Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 19
ОглавлениеGlücksjägerin
Das Fleisch auf dem Teller war kalt. Rime unternahm zum wiederholten Mal den Versuch zu essen, doch stets war er gezwungen innezuhalten, bevor die Gabel den Mund erreicht hatte. Entweder um eine Frage zu beantworten oder nur um höflich zu lächeln, wenn etwas gesagt wurde. Und es wurde jede Menge gesagt. Aber er war schließlich nicht wegen des Essens nach Glimmeråsen eingeladen worden.
Kaisa leierte Selbstverständlichkeiten herunter, von denen sie annahm, dass er sie hören wollte. Wie unerhört es war, dass Ravnhov die Vereinigung der Reiche sabotierte. Wie lächerlich es war, dass primitive Wilde ein vorgeschichtliches Fürstentum aufrechterhalten durften. Die Überreste eines Königreichs.
Rime hatte keine Probleme, Ravnhovs Widerstand zu verstehen. Hätten die anderen Reiche die Stärke von Ravnhov besessen, wären sie heute unabhängig. Gier und Furcht waren alles, was sie an Mannfalla band. Aber Rime sagte kein Wort. Er hatte lange Erfahrung darin, die Dinge nicht persönlich zu nehmen. Das hatte so wenig mit ihm zu tun. Sie wollten nur näher an seinen Namen heranrücken. Näher an die Macht in Mannfalla.
Sylja ließ ihn nicht aus den Augen, wenn sie nicht aus gespielter Bescheidenheit den Blick senkte oder wortlose Botschaften mit ihrer Mutter austauschte. Rime schaute zu Vidar, aber Syljas Vater war nicht gesprächiger als die Gemälde an den Wänden. Eine passive Figur im Spiel des Abends, obwohl ihm der Hof gehörte. Kaisa war mit einem Mann und einem Wohlstand verheiratet worden, den sie heute mit größter Selbstverständlichkeit verwaltete. Rime versuchte, sich mit ihm über Haus und Hof zu unterhalten, aber Kaisa unterbrach die beiden.
»Jetzt wollen wir Rime nicht langweilen, Vidar. Er hat an anderes zu denken als an unsere Problemchen.« Mit einem Lächeln so eiskalt wie ein Gletscher reichte sie ihrem Mann eine Leinenserviette. Er war sauber um den Mund, nahm sie aber und wischte ihn sich trotzdem ab. Danach sagte er kein Wort mehr.
»Erzähl uns lieber von Ilume-Madra«, fuhr Kaisa fort. »Es ist ein großer Kummer für uns, dass sie Elveroa verlassen muss.«
Rime war überzeugt, dass Ilumes Abwesenheit heute Abend sie noch wesentlich mehr bekümmerte. Er versicherte Kaisa abermals, dass Ilume gern gekommen wäre, es ihr aber nicht möglich gewesen sei. Es kam zu einer kleinen Pause, in der Kaisa abzuschätzen schien, was denn wohl wichtiger sein konnte als ein Besuch auf Glimmeråsen. Rime nutzte die Gelegenheit, um ein Stück Kalbsfleisch zu essen. Man hatte heute Abend keine Kosten und Mühen gescheut.
Der Raum zeugte von erfolgreichem Handel. Die Südwand bedeckte ein rechteckiger Teppich aus Andrakar, der den Seher mit ausgebreiteten Flügeln darstellte. Viele der Ziergegenstände hatten nichts in einem Esszimmer zu suchen und Rime vermutete, dass Kaisa in dem Raum alles aufgestellt hatte, was wertvoll aussah. Und was sie hier nicht unterbringen konnte, hatte sie sich und ihrer Tochter um den Hals gehängt.
Sylja lächelte ihn erwartungsvoll an. Hatte sie ihn etwas gefragt?
»Wie bitte?« Rime hoffte, seine Stimme verriet nicht, dass er sich weit fort von hier wünschte.
Kaisa lachte und verdrehte die Augen.
»Oh, mein Lieber, du musst meiner Tochter wirklich verzeihen, Rime. Sie kann manchmal erfrischend direkt sein.«
»Mutter! Ich will doch nur wissen, wie gut meine Chancen sind!« Sylja schob den Teller von sich und stützte sich auf die Unterarme, sodass ihre Brüste fast aus dem Ausschnitt quollen. Rime brauchte keine Erklärung. Es ging um das Ritual. Er hatte schon auf die Frage gewartet. Alle, die Kinder im fünfzehnten Jahr hatten, stellten genau dieselbe Frage. Obwohl er die Tage ganz oben auf dem Gipfel des Vargtind verbrachte. So weit weg von Leuten wie möglich.
Trotzdem hielten sie ihn an, wenn er über den Marktplatz ging. Kamen mit Geschenken, die er höflich ablehnte. Sie baten ihn, ihnen die Hand aufzulegen. Sie baten um den Segen des Sehers. Und alle wollten nur eins wissen: was sie tun konnten, um die Chancen ihrer Kinder zu verbessern, auserwählt zu werden. Um zu denen zu gehören, die dem Rat dienen durften.
Rime konnte den Leuten ihre Fragen nicht übel nehmen. Er wusste nur zu gut, dass ihm durch seine Geburt viele solcher Sorgen erspart blieben, mit denen sich andere herumschlagen mussten. Die Leute in Foggard lebten von der Hand in den Mund. Ein Leben als Diener für den Rat musste ihnen wie ein sorgenfreies Leben vorkommen. Essen, Kleider, Dach über dem Kopf … Die Leute in Eisvaldr waren befreit von irdischen Problemen, damit sie sich auf das konzentrieren konnten, was wichtig war.
Aber das Ritual blieb, wie es war. Der Seher wählte aus, sagten sie, obwohl Rime wusste, dass das nur die halbe Wahrheit war. Der Seher war größer als die täglichen Verrichtungen. Er kümmerte sich wenig um praktische Dinge wie das Ritual. Oder ums Schalten und Walten. Und genau dort lag der Quell für allen Zorn in Rimes Leben. Die Ursache für seine Entscheidung. Das erhöhte Wesen des Sehers war inspirierend, schuf aber auch den Nährboden dafür, dass Korruption in Seinen Sälen um sich greifen konnte. Freunde verschafften Freunden einen Posten, einen Vorteil. Hoffnungsvolle Jugendliche wurden gegen klingende Münze in Eisvaldrs Schulen aufgenommen. Er selbst konnte weder, noch wollte er jemandem in so ein Schlangennest hineinhelfen. Rime schob den Stuhl vom Tisch und stand auf.
»Wie ich sehe, wird es schon dunkel. Ich würde mich gern verabschieden, verbunden mit meinem herzlichen Dank für den heutigen Abend.«
Kaisa war im Nu auf den Beinen und kam ihm entgegen. Sie legte ihm die Hand auf den Rücken und versuchte, ihn in den Nebenraum zu führen. »Aber mein lieber Rime, du musst doch noch bleiben und ein Stück Torte essen.« Sie hatte starke Arme für ihre zierliche Erscheinung. Doch Rime blieb standhaft.
»Danke für das Angebot, aber meine Stellung erlaubt es mir nicht.«
Sylja erhob sich. »Aber Mutter. Er ist doch in der Leibgarde! Sie essen keine Torte.« Sie schaute ihn an und er nickte zur Bestätigung.
Kaisa hob eine Augenbraue. »Keine Torte?«
Rime lächelte. »Leider nicht.«
Er nickte Vidar zu, der den Mund öffnete, um etwas zu sagen, sich aber besann und stattdessen mit der Serviette wieder den Mund abwischte. Rime ging zur Tür und hörte hektisches Geflüster hinter sich. Plötzlich stand Sylja neben ihm. Sie hob den Rock ein wenig an und schlüpfte in ihre Schuhe.
»Der Sommerabend ist so schön, Rime. Ich begleite dich ein Stück.«
Draußen war die Luft kühl und erfrischend. Das Tal döste im letzten verbliebenen Sonnenlicht hinter den Bergen. Rime schlug die Richtung hinunter zum Todesweiher ein, das war der kürzeste Weg nach Hause. Sylja plapperte von Mannfalla und wie wunderbar es sein musste, im Zentrum allen Geschehens zu wohnen. Sie fragte, ob er sich freute, dorthin zurückzukehren, wartete aber die Antwort nicht ab, sondern redete einfach weiter.
Glimmeråsen verschwand hinter ihnen. Sylja wäre fast gestolpert und griff nach seinem Arm. Sie lächelte entschuldigend. »Da war ein Stein …« Aber sie ließ ihn nicht wieder los. Ihre Nägel waren rot lackiert wie bei den Frauen in Mannfalla.
Der Todesweiher lag unbeweglich und schwarz wie ein Auge im Wald. Auf seiner Ostseite erhoben sich Klippen und Rime konnte in der Ferne das Rauschen des Streitwassers hören.
»Die Kinder erzählen sich, er sei unergründlich tief.« Sylja blieb stehen.
»Überall gibt es einen Weiher, von dem die Leute sich erzählen, er sei unergründlich tief«, antwortete er.
»Was, wenn ich reinfiele!« Sie umfasste seinen Arm fester, klang aber eher eifrig denn ängstlich. »Was, wenn ich unterginge, bevor ich gelebt habe.«
Rime spürte, wie die Wut in ihm wuchs. Er hatte genug von diesem Schmierentheater und er hatte das starke Gefühl, dass er gehen sollte.
»Du lebst doch wohl besser als die meisten?«, sagte er und versuchte weiterzugehen.
Sylja umschlang ihn, bis ihr Gesicht ganz dicht unter seinem war.
»Nicht wie du, Rime.« Ihre Stimme war hungrig. »Wenn ich leben dürfte wie du, würde ich nur Gutes tun …«
Rime entzog sich ihrem warmen Körper.
»Gutes kann man immer tun, ganz gleich, wo man ist, Sylja.« Er wich ein paar Schritte zurück, doch sie hielt ihn fest.
»Ich will nur dem Seher dienen!« Ihre Augen flackerten, als versuche sie, einen Zugang zu ihm zu finden. Er merkte, dass ihm langsam die Geduld ausging. Der Abend war lang gewesen.
»Wenn er dich braucht, Sylja, dann wählt er dich während des Rituals. Du hast nichts zu befürchten.« Er begann von Neuem, sich in Bewegung zu setzen.
»Aber ich habe Angst, Rime!«
Er blieb stehen. Sie lächelte und kam wieder näher. »Ich habe Angst zu versagen.« Sie ergriff seine Hand. »Der Seher hat dich erwählt, Rime. Ich weiß, dass du mir helfen kannst.« Er spürte bei jedem Wort, das sie sagte, ihren Atem am Hals. »Wenn du mir hilfst, Rime …« Sie zog seine Hand an ihr Herz. »Dann werde ich dir auf alle erdenkliche Weise danken … immer.«
Langsam schob sie seine Hand auf ihre eine Brust. Rime spürte, wie sein Körper reagierte, und riss die Hand weg. Er wich zurück und starrte das Ungeheuer an, das vor ihm stand. »Du bist fünfzehn! Du hast das Ritual noch nicht durchlaufen, Mädchen!«
Sie lachte nachsichtig, so wie ihre Mutter es den ganzen Abend getan hatte. »Du brauchst keine Angst zu haben, mein Erster zu sein, Rime An-Elderin. Ich bin fünfzehn, aber im Herzen bin ich älter.«
Rime fühlte sich beschmutzt und war wütend. Er war eine Spielfigur für das blonde Mädchen. Sie wollte nur beim Ritual auserwählt werden. Woher kam diese Gier? Gab es niemanden auf der Welt, der ihn als Mann sah? Nur als Mann. Nicht als Tür zu einer anderen Welt. Gab es nichts Reines und Aufrichtiges, außer dem Seher?
»Ich weiß, was du dir wünschst, Rime. Und ich kann es dir geben. Wenn du mir das gibst, was ich mir wünsche …« Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger.
»Was? Was wünschst du dir denn?!« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Dem Seher zu dienen? Ist das alles, was du willst?« Er zeigte auf sie und sie wich einen Schritt zurück.
»Willst du etwa Wächterin werden? Steinflüsterin? Willst du eine von denen werden, die ihr Leben damit verbringen, Steinen zu lauschen? Nach Schreien aus dem Draumheim zu horchen? Nach Rufen von den Blinden?« Er erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. Sie war knurrend. Fremd.
»Ich habe Männer mit Narben am ganzen Körper gesehen! Ich habe erwachsene Männer gesehen, die sich ihre eigene Haut abgeschabt haben, damit die Träume aufhören. Ist es das, was du dir wünschst, Mädchen?! Oder willst du Kriegerin werden? Willst du das Schwert schleifen, während du auf Befehle wartest, Brüder und Freunde auf Ravnhov anzugreifen? Willst du Stahl in den Bauch eines Mannes stoßen und fühlen, wie dir sein warmes Blut über die Hände läuft?«
Ihre Unterlippe zitterte. Verdammt ärgerlich. Nach drei Jahren Ausbildung war das alles, was er zustande brachte? Die Selbstbeherrschung bei einem Mädchen zu verlieren, das es nicht besser wusste? Rime schlug die Hand vors Gesicht. Eine Weile blieb er so stehen und hörte dem Rauschen des Flusses in der Ferne zu. Als er wieder aufschaute, stand Sylja da und schluchzte. Da er keine Tränen entdecken konnte, ließ er sie stehen. Sie rief ihm nach.
»Du kannst mich hier nicht einfach zurücklassen!«
Er wusste, dass sie mit »hier« mehr als nur den Todesweiher meinte. Das war einerlei. Er würde sie alle hinter sich lassen.