Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 6

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Der rote Wagen

Hirka begann zu rennen, sobald sie sicher war, dass Rime sie nicht mehr sehen konnte. Sie ließ den Wald hinter sich und folgte dem Hügelkamm bis zum Meer. Dort war das Risiko am geringsten, jemandem zu begegnen. Als der Wind nach Tang zu riechen begann, konnte sie die Hütte erkennen. Sie stand hoch oben, an die Felswand geduckt, als sei sie aus dem Dorf gejagt worden und habe sich hier verkrochen, um ihre Wunden zu lecken.

Kohlehütte nannten die Leute sie. Die Söldner des Rates hatten dort vor vielen Jahren einmal einen Geächteten herausgeholt und die Kate angezündet. Aber sie wollte nicht recht brennen. Nun stand sie noch immer an Ort und Stelle, beharrlich dem Meer zugewandt, mit schwarz verkohlten Ecken an der Ostseite. Ein Pachtbauer auf Glimmeråsen hatte sich dort hingewagt, um sich am Holz zu bedienen, da ihm jedoch die Angst im Nacken saß, war ihm ein Balken auf den Fuß gefallen und hatte ihm zwei Zehen gebrochen. Das reichte den Leuten. Seitdem hatte sich niemand mehr dorthin getraut, bis sie und ihr Vater sich dort ihr Zuhause eingerichtet hatten. Vater gab nichts auf Altweibergewäsch. Dennoch spürte Hirka beim Anblick der Hütte eine Unruhe. Nicht dass sie Angst bekam, nein, sie fühlte sich dort wohl, hatte aber immer das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren würde, wenn die Hütte in Sicht kam. Etwas, das sie schleunigst abwenden musste.

Es knackte unter den Schuhen. Der Pfad war mit Steinchen bedeckt, die die Klippen bei jedem Unwetter abschüttelten.

Rime war zurückgekommen. Rime An-Elderin.

Der Name sollte ihr leicht über die Lippen kommen, doch er lag ihr schwer wie ein Stein im Mund. Wie Seiks Gewichte, von denen alle wussten, dass sie zu schwer waren, aber wenn die Kontrolleure sie überprüften, waren sie es doch nicht. Der Kaufmann hatte zwei Sätze, erzählte man sich.

Genauso war es mit Rime. Er hatte zwei Namen. Er hatte Elveroa mit dem kurzen, leichten Namen verlassen, mit dem sie ihn angesprochen hatte, seit sie neun Winter alt war; und nun kam er mit dem langen, schweren Namen zurück, der ihn fort von hier und zum Gut seiner Familie hinter den weißen Mauern des Sehers in Mannfalla geführt hatte. Das war eine ganze Welt von hier entfernt.

Sylja auf Glimmeråsen konnte vom goldbesetzten Mannfalla fantasieren, bis die Sonne unterging, aber da Hirka die meiste Zeit ihres Lebens in einem rot gestrichenen Wagen auf den Straßen verbracht hatte, war sie zufrieden mit der Hütte, die sie ihr Zuhause nennen konnte. Ein Ort, von dem sie sagen konnte, sie komme von dort. Was brauchte man mehr?

Sie blieb abrupt vor der Tür stehen. Der Korb! Sie hatte den Korb vergessen. In ihm waren alle Kräuter, die sie den ganzen Tag über gesammelt hatte. Sie lagen noch an der Alldjup-Schlucht, aber sie konnte sie dort nicht zurücklassen. Morgen war Mittsommer. Im Wald würde es dann vor abergläubischen Dörflerinnen wimmeln, die Kräuter pflückten, um von ihrem zukünftigen Liebsten zu träumen. Das waren Kräuter, die sie auf dem Markt verkaufen konnte.

Hirka wandte sich zum Gehen, doch da hörte sie ein Geräusch. Etwas schabte und kratzte innen an den Wänden. Dann war es wieder still. Sie stand wie versteinert auf der Treppe. Sie waren hier! Der Rat war gekommen, um sie zu holen!

Reiß dich zusammen! Du bist für den Rat ohne Bedeutung.

Hirka öffnete die Tür. Sie hatte erwartet, dort drinnen Vater zu sehen, doch das Zimmer war leer. Leerer als sonst. Rachdorn und Sonnentränen hingen von der Decke, aber alle fertig getrockneten Kräuter waren fort. Zwei Wände bedeckten Regale, auf denen Schachteln und Kruken in allen Größen und Formen standen, doch die untersten Regalböden waren leer. Nur schwache Umrisse der Gefäße zeichneten sich in einer dünnen Schicht Ruß von der Feuerstelle ab. Eine der Truhen, die auch als Bank dienten, stand offen. Darin herrschte eine einzige Unordnung, als habe Vater die Sachen aus den Regalen einfach hinunter in die Truhe gefegt. Tee, Fliederbeeren, Rotwurzel, Salben und Tinkturen, Amulette und Seherschmuck.

Hirka holte eine vertraute, zerkratzte Spandose heraus und drehte sie in ihrer Hand hin und her. Das war Immerkraut. Eingelagerter Tee von Himlifall. Die Gabe dort war stark und man musste Draumheim schon nahe sein, wenn man sich nach einer Tasse davon nicht besser fühlte. Das waren die Dinge, die sie jeden Tag verkauften. Die Unruhe in ihr wuchs und zerriss ihr fast die Brust.

Da war das Kratzen wieder. Hirka stellte die Spandose zurück an ihren Platz auf dem Regal und ging nach draußen. Sie folgte dem Geräusch um die Hausecke zur Meerseite und achtete darauf, die Füße dort hinzusetzen, wo Gras wuchs. Sie bewegte sich leise, ohne zu wissen, warum. Sie spähte um die Ecke. Die Unruhe wurde zur Gewissheit, so schwer, dass sie sich um ihre Füße legte.

Vater saß im Rollstuhl und schabte mit einem rostigen Spaten die rote Farbe vom alten Wagen ab, den sie vorher noch nie gesehen hatte. Er musste ihn ausgeliehen haben. Das einzig Blanke daran war die kürzlich geschärfte Kante. Sie schrammte winselnd übers Holz, wenn Vater den Spaten nach oben schob. Vom Wagen fielen ausgeblichene Farbfetzen ab, die wie Herbstlaub um seine Füße herum liegen blieben.

Schweiß färbte den Rücken von Vaters Hemd dunkel. Blutadern liefen über seine Arme und versuchten, sich um die Muskeln zu legen, aber das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Vater war stark und das war für alle deutlich zu erkennen, weil er die Ärmel all seiner Hemden abgeschnitten hatte. Hirka konnte sich an eine Zeit erinnern, als er sie wie alle anderen Leute getragen hatte, aber das war lange her.

»Willst du weg?«, fragte sie und merkte, dass sie die Arme vor der Brust verschränkt hatte. Sie hoffte, dadurch stärker auszusehen.

Vater unterbrach seine Arbeit und schaute sie schuldbewusst an. Doch er hatte sich gleich wieder unter Kontrolle. Er war ein Mann aus Ulvheim. Er stieß den Spaten in den Boden, doch er kippte ins kurze Gras. Denn noch nicht einmal Vater konnte einen Spaten dazu bringen, in Stein stecken zu bleiben. Er fuhr sich mit der Hand über das raspelkurze Haar, dass es sich anhörte wie Schmirgelleder.

»Der Rabe ist gekommen«, sagte er.

Hirka wusste es. Sie hatte es gewusst, als sie Rime sah. Der Rabe war gekommen. Eisvaldr hatte die Tage des Rituals festgelegt.

Wie viel Zeit habe ich noch?

Vater beugte sich vor und hob den Spaten wieder auf. Er schabte weiter Farbe ab.

»Hast du Fortschritte gemacht?«, fragte er. Hirka spannte die Kiefermuskeln an. Warum konnte er es nicht freiheraus sagen? Sie war schuld, dass sie sich wieder auf den Weg machen mussten.

»Willst du weg?«, fragte sie noch einmal.

Vater griff in die Räder und drehte den Rollstuhl herum, sodass er ihr gegenübersaß. Er hievte sich hoch, bis er fast über dem Sitz schwebte, mit dem ganzen Körpergewicht auf den Armen.

Hirka wich einen Schritt zurück. Das war nicht gerecht. Ihr war klar, was er sich von ihr wünschte, es stand nur nicht in ihrer Macht, es ihm zu geben. Und warum sollte sie auch? Sie konnte eine Menge anderer Dinge. Würde man sie verurteilen wegen der einen Sache, die sie nicht konnte?

»Nein. Ich kann nicht umarmen. Und wenn schon? Das ist doch bestimmt früher schon mal vorgekommen. Ich kann doch nicht die Einzige sein?«

Ihre Frage blieb unbeantwortet. Er wusste, dass sie nicht umarmen konnte. Er hatte es immer gewusst. Warum war es ausgerechnet heute wichtig?

Das Ritual. Alles drehte sich um das verfluchte Ritual.

Das kalte, lähmende Gefühl stellte sich wieder ein. Ihr Herz schlug schneller.

»Das ist doch bestimmt früher schon mal vorgekommen?!«, wiederholte sie. »Ich kann unmöglich die Einzige auf der Welt sein? In allen elf Reichen?«

Vater schaute sie an. Seine Augen saßen tief und waren nicht ganz gesund, wie die Beine auch. So war das also. Sie war eine Missgeburt, die nicht umarmen konnte. Sie war blind für die Gabe. Betrogen um das, was alle anderen hatten. Sie besaß keine Gabe. Und keinen Schwanz. Wie ein Echo schossen ihr Kolgrims Rufe durch den Kopf.

Schwanzlos …

Hirka drehte sich trotzig um und ging weg. Sie hörte, dass Vater nach ihr rief, aber sie blieb nicht stehen. Am Ende des Felsvorsprungs kletterte sie auf die höchste der drei Birken, die dort standen. So hoch, wie sie konnte, bis die Zweige zu dünn wurden. Sie setzte sich dicht an den Stamm und schlang die Arme darum, um nicht hinunterzufallen. Ihre Hand brannte, die Wunde blutete wieder. Sie hatte sie vergessen.

Rime ist zurück.

Hirka schämte sich plötzlich. Sie benahm sich wie ein kleines Kind. Nichts wurde anders, nur weil sie auf einen Baum kletterte. So etwas machten Erwachsene nicht, so verhielten sich normale Leute nicht. War es da merkwürdig, dass sie draußen auf den Straßen gelebt hatten? War es da ein Wunder, dass sie nichts mit anderen Leuten zu tun hatten, außer um ihnen zu helfen, wenn sie krank waren? Das war kein bisschen merkwürdig. Das war ihre Schuld. Sie war nicht so, wie sie sein sollte.

Hirka umklammerte den Baumstamm fester.

Sie hatte Vetle gerettet. Zählte das nicht?

Nein, Vetle wäre allein zurechtgekommen. Sie war es nicht. Rime hatte sie gerettet. Aber sie hatte sich getraut, es zu versuchen! Sie hatte sich vieles getraut. Sie hatte im frühen Helfmond im Streitwasser gebadet, noch ehe das Eis getaut war. Sie war von der Schwarzklippe gesprungen, während das ganze Pack dabeistand und glotzte. Hirka hatte vor nichts Angst. Warum dann vor dem Ritual?

Weil Vater Angst hatte.

Vater hatte Angst. So viel Angst, dass er Elveroa verlassen wollte. Den alten Wagen herrichten und das Leben auf den Straßen wieder aufnehmen. Wunderkuren an Leute verkaufen, die ihnen zufällig über den Weg liefen, und aus immer denselben Knochen Tag für Tag Suppe kochen. Ein Leben, das jetzt unmöglich war, weil er nicht mehr gehen konnte. Aber er wollte es trotzdem. Abhauen. Warum? Was war die schlimmste Strafe, die der Rat für ein Mädchen vorsah, das nicht umarmen konnte?

Hirka wollte nicht daran denken. Sie zählte stattdessen die Blätter an der Birke. Nach sechshundertzweiundfünfzig Blättern war ihr, als höre sie Vater erneut rufen. Sie reagierte nicht. Und er rief auch nicht noch einmal.

Die Rabenringe - Odinskind

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