Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 10

Odinskind

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Hirka saß in der Birke, die Wange an die Rinde geschmiegt. Ihr Körper fühlte sich so schwer wie ein Sack Weizen an. Die Sonne ging gerade unter. Die Farben verblassten. Die Torfdächer in Elveroa verschmolzen mit der sie umgebenden Landschaft. Hirka hatte an vielen Orten gewohnt, aber hier hatte sie am längsten gelebt.

Das Dorf lag in einer Talsenke, die sich zum Meer hin öffnete. Die alten Götter hatten dort einen Daumen in die Erde gedrückt, in der Absicht, die ersten Reisenden zu zerquetschen, doch da das Nordleute waren, hatten sie sich nicht kleinkriegen lassen. Sie hatten sich in dem Abdruck angesiedelt. Der war zwar zum Meer hin offen, doch von blauen Klippen und dichtem Wald geschützt, der sich so weit erstreckte, wie Hirkas Augen reichten, in östlicher Richtung bis zum Gardfjell. Ein Stück weiter lag die Alldjup-Schlucht wie ein Riss in der Felswand. Der Streitwasserfluss rauschte unermüdlich durch den Riss, floss ins Tal und schlängelte sich dann zum Meer. Die Höfe krochen den Hügel hinauf zu den Klippen, umgeben von Ackerflecken. Am dichtesten drängten sie sich auf der anderen Talseite. Dort hatten sie den ganzen Tag Sonne.

Die prächtigste Lage am Hang hatte Glimmeråsen, der Hof, auf dem Sylja wohnte. Er bestand aus einer Vielzahl von Gebäuden und war größer als irgendein anderer Hof in der Umgebung. Die Familie auf Glimmeråsen hatte Unmengen an Münzen ausgegeben, um Sylja auf das Ritual vorzubereiten. Das war das einzige Gesprächsthema des Mädchens: Kleider, Schmuck, Schwanzgold und Parfüm, ein neuer, glänzend blau lackierter Wagen, der Türen an den Seiten hatte. Nichts durfte dem Zufall überlassen werden, wenn die einzige Tochter auf Glimmeråsen in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wurde und den Schutz des Sehers gegen die Blinden empfing.

Hirka spürte, wie sich ihr die Brust zusammenschnürte. Wie unbeschreiblich wunderbar musste es sein, sich zu freuen. Wenn sie das doch nur auch könnte. Wenn sie doch nur wie Sylja wäre, wie alle anderen, dann hätte sie jetzt auch Schmetterlinge im Bauch. Dann könnte sie davon träumen, Mannfalla zu besuchen und Eisvaldr zu sehen, die Residenz des Sehers, die eine ganze Stadt für sich sein sollte, oder von dem sagenumwobenen Saal, wo das Ritual stattfand, von der Musik und den Tänzern und dem Rat und …

Von Rime.

Warum war er überhaupt hierher zurückgekehrt? Ilume An-Elderin war eine Madra, eine Mutter im Rat, eine der Zwölf. Sie konnte sehr gut allein reisen, das machte sie doch die ganze Zeit! Ständig umgeben von Leibwachen, als würde es überhaupt jemand wagen, sie anzugreifen. Selbst wenn eine ganze Bande Wegelagerer diesen Fehler beginge, würde Ilume mit ihnen fertigwerden, davon war Hirka überzeugt.

Rime hätte nicht zu kommen brauchen. Es wäre nicht nötig gewesen, dass er mit dem Zeichen des Rates auf der Brust herumstolzierte, als wüsste sie nicht längst, dass er in eine andere Welt als die ihre gehörte. Als ob sie seinen Namen nicht kennen würde.

Das Bild von Rime stieg in ihrer Erinnerung auf. Gekleidet wie ein Krieger. Das war sicher ein letzter Streich, ehe er für immer den Kittel tragen musste. Alle, die beim Ritual ausgewählt und in Eisvaldr ausgebildet wurden, trugen den Kittel der Gelehrten, bis sie ihren Platz gewählt hatten oder bis der Platz sie auserwählt hatte, wie es hieß. Bis sie den Eid abgelegt hatten. Von den Schulen des Rates kamen die besten Gelehrten aller Künste, von den Kriegern bis zu den Geschichtsschreibern. Aber die meisten träumten davon, Schriftgelehrte zu werden. Das Auge des Sehers, ein gelehrter Verkünder Seiner Worte. Alle, die im Rat saßen, waren Schriftgelehrte gewesen und Rime war Ilume An-Elderins einziges Enkelkind. Vom Schicksal für einen Platz im Rat auserkoren. Einen Platz, für den viele ihr Leben gegeben hätten.

Hirka hatte nie den Grund dafür verstanden und würde es wohl auch nie verstehen. Es gab kein Lied über Mannfalla oder Eisvaldr, das eine Reise dorthin verlockender machte. Syljas Tagträume, zu den Auserwählten für die Schulen zu gehören, konnte sie behalten. Sich unter Ratsleute mischen? Wein aus Kristallgläsern trinken? Hirka schnaubte verächtlich. Sie hätte freudig alles geopfert, damit ihr das elende Ritual erspart bliebe.

Ich habe keine Angst!

Was konnte Schlimmes passieren? Vielleicht nichts. Sie würde es vermutlich noch nicht einmal bis zum Ritual schaffen, nicht einmal bis nach Mannfalla hinein. Man würde sie womöglich am Stadttor anhalten, sie wie eine Pestinfizierte gefangen nehmen und vor die Stadtmauer hängen. Oder die ganze Stadt würde ihr ansehen, dass sie nicht umarmen konnte, und sie steinigen. Wo Leute sind, ist auch Gefahr, hatte Vater immer gesagt. Man würde sie vielleicht hinter Pferden durch die Stadt schleifen lassen, bis sie nicht mehr zu erkennen war, sie gefangen nehmen, sie foltern oder wie eine Missgeburt begaffen. Oder verbrennen!

Hirka hörte, wie es unter ihr knarrte, und zuckte zusammen. Schemenhaft erkannte sie ihren Vater durch das Laub. Sie war so in ihre albtraumhaften Gedanken vertieft gewesen, dass sie ihn nicht hatte kommen hören. Das Knarren der Stuhlräder hatte sich vermischt mit Fantasiegeräuschen von klirrenden Schwertern und den Schreien einer aufgebrachten Menge. Sie tat, als sehe sie ihn nicht. Wenn sie ihm in die Augen blickte, würde er gewinnen, und dann würden sie sich wieder auf den Weg machen. Der Trick war, nicht hinzugucken. Sie konnte warten. Hier oben war sie nichts weiter als ein Blatt im Wind.

Ein kräftiger Axthieb durchbrach die Stille.

Der Baumstamm an ihrem Körper zitterte und sie war kurz davor, den Halt zu verlieren und abzustürzen. Sie klammerte sich fest und starrte ungläubig nach unten. Vater holte mit der Axt zum nächsten Schlag aus. Hatte er den Verstand verloren?

Er schlug von Neuem zu und der Baum bebte. Die Kraft, die er im Oberkörper hatte, war außergewöhnlich. Er konnte Hirka und Sylja gleichzeitig hochheben, als seien sie Holzstöcke. Nicht einmal drei Männer im Vollbesitz ihrer Kräfte konnten sich mit ihm messen. Nach nur vier Hieben hörte sie, wie der Stamm nachgab. Genau wie in der Alldjup-Schlucht. Heute war ein schlechter Tag für Bäume.

Hirka stellte sich auf den Ast und machte sich zum Sprung bereit. Eine Weile schwankte sie mit dem Baum, bis er fiel. Sie warf sich zur Seite, so weit sie konnte, und rollte im Gras ab. Der Baum mit über zehntausend Blättern krachte hinter ihr auf den Boden. Hirka kam rasch auf die Beine und spuckte einen Grashalm aus. Vater schaute sie an. Er sah nicht froh aus, aber auch nicht wütend. Eher so, als frage er sich, ob er jemals schlau aus ihr werden würde. Hirka verschränkte die Arme und guckte in die andere Richtung.

»Ich hatte sowieso vor reinzugehen.«

»Komm«, sagte Vater. Er legte sich die Axt auf die Knie und begann, zurück zur Hütte zu rollen. »Ich muss dir etwas erzählen.«

Er mühte sich ab, den Rollstuhl in die Hütte zu bugsieren. Hirka half ihm nicht. Sie hatte gelernt, es zu unterlassen. Die Räder blieben in der Tür an einer unebenen Diele hängen, die ihm normalerweise keine Probleme machte, doch dieses Mal waren seine Bewegungen zu abrupt. Er ruckte zu viel, war zu angespannt. Am Ende aber schaffte er es hinein. Hirka folgte ihm. Die Hütte kam ihr kleiner vor, irgendwie fremder als sonst. Die Luft war stickig und schwer vom Rauch der Feuerstelle. Es dauerte, bis man sich daran gewöhnt hatte, wenn man den ganzen Tag draußen gewesen war.

Hirka setzte sich hin und wischte aus alter Gewohnheit vertrocknete Blätter und Reste zerstoßener Kräuter vom Tisch. Es roch süßlich nach Opia, doch sie verlor kein Wort darüber. Wenigstens hatte er alle sichtbaren Spuren beseitigt. Anderen als den Mitgliedern der Heilerzunft des Rates war es verboten, sich mit diesen Pflanzen zu befassen. Vater hatte es immer unter der Hand verkauft und Hirka hatte stets passiv ihr Missfallen geäußert. Aber Opia war bei Weitem nicht das einzige riskante Gewächs, mit dem sie sich beschäftigten. Das war auch ein Grund, warum sie so viel Zeit auf Reisen verbracht hatten. Ein fahrender Krämer mit seiner Tochter.

Und jetzt will er wieder losfahren.

Oder hatte er vielleicht seine Meinung geändert? Er hatte schließlich die Birke gefällt. Man fällt doch keinen Baum, ohne dass sich etwas verändert.

Vater rollte den Stuhl an den Tisch und schob Hirka eine Schüssel mit Fischsuppe hin. Sie war lauwarm, kam ihr aber vor wie ein Geschenk des Sehers. Gierig aß sie mit der einen Hand, während Vater die verletzte mit einem Stofflappen säuberte. Sie würde ihm nicht erzählen, dass sie Rime getroffen hatte. Vater hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass sie Männern nicht trauen konnte, darum hatte sie gelernt, den Mund zu halten. Aber mit Vetle hatte er keine Probleme. Von Vetle konnte sie ihm erzählen, wenn er fragen sollte, was sie mit der Hand gemacht hatte. Aber er fragte nicht.

»Ich habe dich gefunden«, knurrte er, ohne sie anzuschauen.

»Ich habe nicht versucht, mich zu verstecken, falls du das glaubst«, antwortete sie.

»Das meine ich nicht.«

Vater schmierte Salbe auf ihre Hand. Es brannte. Er kehrte ihr den Rücken zu und rollte an die Feuerstelle. Dort blieb er vor dem Feuer sitzen wie eine Sonnenfinsternis.

»Ich habe dich nicht bekommen, ich habe dich gefunden. Das ist doch nicht so schwer zu verstehen, Mädchen.«

Hirka spürte seine Worte wie Ameisenbisse. Sie kündeten von Gefahr, obwohl sie sie nicht verstand. Oder nicht verstehen wollte. Seine Stimme klang wie fernes Donnergrollen. Es lag Unwetter in den Worten, aber sie hatte keinen Ort, an dem sie hätte Schutz suchen können.

»Damals hatte ich Ulvheim noch nicht verlassen. Ich bin dort gut zurechtgekommen. Habe ohne größeres Risiko gekauft und verkauft. Die Macht des Rates ist weiter im Norden schon immer schwächer gewesen. Sie hatten dort noch nicht einmal eine Heilerzunft. Weise Frauen zogen Krankheiten, Zähne und Kinder heraus, ohne einen Gedanken an den Rat zu verschwenden.«

Hirka hörte die Sehnsucht in seiner Stimme. Es war, als spreche er von einer Traumwelt.

»Aber sie hatten einen Mann in Ulvheim. Ein Umarmer, wurde gesagt, doch Olve hätte nicht einmal eine Fliege umarmen können. Was er vielleicht einmal an Gaben besessen haben mochte, hatte er längst versoffen, als ich ihn kennenlernte. Er rauchte Opia. Ich wusste, dass er in Ulvheim das halb taube Ohr des Rates war, und er wusste, was ich trieb. Damit waren wir quitt und es gab keinen Ärger. Aber dann passierte etwas. Es war noch Anfang des Ylirmondes, die Dunkelzeit war gerade angebrochen. Die Tage waren kurz und es war bitterkalt. So kalt, wie es nur in Ulvheim werden kann.«

Vater beugte sich etwas näher ans Feuer.

»Er war schwer betrunken, als er kam. Es war spät und ich sagte ihm, er solle sich nach Hause scheren. Ich log, sagte, ich hätte nichts zu verkaufen, er nahm ohnehin schon zu viel. Aber er wollte nur, dass ich ihn fuhr. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und wedelte mit einer Flasche, aber er meinte es ernst. Er musste zum Steinkreis im Sichelwald. Das war ein Befehl des Rates. Die ganze Fahrt schneite es dicht und er jammerte über all die sinnlosen Aufträge, für die ihn der Rat losschickte.«

Vater ahmte die betrunkene Stimme nach, die Olve gehabt haben musste.

»Und es betraf nicht nur ihn, wie ich erfuhr. Jeder einzelne Steinkreis in jedem einzelnen Reich in Ymsland wurde in jener Nacht kontrolliert, sofern alle Raben bei dem Unwetter ankamen. Und warum?«

Hirka war sich nicht sicher, ob sie es wissen wollte, darum rührte sie weiter in der Fischsuppe herum, ohne etwas zu sagen.

»Weil ein Steinflüsterer gefühlt hatte, wie die Gabe floss. Weil er fantasiert hatte, dass die alten Steintore wieder offen standen. Dass etwas hindurchgekommen sei.«

Hirka merkte, wie sich ihr die Haare auf den Armen aufstellten. Man sagte, die Blinden seien durch die Steine gekommen und dass sie es wieder tun konnten. Aus dem Grund habe man das Ritual, um das Volk zu beschützen. Aber das sagte man nur. Niemand hatte jemals die Blinden gesehen, nicht seit Hunderten von Jahren. Es gab sie nicht mehr.

Wenn es sie denn überhaupt je gegeben hatte.

»Olve sagte, er sei kein abergläubisches altes Weib. Er habe im Dunkeln keine Angst. Ich fragte ihn, warum er dann nicht einfach den Wagen nehmen und allein hinfahren könne, aber darauf gab er keine Antwort, der Schisser. Am Steinkreis angekommen, torkelte er im Stockdunkeln zwischen den Steinen herum, sturzbetrunken und mit dem Schwert im Schlepptau. Ein Gespenst von einem Mann, auf der Jagd nach Untieren, die man ihm zu töten befohlen hatte. Er schlug sich überaus mutig mit den Schatten, bis er an einem Stein zusammensackte und zu schnarchen anfing.«

Jetzt kommt es, dachte Hirka. Sie konnte wie ein Tier das riechen, was sie nicht hören wollte. Die Luft in der Hütte wurde stickiger und die Welt fast unerträglich klein. Vater sprach jetzt langsamer, als sei auch er unentschlossen.

»Ich weiß nicht, was mich dazu gebracht hat, diese Runde zwischen den Steinen zu machen. Vielleicht war es eine Vorahnung. Jemand hatte Leute ins Sauwetter hinausgeschickt, um weiß der Seher was zu überprüfen, und Olve konnte die Aufgabe nicht erledigen. Darum kämpfte ich mich durch den Schnee um die Steine, nur um nachzusehen, um sicher zu sein. Und da fand ich dich. Du warst erst ein paar Tage alt. Jemand hatte dich in eine Decke gewickelt, die so weiß war wie der Schnee. Du warst fast unmöglich zu entdecken. Man sah nur ein blasses Gesichtchen, ungefähr so groß wie meine Hand, in einem frostigen Meer. Der Schnee fiel auf dich herab, aber du hast nicht geweint. Du hast nur erstaunt aus deinen großen grünen Augen hochgeguckt.«

Hirka würgte ein schlaffes Stück Fisch hinunter, das wieder hochzukommen drohte. Sie wollte aufstehen, aber ihr Körper war wie gelähmt. Sie war sich nicht sicher, was sie da eigentlich hörte. Vater war nicht … Vater. Aber er redete einfach weiter. Vielleicht hatte er vergessen, dass sie hier saß.

»Kein Mann auf der Welt überlässt einen Säugling einem versoffenen Hanswurst wie Olve. Darum habe ich ihn in den Wagen geschleppt und dann habe ich dich auf den Schoß genommen. Ihr beide habt den ganzen Rückweg geschlafen. Ich fuhr Olve nach Hause und seine Alte kümmerte sich um ihn. Dich nahm ich mit zu mir. Ich lag die ganze Nacht wach, dich in der einen Hand und das Schwert in der anderen. Ich sah die Schwarzröcke in jeder Ecke. Hörte sie, wenn draußen die Wölfe heulten und die Zweige an den Wänden schabten. Es ist so kalt in Ulvheim, dass die Schwarzröcke auf halbem Weg kehrtmachen würden, sagte Jon in der Bierstube immer. Aber ich weiß nicht. Bei den schwarzen Schatten des Sehers weiß man nie.«

Vater drehte sich abrupt zu ihr um.

»Du weißt, dass ich nichts übrighabe für das Gerede der Leute, Mädchen. Aber was hilft’s, wenn die Welt so ist, wie sie ist? Ich hatte keine andere Wahl. Wenn der Rat noch mehr Trunkenbolde auf der Lohnliste hatte, sprach sich die Geschichte von den Steinkreisen und den Untieren vielleicht herum. Die Leute würden auf der Hut sein. Ich konnte kein schwanzloses Mädchen aufziehen!«

Hirka berührte die Narbe an ihrem Rücken, als habe sie sich verbrannt. Jetzt war er auf der falschen Fährte. Sie hatte einen Schwanz gehabt! Sie war als Säugling nicht schwanzlos gewesen.

»Die Wölfe …« Sie schluckte, die Worte wollten nicht heraus. »Die Wölfe haben sich meinen Schwanz geholt. Du hast gesagt …«

»Ja, was zum Draumheim hätte ich denn sonst sagen sollen?«

»Aber die Narbe …?« Hirka spürte, wie der Kloß im Hals immer größer wurde, bis er wehtat.

»Ich habe dir diese Narbe gemacht, Kind!«, rief Vater, als sei es ihre Schuld. »Ich habe dir die Spuren von Zähnen in den Rücken geschnitten. Das war nicht einfach. Es musste echt aussehen. Und du hast geschrien. Ich musste dir mit der Hand den Mund zuhalten. Du hättest sonst das halbe Dorf aufgeweckt!« Vaters Gesicht war dunkelrot im Schein der Glut.

»Entschuldige …«, war alles, was sie herausbrachte.

Sie sah sein Gesicht zerspringen, als habe sie ihn geschlagen.

»Begreifst du es jetzt, Mädchen? Begreifst du, warum wir wegfahren müssen?«

Hirka wollte ihn nicht anschauen. Sie schlug die Augen nieder und entdeckte den vergilbten Wolfszahn, der auf ihrer Brust ruhte. Sie hatte ihn schon ihr ganzes Leben lang um den Hals getragen. Er war ein Andenken, ein Andenken an etwas, das nie stattgefunden hatte. Ein falsches Zeichen von Jagdmut, für einen Kupferling an einem Marktstand gekauft? Vater musste ihr angesehen haben, was sie fragen wollte, denn er polterte weiter.

»Du bist ohne Schwanz auf die Welt gekommen, im Steinkreis bei Ulvheim, und du kannst nicht umarmen. Ich weiß nicht, woher du kommst oder was du bist, aber wir fahren auf alle Fälle los! Wenn du eine von den Schwanzlosen bist … ein Odinskind …«

Das Wort traf sie wie ein Peitschenhieb ins Herz.

»Wenn du ein Mensk bist, dann findet es der Rat beim Ritual heraus. Du bist meine Tochter. Niemand soll Olves Auftrag zu Ende bringen. Diesem Risiko setze ich dich nicht aus.«

Obwohl seine Stimme jetzt sanfter war, hörte sie, dass er keine Diskussion dulden würde. Die ganze Situation kam ihr unwirklich vor. Hirka lachte, aber es klang unecht.

»Hast du je ein Odinskind gesehen, Vater? Hast du jemals gehört, dass irgendwer eins gesehen hat? Wir sind kreuz und quer durch ganz Foggard gefahren und nie …«

»Sind uns Schwanzlose begegnet, die nicht umarmen können? Die erdblind sind?«

Hirka schaute ihn an. War er jetzt ihr Feind? Warum wollte er ihr so wehtun? Ihr Blick wurde unsicher, sie kramte in der Erinnerung.

»Dieser dicke Mann, der in Frossabu, der hatte nur einen Schwanzstummel!«

»Den hat seine Alte ihm abgeschnitten. Er war mit einem Mädchen zusammen gewesen.«

»Aber was ist mit den drei Frauen auf dem Markt in Arfabu, die hatten …«

»Das waren Sileninnen aus Urmunai. Sie nehmen sich keinen Ehemann, sondern weihen ihren Körper dem Tanz. Bei ihnen ist es Brauch, dass sie ihren Schwanz hochbinden.«

»Olve! Du hast gesagt, Olve konnte nicht umarmen!« Hirka war jetzt verzweifelt.

»Natürlich konnte er umarmen. Er war nur nicht mehr in der Lage, es zu etwas zu gebrauchen. Obwohl er in seiner Jugend beim Ritual ausgewählt worden und viele Jahre in Eisvaldr in die Lehre gegangen war. Hirka …«

»Ich bin kein Odinskind! Ich hatte eine Mutter!«

Vater schloss die Augen. Hirka ahnte, was kommen würde, aber sie konnte nicht aufhören.

»Ich hatte eine Mutter. Maiande.«

»Du erinnerst dich an sie?« Vaters Stimme war anders. Fast höhnisch. Aber er lag mit seiner Vermutung richtig. Hirka erinnerte sich nicht an sie, sondern nur an das bisschen, was Vater von ihr erzählt hatte.

»Maiande war ein Mädchen aus Ulvheim, das ich … eine Weile kannte. Sie stellte Seifen her, die sie weichen Männern in Wirtshäusern verkaufte. Die gaben mehr Geld für Seife als für Bier aus. Reinere Saufbolde müsste man erst einmal finden.«

Hirka spürte, dass seine Worte sie niederdrückten wie Steine, einer schwerer als der andere. Sie würde von ihnen erdrückt werden. Endlich gelang es ihr aufzustehen. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, hier nur zu Besuch zu sein, als sei Vater ein Fremder. Ein Fremder, der ihr Lügen auftischte.

Atmen war fast nicht möglich. Sie musste die Worte hervorpressen.

»Leute werden ohne Arme und Beine geboren! Es gibt schwache und stärkere Umarmer! Es ist nicht sicher, dass …«

»Nein«, fiel er ihr ins Wort. »Es ist nicht sicher. Nichts ist sicher, aber ich nehme nicht das Risiko auf mich, vor den Rat treten zu müssen und derjenige zu sein, der die Fäulnis nach Ymsland gebracht hat.«

Fäulnis … Odinskind. Menskr, die die Leute faulen ließen.

»Altweibergewäsch!«, rief sie. Das war das einzige Wort für Unsinn, das er verstand.

Luft. Sie brauchte Luft. Hirka riss die Tür auf und atmete tief durch. Ihr war, als habe sie es lange nicht getan. Sie hörte Vaters Stimme hinter sich, nahm aber seine Worte nicht wahr. Sie ging einfach los. Nichts war mehr wie vorher. Er war an den Rollstuhl gefesselt und hatte keine Möglichkeit, sie aufzuhalten, nicht einmal, ihr zu folgen. Sie ging immer schneller, sprang über die gefällte Birke und rannte los.

Sie hatte keine Ahnung, wohin sie sollte oder wovor sie weglief, aber sie musste laufen. Der Abend war dunkel. Sie konnte laufen, wohin sie wollte. Niemand war so spät noch draußen. Niemand konnte sie sehen. Sie war unsichtbar. Ein Geist. Ein Untier.

Ein Odinskind.

Sie gab es nicht, darum rannte sie. Doch etwas in ihr lebte immer noch, etwas, das merkte, wie ihr Zweige und Blätter ins Gesicht peitschten und dass sie sich der Alldjup-Schlucht näherte, dass etwas passieren, schiefgehen würde. Dann blieb sie plötzlich mit dem Fuß irgendwo hängen und fiel der Länge nach hin. Sie lag da und keuchte, aber die Luft fühlte sich tot an. Sie enthielt nicht das, was sie zum Atmen brauchte. Ihr war bewusst, dass sie besser aufstehen sollte.

Der Boden vor ihr war mit Moos bedeckt. Es roch modrig. Sie war ein Teil der Erde. Eine Larve. Ein Insekt, das sich in eine der Höhlungen im Moos verkriechen und verschwinden konnte. Für immer. Sie ließ den Blick über den Waldboden wandern, bis er über die schwarze Kante verschwand, den Rand der Alldjup-Schlucht. Die Schlucht, die sie vor ein paar Stunden fast das Leben gekostet hätte.

War das vielleicht die ganze Zeit der Sinn dahinter gewesen? War das die Strafe des Sehers, weil sie dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte?

Können die Schwanzlosen sterben? Kann ich sterben?

Hirka kniff wieder die Augen zusammen. Sie versuchte, alles auszublenden, was sie gehört hatte, aber es verschwand nicht. Ich habe dich nicht bekommen, ich habe dich gefunden.

Sie biss sich in den Arm und unterdrückte einen Schrei. Nicht vor Schmerz, sondern weil sie wusste, dass sie sich wie ein wildes Tier verhielt. Sie öffnete die Augen. Die Abdrücke ihrer Zähne leuchteten rot auf ihrem Unterarm. Hatte sie etwas anderes erwartet? Hatte sie geglaubt, sie habe sich plötzlich in einen Stein verwandelt?

Was wusste sie von den Schwanzlosen?

Dass es sie nicht gibt …

Odinskinder waren ein Mythos, genau wie die Blinden. Ein altes Märchen. Sie glaubte nicht an Märchen. Vater war ein Dummkopf!

Aber warum haben wir dann das Ritual?

Das Ritual sollte alle vor den Blinden beschützen. Auch wenn es eine uralte Tradition war, so mussten sie doch irgendwann einmal existiert haben? Hatte sie nicht selbst Neugeborenen Münzen auf die Augen gelegt? Hatte sie ihnen nicht das Blut gegeben, damit die Mütter unbesorgt sein konnten? So war es Brauch. So hatte man es schon immer gemacht. Dafür musste es doch einen Grund geben. Und wenn es die Blinden gab, dann gab es vielleicht auch Odinskinder?

Odinskind. Mensk. Emblatochter. Fäulnis … Das letzte Wort war das schlimmste. Das tat am meisten weh. Sie hatte es früher schon einmal vor der Bierstube gehört. Kolgrims Vater hatte Isen-Jarke bezichtigt, seiner Tochter nachzustellen. Isen-Jarke hatte geantwortet, lieber würde er die Fäulnis nehmen. Das hatte ihn zwei Zähne gekostet.

Hirka zog die Knie an und weinte. Das war sie also. Ein Schimpfwort. Ein Untier. Das mussten doch alle sehen? Vor allem, wenn es Zeit für das Ritual war. Die Einzelteile fügten sich in ihrem müden Kopf zu einem Gesamtbild zusammen. Darum hatte sie nie umarmen können. Darum hatten sie ihr Leben auf den Straßen verbracht, solange sie zurückdenken konnte. Darum hatte Vater immer versucht, sich von den Leuten fernzuhalten. Das lag nicht nur an den verbotenen Kräutern. Das lag an der Furcht. An der Furcht davor, was geschehen würde, wenn jemand herausfand, wer sie war. Wo Leute sind, ist auch Gefahr.

Hirka fröstelte. Sie spürte die Kälte, wo die Tränen auf den Wangen standen.

Was, wenn der Seher während des Rituals entdeckte, dass sie kein Ymling war? Der Rat würde sie bestrafen! Sie verbrennen! Und was würde dann aus Vater werden? Vater, der die Fäulnis angeschleppt hatte. Würden sie auch ihn töten?

Nein!

Nichts würde ihm geschehen. Ihr würde auch nichts geschehen. Hirka war kein Insekt! Sie war ein Ymling! Ein starkes Mädchen, das schaffte, was es schaffen musste. So war es immer gewesen.

Hirka entdeckte eine bekannte Silhouette im Moos. Ihren Korb. Sie hatte ihn abgestellt, um Vetle zu retten. So war sie: mutig und stark. Sie hatte keine Angst. Sie war kein Schwächling!

Sie würde das Ritual durchstehen wie alle anderen. Und wenn das vorbei war, dann hatten sie ihre Ruhe. Dann konnten sie in Elveroa wohnen und brauchten nie mehr Angst vor irgendwem zu haben. Das Ritual würde ihr das geben, was sie brauchte: ein Zuhause, einen Platz in der Welt.

Das war die Lösung. So musste es kommen.

Hirka spürte eine unerwartete Ruhe. Sie war müde. Im Halbschlaf nahm sie das Geräusch von Flügelschlägen wahr. Ein Rabe landete vor ihr. Er legte den Kopf schräg und starrte sie eine Weile an. Dann ging er zum Korb und machte sich daran, mit seinem kräftigen Schnabel ein Stück Käse vom Brot zu picken.

Ein Rabe. Das war fast das Gleiche wie der Seher selbst. Der Vogel war ein Glückszeichen, das wussten alle, dachte Hirka, ehe ihr wieder einfiel, dass sie nicht an Zeichen glaubte. Sie und Vater hatten vielen, deren Krankheiten sie gelindert hatten, Amulette mit dem Zeichen des Raben gegeben. Einige von ihnen waren gestorben, andere nicht.

Sie schloss die Augen. Die Ruhe wiegte sie dort auf dem Hügel in den Schlaf.

Sie träumte, dass Vater kam. Er ging auf eigenen Beinen wie früher. Er hob sie in der Dunkelheit mit seinen starken Armen hoch und trug sie nach Hause.

Die Rabenringe - Odinskind

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