Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 18
ОглавлениеInsringin
Urd ging auf dem Balkon auf und ab. Immer wenn er das Ende erreichte, blickte er auf, ging aber nicht über die Brücke zur Ratshalle, die in der Kuppel auf der anderen Seite lag. Der Balkon hing hoch über Eisvaldr, mit reich verzierten Bogengängen, für die er heute kein Auge hatte. Er ging nur auf und ab. Und wartete. Wartete und spürte den bitteren Beigeschmack, auf ein Nein warten zu müssen. Auf Ilumes Nein.
Zum Glück war Ilume nicht das einzige Ratsmitglied. Zehn der engsten Vertrauten des Sehers würden abstimmen. Hatten ihre Stimme bereits abgegeben. Bei dem Gedanken wurde ihm schwindlig. Urd war klar, dass das Ergebnis vielleicht schon feststand. Entweder war er drinnen oder nicht. Nur Ilumes Stimme stand noch aus und die war unterwegs. Wenn nur das verdammte Federvieh endlich kommen würde! Wie lange brauchte denn ein Rabe für eine solche Strecke?!
Er hatte noch einmal dieselbe Runde gedreht und die Brücke abermals erreicht. Dort blieb er einen Moment stehen. Schmale Steinbrücken verbanden viele von Eisvaldrs Türmen miteinander, aber diese vor ihm war die älteste: Asebriggi. Die Schnitzereien mit den Raben und Schlangen hatten Wind und Wetter fast zur Unkenntlichkeit abgeschliffen. Es gab keine scharfen Kanten mehr und das schon seit Hunderten von Jahren. Runde Pfeiler trugen das gewölbte Dach, dessen Westseite durch die Fallwinde von den Bergen in Blindból schon recht verwittert war.
Auf der anderen Seite der Brücke lag die Ratshalle und dort saßen sie jetzt, um über seine Zukunft zu entscheiden. Während er hier draußen warten musste wie ein Hund!
Urd kehrte der Brücke den Rücken zu und begann abermals den Balkon abzuschreiten. Das war das Sicherste, um zu vermeiden, dass sein Temperament mit ihm durchging. Das durfte jetzt nicht passieren. Zum Glück war er ein sehr geduldiger Mann, vermutlich der geduldigste in ganz Ym. Er hatte lange gewartet. Da konnte er jetzt auch noch ein bisschen länger warten. In Kürze würde er erfahren, ob es sich gelohnt hatte.
Urd lief es kalt über den Rücken und das lag nicht am Wind. Der heulte hier oben zwischen den Pfeilern, aber das machte ihm nichts aus. Das Warten war es, das ihm zu schaffen machte.
Sein verstorbener Vater hatte einmal gesagt, dass ein Mann nie mehr riskieren sollte, als er zu verlieren bereit war, aber Urd spürte im ganzen Körper, dass er viel zu viel riskiert hatte. Absolut alles. Und das hier war seine einzige Chance. Sagten sie heute Nein zu ihm, war es ein Nein für immer.
»Sie sagen, sie sei schon unterwegs.« Slabbas störende Stimme riss Urd aus seinen Gedanken. Er hatte fast vergessen, dass der Kaufmann dort saß. Saß war der falsche Ausdruck. Er quoll eher über die Glimmersteinbank in seinem grünen, bestickten Kittel ohne Schnürung in der Taille. Weil er keine Taille hatte.
»Wer?«
»Ilume-Madra.« Slabba zog ein bereits feuchtes Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von den Fingern. Jeder einzelne war schwer vor Gold und funkelnden Edelsteinen. Das ließ ihn pathetisch aussehen. Wie eine überreife Frau. Urd wandte sich angewidert ab, doch Slabba sprach weiter.
»Sie sagen, sie habe ihr Haus ausgeräumt und sei nur ein paar Tagesreisen von Mannfalla entfernt.«
»Wer sagt das?«
»Ich habe … Kontakte.« Slabbas Stimme klang betont gleichmütig.
Urd unterdrückte ein Schnauben. Kontakte? Du?
Slabba wusste nicht mehr als die meisten anderen, liebte es aber, sich auf eine Flut von wertvollen Quellen zu berufen. Er konnte unter gewissen Umständen von Nutzen sein, doch in Bezug auf Urds Ambitionen hätte der Kaufmann genauso gut taub und blind sein können. Eine fette Fliege, die im Netz spielte und sich einbildete, sie sei die Spinne.
Trottel.
»Was machen wir, wenn sie wieder zurück ist?« Slabbas belegte Stimme wurde weniger selbstsicher. Er hatte Angst vor Ilume. In gewisser Weise war das unerklärlich provozierend.
»Ich werde dir sagen, was wir machen! Wir nutzen die Gunst der Stunde! Sie ist zurück! Und warum ist sie zurück, mein Freund?« Urd spürte, wie ihm das letzte Wort im Hals anschwoll, doch er lächelte, was das Zeug hielt. Er beugte sich so nahe an Slabbas Gesicht, wie er es über sich brachte, während Slabbas Augen ratlos hin und her tanzten. Er hatte keine gute Antwort parat. Doch die hatte Urd.
»Sie ist zurück, weil sie gescheitert ist! Ilume ist gescheitert! Nach mehreren Jahren in der Nähe von Ravnhov hat sie nichts weiter getan, als es zu stärken. Hat sie Hallen für den Seher eröffnet? Hat sie politisch an Boden gewonnen? Im Gegenteil! Ravnhov ist stärker und widerspenstiger denn je!« Urd breitete die Arme aus und ergötzte sich an seinen eigenen Worten. Es war ihm nicht oft vergönnt, genau das zu sagen, was er dachte, nicht einmal zu Slabba.
Slabba begann vor Lachen zu zischen wie ein zum Bersten gefüllter Blasebalg und Urd sprach weiter.
»Ihr ist es sogar gelungen, die einzige Gemeinsamkeit zwischen Mannfalla und Ravnhov aufzuheben. Das Ritual! Denn weißt du, was meine Kontakte sagen?« Urd dämpfte die Stimme zu einem theatralischen Flüstern und Slabbas Augen bekamen etwas Gieriges.
»Sie sagen, dass mehrere Familien aus Ravnhov in diesem Jahr nicht zum Ritual erscheinen werden. Eine offene Demonstration von Feindschaft. Eine Kriegserklärung!« Urd grinste breit.
»Ja … ja, das habe ich auch gehört«, log Slabba, dass sich die Balken bogen. Doch Urd war noch nicht fertig.
»Ilume ist schwach. Ihr Haus liegt im Sterben. Sie hat ein einziges Enkelkind und das wirft sein Leben weg, um mit dem Schwert zu spielen. In der Leibgarde! Der Junge hätte heute einen Stuhl bekommen können und das auch noch mit dem Segen des Volkes! Kannst du dir vorstellen, wie die Nachricht sie erschüttert haben muss? Und jetzt ist sie zurück in Mannfalla, um von ihrer Niederlage in Ravnhov zu berichten. Slabba, ich kann dir versprechen, Ilume hat anderes zu tun, als uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen.«
Plötzlich fiel Urd das Klappern von Schuhen auf Stein auf. Von schnellen Schritten. Ein Läufer stürmte an ihnen vorbei, ohne ihnen auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Er umklammerte eine Briefhülse, die in seiner Hand fast ganz verschwand. Urd ließ die Hülse erst aus den Augen, als der Läufer die Brücke überquert hatte und in der roten Kuppel verschwand.
In dieser kleinen Hülse befand sich Ilumes schallendes Nein. Da war er sich ganz sicher. Nein, sie wollte nicht, dass er den Platz seines Vaters einnahm. Nein, sie fand nicht, dass er in den Rat gehörte. Nein. Nein. Nein. Aber wenn er bereits sechs Jastimmen dort drinnen hatte, dann spielte das keine Rolle mehr.
Urd merkte, wie ihm schwindlig wurde. Er fasste sich an den Hals und kehrte Slabba den Rücken zu. Der Rachen schmerzte wieder. Er hatte Blutgeschmack im Mund und legte den Kopf in den Nacken, um ihn hinunterzuzwingen.
Denk an etwas anderes.
Vor ihm lag Eisvaldr in all seiner Pracht. Ein reicher Ausläufer einer noch größeren Stadt – Mannfalla. Weiße Mauern markierten die Trennlinie zwischen der Stadt und dem Hauptsitz des Sehers. Vor den Mauern spielte sich eine andere Wirklichkeit ab. Von hier oben sah es hübsch und friedlich aus, aber Urd wusste, dass dort draußen die Leute ihr verachtungswürdiges, gewöhnliches Leben lebten. Sie arbeiteten, schwitzten, aßen, schliefen und liebten sich. Auf den Straßen stank es nach Pferdemist, denn dort kümmerten sich weniger Leute darum, sie sauber zu halten. Vor allem jetzt, da die Zeit für das Ritual näher rückte und Leute von nah und fern herbeiströmten, einige mit Kindern und Vieh im Schlepptau. In den ärmsten Gegenden der Stadt konnte es einem zu dieser Zeit übel werden. Gestank und Getöse überall. Und in diesem Jahr war es schlimmer denn je.
Doch Urd stand hier oben, hoch über allen anderen. Wenn der Seher auch nur über einen Funken der Macht verfügte, die man Ihm nachsagte, dann musste Er diese Bitte erhören. Urd merkte, dass er die Augen geschlossen hatte. Er hörte, wie Slabba hinter ihm redete. Von Wärme redete, obwohl die Wolken regenschwer über der Stadt hingen. Redete und redete, als hinge Urds Leben nicht davon ab, was bald geschehen würde.
Auf der anderen Seite der Brücke wurden schwere Türen geöffnet. Sie waren riesig im Verhältnis zu der Gestalt, die heraustrat: die Rabenträgerin. Eir-Madra. Die Frau, die den Seher trug. Jetzt stand sie dort allein, ohne Stab und ohne Raben. Die mächtigste Frau im Rat. Die mächtigste Frau in Ymsland. Der Wind bauschte ihren hellen Kittel auf. Das Ratszeichen war schwarz wie ein Loch in ihrer Stirn. Es war auch auf dem Gewand über der linken Brust eingestickt. Den Seher im Geist, den Seher im Herzen.
»Urd Vanfarinn?« Sie sprach seinen Namen aus, als wüsste sie nicht bereits, dass er es war.
»Ja.« Urd spürte den Schmerz im Hals kratzen, aber es gelang ihm, mit fester Stimme zu sprechen. Er hatte viel Übung darin. Sie schob die Kapuze mit einer langsamen Handbewegung zurück.
»Willkommen im Insringin.«
Urd spürte ein unbekanntes Brennen in den Augen. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass Tränen zu laufen begonnen hatten. Eir waren sie nicht aufgefallen. Sie hatte Urd und Slabba schon den Rücken zugekehrt und war wieder auf dem Weg zurück in die Ratshalle. Urd registrierte Slabbas Glückwünsche irgendwo hinter sich, konnte aber einzelne Worte nicht verstehen. Unwichtige Geräusche eines unwichtigen Mannes in einer ganz anderen Welt.
Urd setzte einen Fuß vor den anderen, machte seinen ersten Schritt als Ratsherr und überquerte die Brücke.