirn anzuschauen, aber das war unmöglich. Es war Sinn des Zeichens, dass man es sah. Und es war, als erwidere es auch ihren Blick. Hirka wurde das Gefühl nicht los, dass mehr als zwei anwesend waren.

»Hirka …«, sagte Ilume nach einer gefühlten Ewigkeit. Dem Tonfall nach zu urteilen, war sie weder erstaunt noch neugierig, was Hirka hier wollte. Hirka schluckte ihre Unsicherheit hinunter und kam gleich zur Sache.

»Ilume-Madra.« Sie verbeugte sich, bevor sie weitersprach: »Ich suche Rime … Són-Rime.«

Die alte Frau legte den Kopf schräg, genau wie Rime es immer machte, und betrachtete sie. Was dachte sie? Warum antwortete sie nicht? Hirka schloss für einen Moment die Augen, damit sie nicht flackerten und ihre Nervosität verrieten.

»Rime ist unterwegs. Er hat für die Reise vieles vorzubereiten.«

Hirka begriff, welche Botschaft hinter den einfachen Worten steckte.

Er hat keine Zeit für dich.

Aber er musste Zeit haben! Ihre Zukunft hing davon ab, dass er Zeit hatte.

»Weißt du, wo ich ihn finden kann?«

Was mache ich da? Sie hat gesagt, was sie zu sagen hat. Geh! Geh weg, ehe es zu spät ist! Ilumes Blick wurde schärfer. Hirka spürte, wie ihre Knie zuckten, als wollten die Beine ohne sie weglaufen. Sie kam sich splitterfasernackt vor. Doch das Gesicht der Alten blieb regungslos.

»Er wird erfahren, dass du nach ihm suchst.«

Hirka wagte nicht, weiter hartnäckig zu sein. Sie bedankte sich und ging. Sie musste sich dazu zwingen, mit ganz normalen Schritten durch die Reihe der grünen Bäume zu gehen. Es war, als raschelten sie da oben mit den Blättern, um sie zu verhöhnen.

Du dummes Ding! Was bildest du dir denn ein?

Hirka war abgespeist worden. In untadeliger Weise, aber dennoch abgespeist. Ilume hatte es nie gutgeheißen, wenn Rime seine Zeit mit anderen Kindern verbrachte. Daran hatte sich offenbar nichts geändert. Hirka war nicht überrascht. Und mehr noch: Sie dachte gar nicht daran, sich von dem Wink mit dem Zaunpfahl aufhalten zu lassen.

Sie blieb am Streitwasser stehen und betrachtete die Siedlung. Wo war Rime? Er konnte überall sein. Vielleicht war er bei Ynna, um sich neue Kleider für die Reise nähen zu lassen? Oder vielleicht war er beim Packen der Umzugskisten? Beim Reparieren von Wagenrädern? Die Fahrt von Elveroa nach Mannfalla dauerte mit dem Wagen mehrere Tage. Wie bereitete man sich auf eine so lange Reise vor?

Wo war er gewesen, nachdem er nach Hause gekommen war? Sie ließ den Blick über den Hügelkamm schweifen, bis er an den Bergen hängen blieb. Dann lächelte sie.


Die Zacken des Vargtind ragten hinauf in die Wolken, die über Elveroa hingen. Der Berg war zwar steil, aber man konnte ihn hinaufgehen, ohne zu klettern, vorausgesetzt, man kam nicht aus der Puste. Nur die senkrechte Westseite war nahezu unmöglich zu erklimmen. Hirka hatte es ein einziges Mal geschafft. Heute gab sie sich damit zufrieden, den Pfad hinaufzuwandern, der kaum mehr als eine ausgetretene Spur in der Bergwand war.

Kurz vor dem Gipfel kam ein schwieriges Stück mit Rachdorn, das sie im Schneckentempo durchqueren musste. Wenn sie sich an den scharfen Dornen stach, würden die Wunden tagelang brennen. Einmal war ihr das passiert und das war einmal zu viel. Die Büsche rissen an den Kleidern. Sie versuchte vergeblich, Stellen ohne Dornen zu finden, wo sie hintreten konnte. Es knackte in den ausgedorrten Zweigen, die den ganzen Sommer in der Sonnenhitze standen. Doch jetzt war sie bald oben auf dem Gipfel.

Hirka hatte plötzlich das Gefühl, dass sie etwas sagen musste. Oder rufen, um mitzuteilen, dass sie hier war. Was für eine dumme Idee. Die Chance, dass er wirklich hier oben war, ging nahezu gegen null. Sie schaute hoch. Der Gipfel des Vargtind erhob sich wie ein aufgerissenes Wolfsmaul vor dem farblosen Himmel. Zerzaust und bissig knurrte er alle Fremden an, die sich ihm näherten. Besiegte man aber das Tier, durfte man in einer herrlichen, grasbewachsenen Senke umgeben von scharfen Steinzähnen ausruhen. Hier war Hirka viele Stunden neugierig herumgestreift, auf der Suche nach vergessenen Geschichten und Schätzen in den alten Burgruinen. Alt-Annar behauptete, Varg sei der Name des Mannes gewesen, der einst die Burg erbaut hatte, und dass der Berg deshalb Vargtind hieß, nicht wegen seiner Form. Doch kein jetzt Lebender wusste es mit Sicherheit.

Hirka kletterte über die letzte Kante und sprang in die Senke.

Da stand Rime. Direkt vor ihr.

Der blasse Himmel hatte fast die gleiche Farbe wie sein Haar und sein Hemd, das ihm bis auf die Oberschenkel reichte. Der doppelte Schwertgürtel ließen seine Taille schmaler und seine Schultern breiter wirken. Hirka brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass auf seinem Hemd ein schwarzer Rabe direkt über dem Herzen eingestickt war. Schweiß glänzte auf seiner Stirn.

Ist er gelaufen? Auf dieser kleinen Grasfläche?

Er stand mit verschränkten Armen da, als betrachte er einen Eindringling. Hirka hatte das Gefühl, einen Platz zu verlieren, der immer ihr gehört hatte. Jetzt musste sie erklären, warum sie hier war.

»Du warst nicht zu Hause.«

Seine hellen Augen wurden schärfer. Er hatte viel von Ilume geerbt.

»Hat man dir gesagt, ich sei hier?« Seine heisere Stimme klang erstaunt. Sie war ihrer eigenen ganz unähnlich und sie ertappte sich dabei, dass sie sich danach sehnte, mehr davon zu hören.

»Nein …« Sie bezwang den Impuls, ihren Blick zu senken. »Nein, das habe ich mir gedacht.«

Er legte den Kopf schräg, räusperte sich und sah sie an, als sei sie wieder ein Kind, das versuchte, jemandem etwas vorzumachen. Hirka zeigte zur Alldjup-Schlucht.

»Du warst bei der Tanne, als Vetle und ich abgestürzt sind. Entweder bist du gerade zufällig vorbeigekommen oder du hast uns von irgendwo gesehen.«

Er zog eine Augenbraue hoch und sie versuchte es weiter.

»Aber du konntest nicht zufällig vorbeigekommen sein, denn du hattest gesehen, dass Kolgrim Vetle dazu gebracht hat, hinaus auf die Tanne zu gehen.« Hirka merkte, dass sie vor Nervosität immer schneller sprach. »Darum musstest du irgendwo gewesen sein, wo du den Überblick hattest, aber von wo du noch eine Weile bis zu uns gebraucht hast.«

Früher hätte sie sich unbändig gefreut, dass sie ihn durchschaut hatte. Warum war das nicht mehr so? »Glaube ich …«, schob sie brav nach.

Sah sie da etwa ein Lächeln auf seinen Lippen? Es war schwer zu sagen, denn er drehte ihr schnell den Rücken zu.

»Was willst du?«

Hirka war baff. Diese Frage hatte sie nicht erwartet. Sie hatte sich ein normales Gespräch vorgestellt. Oder jedenfalls eine freundliche Begrüßung. Vielleicht etwas mehr darüber zu erfahren, was er in den letzten Jahren in der Hauptstadt gemacht hatte. Und dann, nach einer Weile – wenn die Gelegenheit günstig war –, würde sie ihn um Hilfe bitten. Aber dazu kam es nicht. Sie wurde bloßgestellt. Abgespeist wie von Ilume. Weder Rime noch seine Großmutter wollten mit ihr reden. Das konnte sie ihnen nicht übel nehmen. Die beiden waren wichtige Persönlichkeiten. Sie hatten Wichtigeres zu bedenken.

Sie wollte ihn ja nicht um Hilfe bitte. Er verdiente nicht noch mehr Kerben! Der Gedanke war kindisch, aber es hatte etwas zu bedeuten. Es bedeutete, dass er immer gern bewiesen hatte, dass sie nicht allein zurechtkam.

Aber er ist meine einzige Chance.

»Ich wollte dich nach dem Ritual fragen.« Sie betrachtete seinen breiten Rücken und hoffte, dass er sich wieder zu ihr umdrehen werde. Doch das tat er nicht. Hirka fror innerlich. Aber noch konnte sie nicht aufgeben.

»Ich … muss wissen, wie die Dinge stehen.«

»Welche Dinge?«

Was sollte sie antworten? Was konnte sie sagen? Hirka spürte, wie ihr die Entschlossenheit langsam abhandenkam, und das schon nach wenigen Worten. Sie brauchte Hilfe, konnte es aber nicht laut aussprechen. Von allen Leuten auf der Welt konnte sie es Rime am wenigsten sagen. Er stand nur ein paar Schritte von ihr entfernt. Aber zwischen ihnen lag ein Berg von Dingen und Hirka wusste nicht, wie sie ihn überwinden sollte. Er lebte in einer anderen Welt als sie. Und der Kampf um die Kerben hatte das aufgebaut, was sich jetzt wie eine Mauer aus Stolz anfühlte. Angenommen, es gelang ihr, diese Hindernisse zu überwinden, was sollte sie dann machen? Ihm sagen, dass sie ein Untier war?

Ihr Leben lang war es überall, wo sie gewohnt hatte, immer ums Überleben, ums Klarkommen auf eigene Faust gegangen. Sie brauchte keine Hilfe! Sie war nicht so ein Ymling, der klein beigab.

So ein Odinskind …

Das Problem war, dass sie Rime brauchte, um es dem Rest der Welt zu beweisen.

»Ich glaube, ich brauche … eine Anleitung für die Gabe. Es dauert nicht mehr lange bis zum Ritual und …«

»Ich weiß. Wir haben viel zu tun vor dem Ritual.«

Hirka biss sich auf die Unterlippe. Dummes Kind, kapierst du nicht, dass er für dich keine Zeit hat?

Warum konnte er ihr nicht einfach zeigen, wie man umarmte?! Er konnte es doch besser als die meisten. Dafür würde er bestimmt nur einen Augenblick lang brauchen!

»Ich glaube, die Gabe ist bei mir nicht stark genug. Ich habe Angst, dass sie nicht reichen könnte. Dass …«

»Natürlich reicht sie.« Er drehte sich wieder zu ihr um, offensichtlich verärgert. »Das ist kein Wettkampf! Alle schaffen es. Sollte die Gabe in einigen seltenen Fällen zu schwach sein, kommt man im nächsten Jahr eben wieder. Viele aus Brekka sind erdblind, bis sie zehn, zwölf Winter alt sind.« Er schaute sie an und verzog die Mundwinkel, als sei er angewidert. »Bist du deswegen hier?«

Hirka spürte, wie sich Panik in ihrem Körper breitmachte. Sie trat einen Schritt auf ihn zu.

»Nein! Nein, das ist nicht der Grund!« Aber Rime ging quer über die Grasfläche und an ihr vorbei, ohne ihr in die Augen zu sehen.

»Ich brauche nur etwas Hilfe, um …«

Er drehte sich um und schnitt ihr in scharfem Ton das Wort ab. »Um ausgewählt zu werden? Glaubst du, dass du die Einzige bist, die das will?« Seine Augen brannten weiß. »Glaubst du, dass mich alle anderen nicht auch schon darum gebeten haben? Glaubst du, dass Sylja noch nicht gefragt hat?«

Sylja? Hirka suchte nach Worten, fand aber keine. Sylja hatte um Hilfe gebeten, um ausgewählt zu werden? Warum denn? Sie hatte Rime gebeten, mit Ilume zu sprechen? Beim Seher ein gutes Wort für sie einzulegen, als würde Er sich in Seiner Wahl beeinflussen lassen? Die am häufigsten auf die fiel, in deren Adern blaues Blut floss.

Rime wartete nicht auf Antwort. Er machte sich an den Abstieg. Alles, was er über sie dachte, war falsch, aber die Wahrheit konnte sie ihm auch nicht sagen. Hirka spürte, wie ein Schrei in ihr aufstieg.

»Ich will nicht ausgewählt werden! Ich will nur umarmen können!«

Rimes Stimme entfernte sich mit jedem seiner Schritte weiter. »Na, dann ist ja gut. Das können doch alle. Ich habe anderes zu tun.«

Hirka drehte sich um und schaute den Berghang hinab. »Das stimmt nicht …«, flüsterte sie ihm nach. Aber er hörte es nicht. Sie konnte ihn nicht einmal mehr sehen. Sie blinzelte fieberhaft und schaute zum Himmel hinauf, um zu verhindern, dass ihr die Tränen kamen. Das war ihr fünfzehn Jahre lang gelungen. Der Himmel hatte sich verfinstert. Sie hörte einen Raben rufen, ein gutes Stück von ihr entfernt. Bestimmt war es derselbe Rabe, den sie schon bei der Alldjup-Schlucht gesehen hatte. Ein beeindruckender, heiliger Vogel, zur Treue verführt durch ein einfaches Stück Käse aus einem umgefallem Korb?

Es würde gleich anfangen zu regnen. Sie hatte verloren. Hirka stand mit geschlossenen Augen da und wartete, bis sie die ersten Regentropfen im Gesicht spürte.

Die Rabenringe - Odinskind

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