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Der leere Stuhl

Was ist ein Vater?

Ein Lehrer? Ein Fels in der Brandung? Ein Leitstern? Sein Leben lang hatte Urd andere all dies über seinen Vater sagen hören. Doch für ihn war sein Vater nichts weiter als eine blutbespritzte Holzbütte mit rotem Fleisch. Sein Vater war tot. Spurn Vanfarinn war tot.

Die Schwere dieses Todesfalls – dieses Namens – hatte wie eine Flutwelle alle elf Reiche erfasst. Mannfalla war eine Stadt in Trauer. Der Rat war erschüttert vom Verlust eines seiner Zwölf. Der Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können, sagte man.

Perfekt.

Spurn Vanfarinn hinterließ bedeutende Reichtümer und einen leeren Stuhl im Insringin. Urd interessierte nur Letzteres. Er stand mit geradem Rücken da und spürte, wie der Schweiß von seiner Stirn in die Augenwinkel perlte, blinzelte aber nicht. Heute war der wichtigste Tag in seinem Leben. Er war kurz davor. Ganz kurz davor. Jetzt wurde es ernst. Jetzt war er perfekt. Der perfekte Sohn. Der perfekte Nachfolger.

Zehn von den elf im Insringin standen vor ihm. Ein versammelter Rat. Mannfalla stand hinter ihm. Ein lautloses Volksmeer, gebändigt durch Hitze und Trauer. Die Rabenträgerin stand so dicht bei ihm, dass er sie fast hätte berühren können. Die Trommeln, die die Prozession bis hinauf zur Hochebene begleitet hatten, waren zu kaum hörbaren Seufzern gedämpft worden. Es war so weit.

Die Türen hinter ihm wurden aufgestoßen und eine Wolke aus Raben färbte den Himmel schwarz. Sie umkreisten erstaunlich lautlos die Klippen. Die Rabenträgerin machte das Zeichen des Sehers und leerte die Bütte vor sich auf dem Boden. Sie trat einen Schritt zurück und ließ die Raben fressen.

Spurn Vanfarinn war nicht mehr als ein paar blutige Stücke Fleisch. Ganz kleine Stücke. Urd hätte sich nie träumen lassen, ihn so klein zu sehen. Ohne Gesicht. Ohne Knochen. Zerpflückt. Kein großer Mann mehr. Überhaupt kein großer Mann mehr. Urd unterdrückte ein Lächeln. Der Kampf war zu Ende. Der stille Krieg, den er seit seiner Kindheit geführt hatte. Seit sein Vater ihm geifernd ins Gesicht geschleudert hatte, er sei genauso wenig Ratsherr wie die Huren unten am Fluss und dass er der erste Bruch in einer siebenhundert Jahre alten Reihe von Ratsmitgliedern sein werde.

Der einzige Nachteil an Vaters Tod war, dass er nicht Zeuge seines eigenen Irrtums werden durfte. Sofern nicht die Gabe ihm diese Gewissheit zutrug, irgendwo in der Ewigkeit.

Die Stücke, die seinen Vater einmal ausgemacht hatten, wurden immer weniger und immer kleiner. Er wurde verschlungen. Er wurde auf schwarz glänzenden Schwingen davongetragen. Er wurde langsam, aber sicher verzehrt. Zusammen mit seiner unendlichen Verachtung für seinen ältesten Sohn. Diese Verachtung hatte Urd in die Finsternis getrieben, noch ehe er alt genug für das Ritual war. Hinein in ein düsteres Spiel, das ihn fast alles gekostet hatte. Erst jetzt hatte es Früchte getragen. Jetzt, fünfzehn Jahre später, gedachte er die Steintore eigenhändig zu öffnen. Nach und nach hatte er das bekommen, was ihm versprochen worden war.

Die ärgerliche Frage tauchte wieder auf. Warum erst jetzt? Warum nach so langer Zeit? War damals etwas durchgeschlüpft? Ungesehen? Blut, das in Ymsland gereift war?

Ausgeschlossen! Er war stärker geworden. Das war der einzige Grund. Aber er konnte ja beim Ritual die Augen offen halten. Obwohl niemand es wagen würde, dergleichen vor ihm zu verheimlichen. Niemand. Nicht einmal Er.

Urd überlief es kalt und er bekämpfte den Impuls, sich an den Hals zu fassen. Da war nichts. Nichts. Nur die üblichen Schmerzen. Der Halsreif lag eng an wie immer. Niemand konnte etwas sehen. Wie er die ständige Angst hasste, dass jemand etwas sehen könnte.

Die Trommeln waren wieder lauter zu hören. Die Raben wurden zurückgerufen. Das Rot auf dem Klippenrand war alles, was von seinem Vater noch übrig war. Es vermischte sich mit den dunkelbraunen Tönen der vielen Hundert Generationen von Ratsmitgliedern, die von hier aus schon in die Ewigkeit eingegangen waren.

Urd machte sich bereit. Es oblag dem Rat und dem Seher, einen Nachfolger in den Insringin zu wählen. Jetzt bot sich ihm die beste Gelegenheit, seine Chancen zu steigern. Alle würden an ihm vorbeigehen und ihr Beileid bekunden. Er schluckte. Tyrme Jekense war der Zweite in der Reihe. Familie Jekense hatte nicht viel übrig für die Vanfarinns, aber Urd hatte einen Trumpf im Ärmel. Tyrmes Bruder schuldete ihnen eine hübsche Summe Geld.

Tyrme gab ihm die Hand und sprach ihm seine Anteilnahme aus. Urd bedankte sich, beugte sich ein wenig zu dem hochgewachsenen Mann und flüsterte ihm zu: »Alle Verpflichtungen meinem Vater gegenüber sind natürlich mit ihm gestorben.«

Tyrme sah einen Augenblick lang erstaunt aus, bedankte sich aber und ging weiter.

Das Ergebnis war ungewiss, aber Urd hatte getan, was er konnte. Die nächste Person zu beeinflussen, war bedeutend einfacher.

Miane Fell hatte genauso lange mit Vater im Rat gesessen, wie Urd auf der Welt war. Sie hatten ein gutes Verhältnis und Urd war etwas in ihren Augen aufgefallen. Sie hatte seinen Vater geliebt. Das beruhte wohl kaum auf Gegenseitigkeit und er war sich nicht ganz sicher, aber er musste das Risiko eingehen. Mianes Augen waren geschwollen und feucht, als sie Urds Hand ergriff, und schon fühlte er sich sicherer. Er lächelte die alte Frau an und flüsterte: »Vater sagte, sein einziger Kummer im Leben sei es gewesen, dass er nicht bei dir sein konnte.«

Mianes braune Augen füllten sich mit Tränen. Sie starrte ihn eine Weile ungläubig an, ehe sie die Augen zusammenkniff und seine Hand an ihre Stirn führte. Urd meinte zu spüren, wie ihr Rabenzeichen auf seiner Handfläche brannte. Er lächelte. Es war so gut wie vollbracht.

Die Rabenringe - Odinskind

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