Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 16
ОглавлениеIlume
Rime hob die Hand und hielt die Wachen zurück. Er schaute Hirka nach, wie sie zwischen den Marktständen verschwand. Das Mädchen besaß ein unglaubliches Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Gestern hatte sie über der Alldjup-Schlucht gehangen und heute wäre ihr um Haaresbreite der Schädel eingeschlagen worden. Wenn Hlosnian nicht gewesen wäre …
Er suchte mit Blicken nach dem Steinflüsterer, doch der war aus der Menge verschwunden. Rime hoffte um seinetwillen, dass Ilume entgangen war, wie er umarmt hatte. Das hatte Hirka womöglich das Leben gerettet, aber selbst gute Gründe lösten sich in Luft auf, wenn man Ilume Auge in Auge gegenüberstand.
Rime spürte ein Stechen im Nacken und drehte sich um. Ilume stand auf der Hallentreppe, während die Leute darauf warteten, dass die Türen aufgingen. Ihr Blick durchschnitt die Menge und begegnete seinem. Er hätte schwören können, dass sie versuchte, ihn innerlich erfrieren zu lassen, weil er hier in der Uniform eines Leibgardisten stand. Sodass es auch der größte Schwachkopf sehen konnte.
Ilume ließ Rimes Blick los, drehte sich um und betrat die Seherhalle durch die vergoldete Seitentür, die nur ihr und ihrer Dienerschaft vorbehalten war. Und ihm selbst. Alle anderen mussten draußen warten. Rime holte tief Luft. Er hatte lange genug gewartet. Er musste mit Ilume reden, musste es hinter sich bringen. Er überquerte den Platz vor der Halle des Sehers. Die Menge teilte sich und ließ ihn passieren. Ihre Blicke wanderten über seine Kleider, die Ungläubigkeit so schlecht verborgen, dass er genauso gut hätte nackt gehen können. Er konnte hören, wie sie flüsterten.
Rime seufzte. Vanfarinns Tod hatte den Rat geschwächt. Ravnhov wetzte die Krallen. Die Welt unter den Füßen des Volkes wankte, aber war es das, worüber die Leute tuschelten? Nein. Sie tuschelten über ihn. Den Erben des Stuhls, der Krieger geworden war.
Rime ging in die Seherhalle. Er widerstand der Versuchung, die Tür zu benutzen, durch die das gewöhnliche Volk gehen sollte, und nahm diejenige, die für ihn vorgesehen war. Es war besser, vor dem Gespräch mit Ilume nicht auch noch Öl ins Feuer zu gießen. Er schloss die Tür hinter sich. Das Getuschel der Leute blieb draußen. Hier drinnen war es dunkler und kühler. Das Licht der Öllampen an der Decke flackerte. Er hörte Ramoja und Ilume im Messraum sprechen. Ramoja klang aufgebracht. Rime ging den Korridor entlang, bis er den Messraum durch die Bogengänge sah.
Ramoja hielt Ilume eine Briefrolle hin. Der Rabe auf ihrer Schulter trat unruhig von einem Bein aufs andere. Rime vermutete, dass es sich bei dem Brief um die Einberufung zum Ritual handelte, die vorhin draußen auf der Treppe verlesen worden war, bis er hörte, wie Ilume dessen wahren Inhalt preisgab.
»Ich habe ihnen mein Nein erteilt. Das ist meine Stimme.«
»Aber er ist schon …«
»Das wird nicht passieren. Reiß dich zusammen, Ramoja!«
Meine Stimme …
Es ging um den leeren Stuhl. Der Rat hatte es eilig, Vanfarinns Platz neu zu besetzen. Hatten sie es besonders eilig, konnte ihnen sogar einfallen, seinen Sohn Urd als Nachfolger in Erwägung zu ziehen. Kein Wunder, dass Ramoja aufgebracht war. Rime hätte Urd nicht mal ein rohes Ei anvertraut, aber darüber zu entscheiden, war zum Glück nicht seine Aufgabe.
Rime trat aus dem Schatten, sodass sie ihn sehen konnten. Ihr Gespräch verstummte sofort. Ramoja schaute zu Boden.
»Ich warte draußen«, sagte sie und ging schnell an Rime vorbei, ohne ihn anzusehen. Ihr Schmuck klirrte bei jedem Schritt. Das Klirren entfernte sich im Korridor und hinterließ eine bedrückende Stille. Er war allein mit seiner Großmutter.
Sie hob das Kinn und blickte ihn von oben herab an. Das war schon eine Leistung, wenn man bedachte, dass er einen Kopf größer war als sie. Aber es waren nicht die Körpermaße, die Ilume Größe verliehen.
Hinter ihr breitete der Rabe seine gewaltigen Flügel aus. Die Flügel des Sehers. Sie umschlossen das Rednerpult und schufen so einen heiligen Raum, in dem der Schriftgelehrte zum Volk sprechen konnte. Jeder einzelnen Feder hatten Hlosnians Hände Leben eingehaucht. Wie Pinselstriche in schwarzem Stein. Der Schnabel war halb geöffnet, wie in einem Schrei erstarrt. Die Augen waren blank poliert und zeigten Ilumes Spiegelbild. Ein verzerrtes Bild, in dem die Arme länger als der Körper waren. Sie öffnete den Mund.
»Du würdest mit Ratten zu Abend essen, wenn du die Möglichkeit dazu hättest.«
Sie hatte ihn offenbar zusammen mit Hirka und Kolgrim draußen auf dem Platz gesehen. Er hatte sich unters Volk gemischt, als sei er einer von ihnen. Er hatte vergessen, wer er war. Ein Vorwurf, der ihn schon sein Leben lang begleitete. Rime machte den Mund auf, um sich zu verteidigen, wurde aber von dem Schriftgelehrten unterbrochen, der angelaufen kam, die Handflächen vor dem grauen Kittel im Zeichen des Raben verschränkt. Seine Hände zitterten.
»Ilume-Madra, das Volk wartet auf die Messe. Was kann ich sagen, um …«
»Raus!«
Ilume brauchte ihn nicht anzusehen. Ihre Stimme glich einem Peitschenschlag, der ihn unmittelbar dorthin zurücktrieb, woher er gekommen war. Rime wäre ihm am liebsten gefolgt, doch er und Ilume hatten lange auf diesen Augenblick gewartet. Und sie ergriff zuerst das Wort.
»Du hast noch nicht einmal so viel Rückgrat, mich aufzusuchen, wenn du kommst.«
»Du warst auf Ravnhov, als ich kam.«
Die Antwort schien sie noch wütender zu machen. Die Versammlung in Ravnhov war offensichtlich nicht günstig verlaufen. Auch das hatte er nicht erwartet.
»Ja, ich war auf Ravnhov, um die Reiche zusammenzuhalten. Um des Rates willen und deinetwegen.«
Rime unterdrückte ein verächtliches Schnauben. Ilume kehrte ihm den Rücken zu.
»Als du dich nach dem Ritual für das Schwert entschieden hast, hielt ich das für kindisches Aufbegehren, um sich mir zu widersetzen. Ich habe nichts dazu gesagt, weil ich deiner Urteilskraft vertraute. Du bist ein An-Elderin! Du würdest deinen Weg finden, wenn du dich erst bei den Wilden ausgetobt hast.«
Sie sprach mit ihrer üblichen festen Stimme. Unversöhnlich. Hart wie der Steinfußboden, auf dem sie stand. Das Haar hing ihr in makellosen Silberzöpfen den Rücken hinab. Nur die Farbe verriet, dass sie schon fast ein Jahrhundert lebte. Sogar das war für sie von Vorteil gegenüber Leuten, mit denen sie nichts zu tun haben wollte. Sie würde länger leben als sie alle, so war das mit mächtigen Umarmern. So wäre das auch bei ihm gewesen. Aber Rime hatte freiwillig die Hoffnung aufgegeben, alt zu werden.
Sie wandte sich wieder zu ihm um. »Deine Verachtung für mich kennt keine Grenzen. Du bist bereit, den Rat zu verleugnen, den Seher zu verleugnen und das Volk im Stich zu lassen, nur um gegen mich aufzubegehren?!«
Ihr Blick war wilder, als er ihn seiner Erinnerung nach je gesehen hatte. Sie hatte Grund genug, wütend zu sein, aber er weigerte sich, ihre Lügen zu schlucken.
»Ich verleugne den Seher nicht! Ich verleugne den Rat, aber nur, um Ihm besser zu dienen. Besser, als ich es als schlafender Riese in Eisvaldr tun kann.«
»Wie kannst du es wagen?!« Sie kam einen Schritt näher auf ihn zu, er rührte sich aber nicht von der Stelle. »Wie kannst du es wagen, zu reden, als wüsstest du Bescheid! Ein Grünschnabel! Ein jämmerlicher Grünschnabel, der seine Kräfte mit meinen messen will?«
Die Worte hallten von den steinernen Wänden wider. Ein hohles Echo, und Rime fiel zum ersten Mal auf, wie leer die Seherhalle war.
»Es geht nicht um dich«, sagte er. »Es geht überhaupt nicht um dich.«
Rime erkannte, wie befreiend die Wahrheit seiner Worte war. Er respektierte Ilume. Sie war das Oberhaupt der Familie. Aber er hatte nichts für die mächtigsten Männer und Frauen des Reiches übrig, deren einzige Leistung darin bestand, mit dem richtigen Namen geboren worden zu sein. Er selbst war mit dem vornehmsten Namen auf die Welt gekommen, den man sich vorstellen konnte, doch seine größte Tat war es gewesen, ihnen den Rücken zuzukehren.
Sie starrten einander an.
Rime hatte seine Entscheidung bereits getroffen und er begriff, dass es das war, was Ilume am meisten wehtat. Sie konnte nichts tun. Er hatte den Eid abgelegt. An seinen Händen klebte Blut. Sie war machtlos. Das war neu für sie und es stand ihr nicht gut zu Gesicht.
»Du wärest der Jüngste gewesen«, sagte sie. »Der Jüngste aller Zeiten.« Ihre Stimme verlor etwas von ihrer Kraft. »Du wärest auf dem Stuhl der Jüngste und der Stärkste seit tausend Jahren gewesen.«
»Aber jetzt wird es ein anderer.«
»Ein anderer?! Wir haben keinen anderen! Sollen wir zulassen, dass uns andere Familien bei lebendigem Leib verspeisen? Willst du deine Geschichte ins Feuer werfen? Deine Wurzeln? Möge der Seher meine Tochter mit Blindheit schlagen, damit sie dich aus der Ewigkeit nicht sieht.«
Ihre Worte breiteten sich wie Gift in Rimes Brustkorb aus. Er biss zurück.
»Dann lasst das Volk, dem ihr zu dienen meint, seine Anführer selbst wählen!«
Rime sah den Schlag kommen, aber er wich nicht aus. Er ließ sie zuschlagen. Ihre flache Hand hinterließ einen brennenden Schmerz auf seiner Wange. Ihre Augen glühten ihm entgegen, aber er fühlte nur Ruhe. Eine unerklärliche, tiefe Ruhe.
»I…Ilume-Madra«, stotterte der Schriftgelehrte aus dem Schatten. Er traute sich nicht, hinaus ins Licht zu treten, das durch die Fenster einfiel. »Man … man wartet. Auf die Messe …«
Ilume antwortete ihm, ohne Rime aus den Augen zu lassen.
»Öffne die Türen.«
Der Schriftgelehrte ließ sich nicht lange bitten und entfernte sich eilig. Die Türen wurden geöffnet und Rime ärgerte sich, dass er sich erleichtert fühlte. Das Volk strömte herein und füllte die Bankreihen hinter ihnen. Ilume nahm auf dem Stuhl Platz, der gleich neben dem Rednerpult stand, unter den schützenden Schwingen des Sehers. Rime setzte sich neben sie.
Er hasste die Messen. Der Seher war alles für ihn. Alles, was er hatte. Die Messen aber waren ein Albtraum. Waren es schon immer gewesen. Unbeweglich dazusitzen, allen anderen das Gesicht zugewandt. Wie ein Ausstellungsstück. Man hätte glauben können, mit den Jahren werde es einfacher, aber Rime wurde jetzt klar, dass es ihm nicht bestimmt war, sich daran zu gewöhnen. Der Sinn seines Lebens war ein ganz anderer. Sein Weg, dem Seher zu dienen, war ein anderer.
Der Schriftgelehrte begann die Messe. Gleichzeitig fauchte Ilume Rime ins Ohr: »Dir als Sohn des Volkes wird es sicherlich ein Leichtes sein, dich auf ihr Niveau herabzulassen.«
Rime wappnete sich und hörte zu.
»Glimmeråsen hat heute Abend zu einem Essen geladen. Es ist unpassend, wenn ich hingehe, und das wissen sie sehr gut. Sie besitzen genauso viel Frechheit wie Größenwahn. Aber sie könnten uns nützlich sein. Sie können unsere Sache im Norden vertreten, wenn wir Elveroa verlassen haben. Es wäre strategisch ungeschickt, die Einladung auszuschlagen, darum wirst du an meiner Stelle hingehen.«
Rime starrte widerwillig auf die vordersten Bänke, wo alle von Glimmeråsen versammelt saßen. Kaisa nickte und lächelte ihm zu. Sie stieß ihrer Tochter Sylja mit dem Ellenbogen in die Seite, die verwirrt zusammenzuckte, ehe sie merkte, dass Rime sie ansah. Da lächelte sie einladend und ihn überlief es kalt.
Er flüsterte Ilume zu: »Ich glaube, der Seher würde mich verstehen, wenn ich nicht hinginge.«
»Du gehst nicht hin, weil der Seher es sagt«, zischte Ilume. »Du gehst hin, weil ich es dir sage!«