Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 17
ОглавлениеDer Steinflüsterer
Auf der Hügelkuppe hinter der Bierstube blieb Hirka stehen, um zu verschnaufen. Ihre Wangen brannten und es half nichts, sich einzureden, es liege daran, dass sie gerannt war. Seit zwei Tagen war er zurück. Zwei Tage hintereinander hatte sie sich wie ein Dummkopf benommen. Er hatte sie aus einer Schlägerei gezogen, als sei sie ein nicht zu bändigender Hund. Und die Leute … Einige hatten gelacht. Aber das war es nicht, was ihr zu schaffen machte.
Sie hatten sich um sie geschart. Sie angestarrt wie ein gefangenes Tier. Der ganze Hallenvorplatz war voller Leute gewesen. Vater wäre eine Ader geplatzt, wenn er sie gesehen hätte. Und sie hatte Zeit vergeudet. Die Messe hatte schon angefangen und jetzt war nirgends jemand zu Hause. Sie musste warten, bis sie alles in ihrem Korb abliefern konnte.
Hlosnian. Hlosnian war zu Hause. Er ging nie in die Seherhalle.
Er hatte auf dem Hallenvorplatz etwas gemacht. Er hatte Kolgrims Stein zertrümmert und sie davor bewahrt, dass ihr der Schädel eingeschlagen wurde.
Hirka ging den Hügel wieder hinunter, überquerte die Brücke über den Streitwasser und machte sich auf den Weg zu Hlosnians Haus auf der Nordseite. Das Haus war ein verfallenes Steingebäude, das einmal als Wirtshaus gedient hatte. Es hatte viele Räume, doch Hlosnian lebte allein. Wenn er nicht dort wohnen würde, wäre das Haus schon längst eingestürzt. Er schien es mit bloßer Willenskraft zusammenzuhalten.
Hirka folgte dem schmalen Pfad durch das hohe Gras bis zur Tür. An der Ecke hing eine verrostete Schildhalterung, aber die Tafel mit dem Namen des Wirtshauses war schon lange nicht mehr da. Ein Rabe flog auf und verschwand hinter dem Haus. Hirka erschrak. Er hatte so still dagesessen, dass sie ihn für einen Teil der Halterung gehalten hatte. Aber ein Rabe war immer ein gutes Zeichen.
Für alle anderen, nur für mich nicht.
Die Tür stand einen Spaltbreit offen und sie schlüpfte hindurch, ohne sie weiter aufzuschieben, aus Furcht, durch die geringste Bewegung könne das Haus beschließen, doch noch einzustürzen und sie lebendig zu begraben. Es war dunkel, sie konnte aber trotzdem sehen. Sie hatte Dunkelheit schon immer gemocht. In der Dunkelheit sah sie alles, aber niemand sah sie.
Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, weil das Bleiglas nach Glimmeråsen verkauft worden war. Ein Schanktresen. Zwei Tische. Keine Stühle.
»Hlosnian?«
Keine Antwort. Hirka hörte ein Schleifgeräusch und folgte ihm in einen Nebenraum. Hier fiel Sonnenlicht durch große, gewölbte Öffnungen in der Steinwand. Das war Hlosnians Werkstatt. Er saß in der Mitte des Raumes, ebenso sehr drinnen wie draußen. Sein Körper war über eine steinerne Figur gebeugt, die er gerade befeilte. Er saß mit dem Rücken zu ihr, vertieft in seine Arbeit.
Der Raum war einmal ein Stall gewesen. Er war in Verschläge unterteilt und roch heimelig nach Pferd. An einem Nagel in der Wand hingen ein Paar abgetragene Handschuhe ohne Finger. Sie wusste, dass er sie im Winter anzog.
Skulpturen und Steinblöcke stapelten sich in den Ecken. Große und kleine Meisterwerke, auf Haufen geworfen wie Brennholzscheite. Einige waren zerbrochen, andere nur angefangen. Eingefroren in ihrem Kampf, sich aus dem Stein zu schälen. Alles, was sie sah, war mit weißem Staub bedeckt.
Die meisten Skulpturen stellten Bäume dar. Gleich neben ihr stand ein weißer Baum, der ihr bis zur Brust reichte. Die Zweige sahen so lebendig aus, dass sie fast erwartete, sie würden sich bewegen. Sie streckte die Hand danach aus, um sie vorsichtig zu berühren.
»Du solltest nicht hier sein.«
Hirka zog die Hand zurück. Hlosnian saß noch immer mit dem Rücken zu ihr. Der Steinstaub tanzte in den Streifen aus Sonnenlicht und legte sich auf seinen blassroten Kittel. Er war das einzig Farbige im Raum.
»Ich mag keine Messen«, antwortete sie. Sie hatte keine Angst, ihm das zu sagen, weil er selbst auch nicht dort war. Sie ging zu ihm und er schaute sie an, eine Augenbraue hochgezogen, als verstünde er die Antwort nicht. Sein gewelltes Haar wie auch sein Bart waren dick und grau mit weißen Strähnen, wie der letzte Schnee auf dem Gardfjell.
Dann vertiefte er sich wieder in seine Arbeit. Hirka wollte sich für die Hilfe auf dem Hallenvorplatz bedanken, wusste aber nicht, was er eigentlich getan hatte. Wenn er denn etwas getan hatte. Sie nahm eine braune Glasflasche aus dem Korb.
»Ich habe Öl für dich dabei.«
Sie stellte die Flasche auf die Bank.
»Das ist viel«, sagte er.
»Ja. Das ist … ein Geschenk.«
»Aha. Dann hast du bestimmt auch das Rezept dabei?«
Hirka spürte, wie sie errötete. Der Gedanke war ihr auch schon gekommen. Vater hätte gesagt, sie gebe ihren Broterwerb weg, aber was sollte man denn sonst machen? Aus dem Dorf für immer verschwinden und die Leute sich selbst überlassen? Der einzige Arzt war der von Ilume und er würde bald mit ihr von hier fortgehen.
»Du kannst es selbst herstellen, das ist eigentlich sehr einfach. Du brauchst Mandeln und Hafer und …«
»Ich habe keine Zeit, es selbst herzustellen.« Hlosnian blickte sie an. Er hatte tiefe Falten auf der Stirn. Seine Augen waren klar und tiefblau. Über dem einen hing das Lid etwas schlaffer. Kinder aus dem Dorf sagten, seine eine Gesichtshälfte schlafe. Hirka fand, das mache ihn interessant und geheimnisvoll.
Er öffnete die Flasche und verrieb ein paar Tropfen in den Händen und auf dem Arm. Der war voller weißer Streifen. Narben. Hirka wusste nicht, woher er sie hatte, aber dass das Öl ihm half, wenn die Haut spannte, das wusste sie. Der Pferdegeruch verwandelte sich in Mandelduft, während er sich den Arm massierte.
»Ich habe zwar keine Zeit, aber ich werde sie mir wohl nehmen müssen?«
Hirka tat, als habe sie die Frage überhört. »Du machst so unglaublich schöne Sachen«, sagte sie und schaute sich um. Sie griff nach einem spiralförmigen Stein.
»Den du da gerade in der Hand hast, habe ich nicht gemacht. Den hat die Gabe selbst geschaffen. Vor langer, langer Zeit. Vor den Ymlingen, fast vor der Welt.«
»Oh … aber du bist jedenfalls unglaublich geschickt.«
Sie ernte ein Schnauben als Reaktion.
»Ich habe gesehen, was man mit bloßen Händen erschaffen kann. Das hier ist nichts weiter als ein Zeitvertreib!«
Das war keine falsche Bescheidenheit. Hirka wusste, dass er ein Seherbildnis in der Halle angefertigt hatte, für das Leute von weit her kamen, um es sich anzusehen, aber er hatte keinen Fuß mehr dort hineingesetzt, seit er die Arbeit daran abgeschlossen hatte. Ramoja hatte gesagt, das sei die Bürde der Vorstellung vom Perfekten.
»Was hast du denn gesehen?«, fragte sie.
Hlosnian legte die Steinfigur aus der Hand. Er starrte ausdruckslos in den Staub.
»Den Baum, den Baum des Sehers. Den habe ich einmal gesehen, als ich Steinflüsterer in Eisvaldr war.«
Hirka hätte gern gefragt, was eigentlich die Aufgabe eines Steinflüsterers war, wollte ihn aber nicht unterbrechen. Hlosnian hatte in Eisvaldr gearbeitet! Eisvaldr, die Stadt am Ende der Stadt. Das Zuhause des Sehers.
Und Rimes Zuhause.
Der Baum war der Thron des Sehers. Ein Weltenbaum, in Stein gewebt, sagte Hlosnian. Schwarz, glänzend. Mit Ästen so lang, dass sie den ganzen Raum ausfüllten. Eine unmögliche Arbeit. Er hatte nie etwas Schöneres gesehen. Der Tag hatte alles verändert. Er wollte nichts anderes mehr machen als einen solchen Baum. Aber das war unmöglich. Er war von alten Kräften erschaffen worden. Von der Gabe, wie sie einst war. Vor dem Krieg. Vor dem Volk.
Hlosnians Blick verschleierte ein Schmerz, den Hirka weder verstehen noch lindern konnte.
»Was hast du gemacht?«, fragte sie. »Hast du aufgehört, für den Rat zu arbeiten?«
»Man hört nie auf, für den Rat zu arbeiten«, antwortete er. Er schaute sie an.
»Man ist, wer man ist. Und man ist, was man macht. Wenn die Zeit gekommen ist, dann ist das Beste, was man tun kann, das Richtige. Das Schlechteste, was man tun kann, ist nichts zu tun.«
Hirka hatte plötzlich einen faden Geschmack im Mund und schaute zu Boden. Was hatte sie getan? Sich auf Kolgrim gestürzt. Wie eine Verrückte. Hlosnian hatte recht. Sie war, wer sie war, aber sie hatte eine Wahl. Sie konnte sich entscheiden, anders zu handeln, und sie konnte sich entscheiden, nicht wegzulaufen.
Hlosnian musterte sie, während er weiter an der kleinen Steinfigur in seiner Hand feilte, die eine Frau darstellte.
»Pass …«, rief Hirka aus, aber es war zu spät. Der Stein zersprang und der Schwanz brach von der Skulptur ab. Der alte Mann lachte. Ein unerwartet junges Lachen.
»Jetzt ist sie wie du.« Er legte ihr die schwanzlose Figur zusammen mit dem spiralförmigen Stein in den Korb.
»Keine Sorge«, sagte er. »Man kann immer wieder von vorn anfangen. So geht das, wenn man nicht mit dem Stein zusammenarbeitet. Man muss ihm zuhören. Die ganze Zeit.« Dann murmelte er, mehr zu sich selbst: »Die Frage ist, woher du das wissen konntest …«
Er stand auf und begann in einer Schublade der Werkbank zu kramen. Er fand das Gesuchte und reichte Hirka eine Steinscheibe. Sie war rund und nicht größer als ihr Handteller, verziert mit blassen Zeichen, die sie nicht kannte. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob es ein weiteres Geschenk sei, doch dann stieß Hlosnian gegen ihren Unterarm, sodass sie die Scheibe fallen ließ. Sie fiel krachend zu Boden und zersprang in viele Stücke.
»Entschuldige! Ich wollte nicht, dass …«
Aber Hlosnian hörte nicht zu. Er saß in der Hocke und untersuchte die Bruchstücke, während er etwas vor sich hin murmelte. Sie kam sich plötzlich wie ein Eindringling vor. Er war in einen künstlerischen Wahn verfallen. Ein knotiger Finger stocherte in den Scherben herum.
»Du solltest nicht hier sein«, sagte er wieder.
Hirka nahm den Korb und begann rückwärts aus dem Zimmer zu gehen. Er war alt. Er erinnerte sich nicht mehr, was er gesagt hatte und was nicht.
»Ich muss gehen«, sagte sie.
»Ich weiß«, antwortete er und machte sich daran, einen neuen Stein zu befeilen.