Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 15
Die Schlägerei
ОглавлениеHirka wachte vom Geschrei der Möwen in der Ferne auf. Sie ging ans Fenster und schlug die Läden zurück. Es war früh am Morgen. Die Fischer waren zurückgekehrt und nahmen unten an den Bootsstegen ihren Fang aus, umgeben von gierigen Vögeln, die über ihren Köpfen kreisten. Fische zappelten in Bottichen, ohne dass es ihnen etwas genützt hätte. Weiter draußen trug das Meer weiße Schaumkronen. Nur ein paar silbern gesäumte Wolken verrieten, wo sich die Sonne versteckte.
Vom Wind bekam sie Gänsehaut auf den Armen. Auf Glimmeråsen hatten sie buntes Glas in den Fenstern. Hirkas Fenster war nur ein Loch in der Wand, was doch viel besser war. Hier konnte man riechen, wie der Tag werden würde. Und Dinge sehen, wie sie wirklich waren. Durch Glas wurde alles verzerrt. Wie in einem Traum. Sie hatte in der Nacht geträumt. Davon, durch den Wald zu schweben. Von Raben. Von … Rime?
Die Wirklichkeit holte sie ein wie der Gestank von verfaultem Fisch. Übelkeit drückte ihr auf den Magen. Vater war nicht Vater. Er hatte sie gefunden. Sie aufgesammelt. Hatte sie mitgenommen wie einen seltenen Stein oder eine Rabenfeder. Sie war eine Zurückgelassene. Eine Ausgestoßene. Und sie war nicht vom Geschlecht der Ym.
Hirka trat von der Fensteröffnung zurück. Sie griff nach dem Bettpfosten, um sich ans Vergessen zu klammern, das sie noch vor ein paar Augenblicken eingehüllt hatte. Das morgendliche Vergessen. Die befreiende Leere, bevor sie richtig wach gewesen war. Doch die rann ihr wie Sand durch die Finger. Sie erinnerte sich.
Sie war weggelaufen. Zur Alldjup-Schlucht. War gestolpert. Der Korb und der Rabe. Dann war sie eingeschlafen. Vater musste unten bei Isen-Jarke gewesen sein, damit er ihm half, sie nach Hause zu tragen. Wie ein hilfloses Kind. Als sei sie Vetle. Hirka senkte den Blick.
Sie trug einen weißen Verband um die Hand. Das Unterhemd hatte sich ihr im Schlaf eng um den Körper gewickelt. Sie sah aus wie ein ausgewrungener Waschlappen. Die anderen Kleidungsstücke waren fort. Sie hingen vielleicht zum Trocknen irgendwo. Sie musste nach draußen. Sie musste den Wind auf dem Gesicht spüren.
Hirka öffnete die Tür zur Stube. Sie knarrte verräterisch. Vater zuckte in seinem Stuhl zusammen. Er griff nach einem Mörser und begann, Kamille zu zerstoßen, als sei er nur für einen Augenblick lang eingenickt. Sie sah, dass er sich gar nicht schlafen gelegt hatte. Das Feuer war nicht frisch angezündet. Es glomm nur. Auf dem Tisch herrschte ein einziges Durcheinander aus Pflanzen, Schachteln, Kruken und Dosen mit Salben. Er hatte die ganze Nacht gearbeitet.
»War das alles?«, fragte er heiser und nickte zu ihrem Korb, der auf dem Tisch stand. Hirka wurde klar, dass er beschlossen hatte, heute solle ein ganz normaler Tag sein. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Auf jeden Fall mehr als nichts. Sie fühlte sich bleischwer von Dingen, die sie sagen wollte, an die sie sich aber nicht mehr richtig erinnern konnte. Sie nahm ihre Kleider ab, die über einem Dachbalken hingen. Sie waren trocken.
»Ich war fast ganz oben am Gardakolk«, sagte sie, während sie sich die Hose anzog. Das Loch im Knie war größer geworden. Das musste warten. »Und ich habe Rime getroffen«, fügte sie hinzu. Sie hörte den Trotz in ihrer Stimme, aber wenn Vater nicht zugeben wollte, dass alles anders war, dann musste sie sich eben der Sache annehmen. Sie schaute ihn an, aber er reagierte nicht. Nicht einmal ein widerwilliges Brummeln kam von ihm.
»Ich habe Sonnenträne gefunden«, sagte sie, als die Stille zu erdrückend wurde.
»Gut. Das halbe Dorf will sie heute Abend fürs Feuer haben. Ich packe dir etwas ein. Gib …«
»… dich nicht mit Leuten ab und sprich so wenig wie möglich«, fiel Hirka ihm ins Wort. Er schaute ihr in die Augen.
»Gib keinem etwas, der nicht sofort bezahlt. Münzen oder gar nichts.«
Hirka schnitt sich eine Ecke vom Ziegenkäse ab, während Vater ihr erklärte, wohin sie musste. Hirka wusste Bescheid, wer was bekam, ließ ihn aber weiterreden. Der vollgepackte Korb verriet, dass sie zu vielen Leuten gehen musste. Brustsalbe für Ulla, so viel, dass sie etliche Monate damit auskommen würde. Minztee für Kvitstein. Er hatte den größten Ofen und verkaufte ans ganze Dorf Brot aus einem Sauerteig, vom dem sich die Leute erzählten, schon sein Urgroßvater habe ihn verwendet. Doch vom Mehl bekam er Atemnot. Die Minze linderte es ein wenig und Hirka hatte davon genug im Korb, dass es ausreichte, bis der Schnee kam.
Vater hielt sie wohl für dumm wie ein Schaf und glaubte, sie verstünde nicht, was das zu bedeuten hatte. Das hier war ihre letzte Runde in Elveroa und er hatte nicht vor, darüber auch nur ein Wort zu verlieren. Sie würden sich wieder auf den Weg machen. Wie das mit Vater im Rollstuhl gehen sollte, überstieg ihre Vorstellungskraft, aber wenn er sich einbildete, sie würde ihn fragen, dann hatte er sich geschnitten. Sie steckte sich ein gekochtes Ei in die Tasche, nahm den Korb und ging nach draußen.
Sie machte einen großen Bogen um Glimmeråsen, um nicht mit Sylja sprechen zu müssen. Eigentlich wollte sie mit überhaupt niemandem reden, aber das war wohl nicht gut möglich. Der Rabe war gekommen. Die Leute würden sich um das Seherhaus versammeln.
Unten in der Talsenke floss der Streitwasser breit und ruhig dahin, als habe er alle Zeit der Welt. Ihre Füße trugen sie ans Flussufer. Sie kniete sich hin und guckte über die Uferkante. Ihr eigenes Gesicht schaute sie halb erschreckt an. Sie konnte nichts entdecken, was anders als sonst war. Ihre Haare waren noch genauso rot. An einigen Stellen kurz, an anderen lang und mit denselben zerzausten Zöpfen. Konnte man ihr ansehen, dass sie nicht so war wie andere?
Kleine Bewegungen im Wasser rissen ihr Gesicht auseinander und setzten es wieder zusammen, als sei sie ein Gespenst. Ein Spiegelbild, das nur halbwegs existierte. Und ließen die etwas spitzen Eckzähne sie nicht aussehen wie ein Tier?
»Hirka!« Syljas Stimme durchschnitt die Luft wie eine Sense.
Hirka schnellte erschrocken hoch.
»Wo warst du gestern? Du hast ja alles verpasst!« Sylja verdrehte die Augen und packte Hirka am Hemd. Hirka gelang es gerade noch, sich den Korb zu greifen, ehe Sylja sie mit sich über die Holzbrücke zog. Syljas Kleid tanzte um ihre Knöchel. Es hatte die gleiche Farbe wie das Meer und trug gestickte Kleeblätter auf der Brust und an den Säumen. Es war noch schöner als ihre Alltagskleider und das ließ Hirka das Schlimmste befürchten.
»Der Rabe ist gekommen!«, strahlte sie. »Das habe ich schon gestern gewusst, aber du warst nicht zu Hause. Komm! Sie rufen die Tage fürs Ritual aus!«
»Jetzt? Heute?« Hirka spielte die Erstaunte und unternahm einen halbherzigen Versuch, sich zu befreien.
»Ja, jetzt, heute! Vor der Morgenmesse. Hirka, was würdest du nur ohne mich machen?«
Sylja zog sie gnadenlos mit sich zum Festhallenplatz. Da ging der Vorsatz, sich von Leuten fernzuhalten, in Rauch auf. Das würde ohne Umwege ins Draumheim führen. Hirka schluckte.
»Ich kann nicht, Sylja, ich muss …«
»Und weißt du, was?« Sylja blieb mitten auf dem Abhang hinter der Bierstube stehen. Sie blieb immer stehen, wenn sie etwas wirklich Dramatisches zu erzählen hatte. Etwas, was volle Aufmerksamkeit forderte. Ihre Augen strahlten vor Tratschlust und sie packte Hirka an beiden Armen. »Du rätst nie, wer hier ist!«
Rime … Hirka biss sich auf die Lippe, um seinen Namen nicht auszusprechen.
»Rime! Todernst, Hirka! Rime An-Elderin und kein anderer. Er wird Ilume-Madra fürs Ritual zurück nach Mannfalla bringen.« Sylja verdrehte die Augen. Das tat sie oft.
»Mannfalla, Hirka! Bald sind wir dran.« Sylja zog sie weiter mit sich. Bei dem Gedanken daran, wie viele Leute sich gerade auf dem Platz versammelten, wurde ihr übel. Wäre Sylja nicht gewesen, hätte sie sich vielleicht in den Schatten am Rand entlangdrücken können, aber …
»Mal ehrlich, Hirka! Ich glaube nicht, dass du gewusst hättest, was irgendwo passiert, wenn ich nicht gewesen wäre! Du hast bestimmt auch noch nicht gehört, dass Audun Brinnvág sich das Genick gebrochen hat, oder?«
»Wer?«
»Brinnvág! Der Jarl auf Skodd? Sie sagen, er ist im Suff aus dem Fenster gefallen. Aber weißt du, was?« Sylja beugte sich zu Hirka und flüsterte: »Sie schwören, sie hätten was auf dem Dach gesehen. Einen Schatten!«
»Wer schwört das?«
»Die Leute! Oder die Diener? Das ist doch egal! Er war ein Freund von Ravnhov. Ich glaube …« Sylja blickte sich verstohlen um, ehe sie weitersprach. »Ich glaube, dass die Schatten ihn geholt haben. Die Krieger, die keiner sieht und die nie sterben.«
An einem normalen Tag hätte Hirka gelacht. Hätte auf die mangelnde Logik hingewiesen, dass jemand Schatten auf dem Dach gesehen haben wollte, die unsichtbar waren, nur um nicht das Wort Schwarzröcke auszusprechen. Und die sollten Krieger sein, die nie sterben konnten? Alle konnten sterben. Auch Schwarzröcke, wenn es sie denn gab. Aber sie brachte kein Wort heraus. Sie war ja selbst etwas, was es nicht geben sollte. Etwas, was nur in der Fantasie der Leute gelebt hatte. Bis gestern.
Die Straßen waren schwarz vor Leuten. Die niedrigen Steinhäuser standen Wand an Wand zu beiden Seiten der Straße. Einige dienten als Wohnung und zugleich als Kaufladen. Die Häuserreihen öffneten sich zu einem gepflasterten Marktplatz vor der Festhalle des Sehers. Es herrschte Hochbetrieb, Stände und Waren wurden beiseitegeräumt, um Platz für die Ausrufung zu schaffen.
Sylja ließ jäh Hirkas Arm los, ein sicheres Zeichen, dass die übrigen Bewohner von Glimmeråsen nicht weit sein konnten. Und ganz richtig, da kamen Syljas Eltern über den Markt, im Gefolge um Ilume und Ramoja. Die lauten Gespräche verstummten, nur gedämpftes Flüstern war noch zu hören. Hirka bekam schweißnasse Hände. Sie zog sich in die Menge zurück. Das war nicht schwierig, weil alle weiter nach vorn wollten.
Das Volk wich vor Ilume zur Seite, als ginge ihr ein unsichtbarer Pflug voraus. Sie war ein strahlendes Gesicht in nachtschwarzem Ratskittel, der mit Gold eingefasst war. Es sah aus, als schwebte sie über den Boden. Drei Leibgardisten gingen hinter ihr, Syljas Mutter Kaisa auf der linken Seite. Ilume sprach nicht. Kaisa war meistens für das Reden zuständig und sie hatte ein Lächeln aufgesetzt, das nicht echt aussah. Sie klebte fast den ganzen Weg die Treppe hinauf an Ilume, während sie die Leute scharf musterte, um sich zu vergewissern, dass alle sie sahen, wie sie da zusammen mit Ilume-Madra ging. Mit der Ratsmutter. Eine der Zwölf im Insringin. Dem Seher so nahe, wie man Ihm nur kommen konnte.
Hirka fühlte sich unendlich nackt und sichtbar. Sie machte sich so klein wie möglich. Sylja ging zu ihren Eltern und Hirka war erleichtert, dass sie ihr den Rücken zukehrte. Jetzt konnte sie sich davonstehlen. Es gab nur ein Problem. Sie stand mitten in der Menge, die vollkommen still geworden war. Wenn sie losliefe, würden alle sie ansehen. Vater glaubte immer das Schlimmste von den Leuten, darum hatte sie zu ihnen Abstand gehalten, ohne das Gefühl von Gefahr zu verstehen. Aber heute verstand sie es. Heute wusste sie, warum sie anders war. Warum sie sich verstecken sollte. Aber gerade jetzt blieb ihr keine Wahl. Sie musste bleiben, bis das Ausrufen zu Ende war. Der Herzschlag in ihrer Brust wanderte höher.
Hirka konnte nicht über alle Köpfe vor sich hinwegschauen, aber sie wusste, was vor sich ging. Es war jedes Jahr das Gleiche. Sie schaute sehnsüchtig zu dem Torfdach hinauf, wo sie im Vorjahr gelegen und das gleiche Ritual verfolgt hatte. Ilume stand mitten auf der Treppe, wenige Schritte hinter ihr Ramoja, beide umgeben von Leibgardisten. Ramoja hob den Raben hoch, der den Brief aus Mannfalla gebracht hatte. Dann wurde der Brief Ilume überreicht, als hätte sie ihn nicht schon gelesen. Sie öffnete die schmale Rolle und las.
Zum letzten Mal, wie Hirka schlagartig klar wurde. Ilume würde Elveroa verlassen, sagten die Leute. Wer würde im nächsten Jahr das Ritual ausrufen? Vielleicht der Schriftgelehrte, er, der in der Seherfesthalle das Sagen hatte. Oder Ramoja? Hirka spürte, wie ihr Körper steif wurde. Im nächsten Jahr? Würde sie im nächsten Jahr hier sein? Gab es nach dem Ritual für sie noch etwas? Sie schaute in die Gesichter um sich herum. Alle waren gekommen, um zu erfahren, wann das Ritual stattfinden sollte. Würde es früh im Herbstmond abgehalten, dann hatte sie noch zwei Vollmonde zu leben.
Ilumes Stimme trug über den ganzen Marktplatz.
»Der Rabe ist gekommen!«
»Der Rabe ist gekommen!«, jubelte die Menge und riss die Arme hoch. In früheren Sommern hatte Hirka in sich hineingelacht über die feierlichen Gesten, die das Ausrufen begleitete. Heute gab es nichts zu lachen. Sie konnte sehen, wie Ilume die Hand hob und die Leute verstummten wie gehorsame Hunde, sodass die alte Frau fortfahren konnte.
»Das Siegel ist das des Rates«, sagte sie. Eine Versicherung dessen, dass die folgenden Worte nicht von jemand anderem stammten.
Gebt es bekannt.
Der Seher beschützt all jene, die zu Ihm kommen.
Gebt es bekannt.
Seine Hand hält Er schützend über all jene, die in Finsternis leben.
Diese Worte kamen Hirka wie Hohn und Spott vor, da sie Sicherheit, Nähe, Schutz versprachen und ihr doch all das verwehrt wurde. Sie verdiente den Schutz nicht, den alle anderen bekamen. Ilume wartete schweigend ab, während die Menge Bestätigung murmelte und die Hände vor der Brust zum Zeichen des Raben kreuzte. Hirka bekam kaum Luft. Sie versuchte, sich ganz aus der Menge herauszuziehen, steckte aber zwischen zu vielen Leuten fest.
»Der Rabe ist gekommen«, wiederholte Ilume. »Das Siegel ist das des Rates. Der Termin für das Ritual steht.«
Hirkas Herz schlug schneller. Jetzt wurden die Tage verkündet.
»Im 998. Jahr des Sehers wird das Ritual im Heumond stattfinden. Am achtzehnten Tag für Elveroa und die umliegenden Dörfer. Die Worte des Rates sind endgültig.«
Heumond? Heumond?! Hirka wurde schwindelig. Das musste ein Irrtum sein! Im nächsten Monat! Sie konnten das Ritual doch nicht einen ganzen Monat vorziehen! Sie schaute sich verwirrt um und stellte fest, dass sie mit ihrer Verwunderung nicht allein war. Massenhaftes Murmeln wuchs zu Rufen an. Sie war nicht die Einzige, die überrascht war. Aber die Leute um sie herum hatten ganz andere Gründe für ihren Unmut.
Eine Stimme übertönte die anderen. Hirka meinte zu erkennen, dass sie Alder gehörte, einem Ziegenbauern von der Nordseite.
»Das ist mitten in der Ernte! Niemand kann im Heumond von seinem Hof weg!«
Ilume hob die Handfläche und der Tumult verstummte.
»Hast du gegen den Willen des Rates etwas einzuwenden, Bauer?« Ihre Stimme war frostig wie Raureif. Alder blieb stehen und zog an einem Hosenträger, ohne Antwort zu geben. Die Leute strömten zur Mitte des Marktplatzes in der Hoffnung, man werde die Türen zur Seherhalle öffnen. Vielleicht gab es ja im Verlauf der Messe eine Erklärung? Hirka hatte nicht vor, auf eine Erklärung zu warten, und sie hatte erst recht nicht vor, in die Seherhalle zu gehen. Sie wich in die schmale Gasse hinter den Lederbuden zurück und ließ sich gegen eine Wand fallen. Dort blieb sie stehen, halb verborgen hinter einem Stapel Ziegenfelle, während die Leute weiter über den ungewöhnlichen Zeitpunkt für das Ritual schnatterten. Das Ritual fand immer im Herbstmond statt. Immer. Warum diesmal nicht? Was sollte sie machen?
Ein allzu bekanntes Lachen riss sie aus den Gedanken. Sie streckte den Kopf vor und erblickte Kolgrim und seine Bande. Kolgrim, der sie und Vetle in der Alldjup-Schlucht fast auf dem Gewissen gehabt hätte. Sie sollte ihm so kräftig eine aufs Maul hauen, dass er liegen blieb! Hirka knurrte vor sich hin. Eigentlich war es das nicht wert. Er war bloß ein Schwachkopf. Er verdrosch Gleichaltrige mit der Faust, wenn ihm danach war, aber Hirka wollte nicht den Anfang machen. Sie konnte es nicht.
Aber Odinskinder können es …
Hirka machte einen Schritt von der Wand weg. Odinskinder konnten es. Emblatöchter. Mythische Monster mit falschen Zungen. Gewöhnliche Leute mussten sich benehmen, aber sie gehörte nicht mehr zu den gewöhnlichen Leuten. Sie war Fäulnis. Hirka spürte, wie sich ihre Lippen zu einem Grinsen verzogen, das sie nicht unter Kontrolle hatte.
Sie dachte nicht nach. Sie stellte den Korb an der Wand ab. Ihre Füße trugen sie zu Kolgrim. Er saß mit den anderen Bengeln von der Nordseite auf der Erde und kaute heimlich Rotwurzel. Als er sie kommen sah, kam er stolpernd auf die Beine. Hirka erkannte, dass er einen Augenblick lang Panik hatte. Das Bewusstsein, dass er weggelaufen war, als die Tanne brach, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Aber er hatte sich schnell wieder im Griff und lehnte sich an die Wand, als habe er keine einzige Sorge auf der Welt.
Hirka zeigte mit dem Finger auf ihn.
»Du hättest Vetle umbringen können!«
Es kribbelte in ihrem Körper. Eine berauschende Mischung aus Angst und Erwartung. Hirka hatte jetzt ein Ziel. Ihrer Wut und Angst konnte sie endlich freien Lauf lassen.
»Bist du so verflucht feige, dass du auf die losgehen musst, die sich nicht wehren können?«
Kolgrim lachte höhnisch.
»Wenn ich auf die losgehen würde, die sich nicht wehren können, dann würde ich auf dich losgehen, Schwanzlos.« Er grinste über seinen eigenen Scherz und erntete von den anderen, die immer noch auf dem Boden saßen, Zustimmung. Er nahm seinen Schwanz und wedelte ihr damit im Gesicht herum.
»So benutzt man ihn. Nicht als Wolfsfutter!« Die anderen brachen wie auf Bestellung in Gelächter aus. Wenn der wüsste. Was würde er wohl tun, wenn er wüsste, dass sie nie einen Schwanz gehabt hatte? Dass die Fäulnis vor ihm stand? Dass ein Kuss ihn in eine faulende Leiche verwandeln konnte, während die anderen dabei zusahen? Sie stellte sich vor, wie sein blasses Gesicht vor Misstrauen und Schrecken zerfloss, und lächelte von einem Ohr zum anderen.
Das ließ Kolgrim nach Angst riechen. Er warf einen Blick hinunter zu den anderen, doch von ihnen war keine Unterstützung mehr zu kriegen. Sie warteten auf ihn. Er versuchte einen neuen Dreh.
»Vielleicht sollten alle, die sich nicht wehren können, zusammenhalten?«, grinste er. »Wird es nicht Zeit, dass du Hirnlos versprochen wirst?«
Iben brüllte vor Lachen und die anderen stimmten ein. Das war genau das, worauf sie gewartet hatten. Hirka machte einen Schritt auf Kolgrim zu.
»Er heißt Vetle!«
»Stellt euch mal vor, was für ein schönes Paar«, fuhr Kolgrim fort, angefeuert von Iben. »Hirnlos und Schwanzlos!«
Hirka lächelte schief. »Machst du mir etwa einen Antrag, Kolgrim?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, bis die Beleidigung in seinem Dummschädel angekommen war. Kolgrims Grinsen erlosch langsam.
Er stürzte sich auf sie. Sie fielen zu Boden. Hirka hörte die anderen rufen, während sie sich mit Kolgrim herumwälzte. Er feuerte einen Faustschlag in ihr Gesicht ab, sie konnte ihn jedoch mit dem Ellenbogen abwehren. Der traf ihn über dem Kiefer und er schrie auf. Sie versuchte sich freizukämpfen, doch Kolgrim war sehr viel schwerer als sie. Und er war jetzt verzweifelt. Er tastete nach etwas und dann reckte er die Faust hoch über ihren Kopf. Sie wirkte plötzlich doppelt so groß.
Ein Stein! Er hatte einen Stein.
Der ist krank im Kopf!
Hirka stemmte die Hüften hoch, um ihn abzuwerfen, wusste aber, dass sie keine Chance hatte. Leute kamen angelaufen. Der Stein sauste direkt auf ihren Kopf zu. Sie hörte jemanden aufkeuchen. Irgendwer rief etwas, ganz dicht neben ihr. Eine raue Stimme, ein Wort, das sie nicht kannte. Es kribbelte in ihrem Körper. Sie kniff die Augen zu. Dann knallte es.
Sie fühlte nichts. Warum fühlte sie nichts? Sie öffnete die Augen einen Spaltbreit. Kolgrim saß rittlings auf ihr mit einer Hand voll Kies. Der Stein war zersprungen. Einen Augenblick lang sah er verwirrt aus, ehe er seine Kameraden angrinste, als habe er überirdische Kräfte in den Händen. Etwas war passiert. Dieser heisere Ruf, den sie gehört hatte.
Hirka sah ihre Chance, während Kolgrim auf ihr saß und ein zufriedenes Gesicht machte. Sie spannte sich an, um ihm einen Schlag in den Bauch zu verpassen, aber plötzlich verschwand ihr Ziel. Kolgrim wurde hochgehoben wie ein zappelnder Fisch, um dann ein Stück weiter auf den Boden gedonnert zu werden.
Hirka blinzelte hoch. Rimes Umrisse zeichneten sich vor der Sonne ab. Sie versuchte aufzustehen, fiel aber wieder hin. Rime bekam davon nichts mit – er durchbohrte Kolgrim mit Blicken.
»In dir steckt nicht viel Kerl, wenn Worte reichen, damit du den Kopf verlierst, Kolgrim!«
Iben lachte auf, verstummte aber, als Kolgrim ihn wütend anstarrte. Hirka suchte mit den Augen die Menge ab, die sich um sie geschart hatte. Alle Augen waren auf Rime und Kolgrim gerichtet. Nur einer erwiderte ihren Blick: Hlosnian. Der alte Hlosnian. Der Steinmetz. Hirka kannte ihn gut. Sie hatte Öl für ihn in ihrem Korb.
»Hirka!«
Syljas Stimme war schrill vor Entrüstung. Ihre Mutter stand neben ihr und starrte Hirka an, während sie sich nach hinten lehnte. Es war, als wollte sie so viel Abstand wie möglich zwischen ihnen schaffen, ohne ihren Platz zu verlassen. Das lange Gesicht wurde noch länger, als sie die Augenbrauen hochzog. Ihre Lippen kräuselten sich, als würde sie verdorbenes Fleisch betrachten.
Sylja starrte Hirka mit einem stummen »Was machst du denn da?!« in den Augen an.
Hirka spürte, wie ihre Wangen rot anliefen. Rime redete mit Kolgrim. Seine Stimme war gedämpft, aber Hirka sah, wie er die Kiefermuskeln anspannte. Sie konnte nicht hören, was er sagte, aber Kolgrim zog sich zurück wie eine fauchende Katze. Schwarzhaarig und zornig. Sein Blick hing an Rimes Schwert. Dann kam er wieder auf die Füße und rannte mit seinen Kameraden vom Festhallenplatz.
»Ich muss schon sagen!«, kam es von Kaisa. Sie legte den Arm um Sylja, wie um ihre Tochter zu beschützen. »Was für ein Segen, dass du hier bist, Són-Rime!« Sie betonte den Titel sorgfältig, doch Rime schien sie kaum zu bemerken. Er ging auf Hirka zu, die den Blick senkte und feststellte, dass das Ei in ihrer Tasche zerbrochen und auf der ganzen Hose verschmiert war. Die Menge um sie herum war ein Ungeheuer mit hundert Augen. Hungrig, fremd, gefährlich. Und sie hatte nichts, womit sie sich hätte schützen können. Sie war eine Ausgestoßene.
Rime hielt ihr seine Hand hin. Er stand über ihr, stärker und geschmeidiger denn je, und bot ihr eine Rettungsleine an, weil er nicht wusste, dass sie wie die Pest war.
»Ist alles in Ord…«
»Ich hatte ihn!«, fiel sie ihm ins Wort und sah aus den Augenwinkeln, wie den Leuten die Kinnladen herunterfielen und sie gafften. Natürlich. Sie hatte vergessen, wer er war. Schon wieder.
»Du brauchtest nicht … Du hättest nicht …« Sie wich in die kleine Gasse zurück, schnappte sich im Vorbeilaufen den Korb und nahm die Beine in die Hand.