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Die Rabnerin

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Rime hatte ein Auge auf Vetle, der ihm auf dem Weg zur Rabnerei vorausging. Der Junge redete pausenlos und schmückte das Geschehen in der Alldjup-Schlucht in den schillerndsten Farben aus. Manchmal war er so in seinem Element, dass ihm die Worte im Hals stecken blieben und er wieder von vorn anfangen musste. Jedes Mal, wenn er fast über ein paar Wurzeln gestolpert wäre, musste Rime ihn am Kragen packen und wieder auf den Weg zurückholen.

Die Heide war tiefgrün und badete in der Sonne. Der Überfluss des Sommers hatte die Vögel still und schläfrig werden lassen. Heute war kein guter Tag für unangenehme Gespräche. Und dennoch war es genau das, was ihm bevorstand. Rime merkte, dass er seine Schritte verlangsamte.

Es war befreiend, hier mit jemandem zu gehen, der sich nie verstellte. Vetle war Vetle, ganz gleich, mit wem er sprach. Er hegte keine verborgenen Absichten. In seinen Augen war nie Gier. Er ließ Rime für eine Weile vergessen, wer er war, ein seltenes Vergnügen.

Die Leute in Elveroa behandelten Vetle ein bisschen so wie eine Hofkatze. Er durfte kommen und gehen, wie er wollte. Er bekam Honigbrote von entzückten Hausmüttern, die ihm die weizenblonden Locken zerzausten. Aber niemand erwartete, dass er still saß wie alle anderen, während die Schriftgelehrten im Sehersaal die Messe lasen. Der Junge war hübsch und das war ein Segen, der ihn oft vor der Angst der Leute schützte, vor ihrem Misstrauen gegenüber allem, was anders war. In Vetles Welt verging die Zeit anders als für andere. Für ihn ging es immer um das Unmittelbare, das Naheliegendste. Heute war es verständlicherweise Hirka.

Sie hatte in den vergangenen drei Jahren nicht weniger Rückgrat entwickelt, dass musste er zugeben. Sie folgte nach wie vor ihren eigenen Vorstellungen, ob sie nun klug waren oder nicht. Vetle malte sie in den schönsten Farben, als sei sie eine Göttin aus Brinnlanda. Instinktiv formte Rime mit den Handflächen das Zeichen des Sehers. In Mannfalla hatten die alten Götter und Göttinnen schon längst das Zeitliche gesegnet.

Sie durchquerten eine mit Moos bewachsene Lichtung im Schatten mächtiger Eichenkronen. Vetle lief auf das Haus zu, das auf der anderen Seite der Lichtung mit dem Wald verschmolz. Es glich einem kleinen Turm aus aufrechten Balken, die sich zur Mitte hin an die kräftigen Baumstämme lehnten. Doch diese Bäume hatten noch eine andere Aufgabe. Sie waren Pfeiler in einem Flechtwerk aus Zweigen, die sich großflächig über die Lichtung streckten. Auf den ersten Blick war daran nichts Ungewöhnliches, vor allem nicht jetzt im Spätsommer, wenn das Laub dicht und grün war. Aber dann hörte man das Krächzen der Raben und entdeckte, dass sie eine große, kreisförmige Einfriedung bildeten. Die Rabnerei.

Zu Hause in Eisvaldr gab es mehrere davon und der Rat schickte Briefe nie anders als mit Raben. Ramoja hatte die alleinige Verantwortung für die wichtigste Korrespondenz nach und von Elveroa. Normale Briefe wurden hier wie in Mannfalla mit Wagen befördert, aber wenn sie über Nacht und unbemerkt zugestellt werden sollten, dann waren die Raben nicht zu schlagen. Sie waren die schwarzen Boten, die Flügel des Rates, heilige Träger von Nachrichten und von Befehlen über Leben und Tod. Ein Großteil von Mannfallas unübertroffener Macht basierte auf dem Netzwerk der Raben, die nie ruhten.

Rime hörte, dass sie von einem Fremden flüsterten, der sich näherte. Er wurde beobachtet. Mit Blicken gemessen. Er wurde als ein Sohn des Sehers erkannt und die Raben beruhigten sich. Rime blieb stehen. In der Stille schwang Erwartung, Hunger mit. Wie der Blutdurst eines Tigers, unschuldig, notwendig, aber stark und unvorhersehbar. Schwarze Schatten strichen ungeduldig zwischen den Tannen umher. Er setzte seinen Weg fort und das Krächzen hob aufs Neue an. Ein anschwellender Chor von Ansprüchen, die nach Erfüllung verlangten.

Eine tiefe Frauenstimme vermischte sich mit dem Lärm.

»Sie haben gesagt, es seien bekannte Leute, aber ich weiß nicht, ob ich glauben kann, was ich sehe.«

Ramoja trat aus der Einfriedung. Ihre Hüften tanzten hin und her, wie es nur Hüften aus Bokesj konnten. Das pechschwarze Haar war in einem dicken Pferdeschwanz gebändigt, der ihr steif vom Hinterkopf abstand wie das Schwanzgefieder einer Krähe. Sie war schlanker geworden, wie er durch die weite, hauchdünne Hose erkennen konnte. Die Hosenbeine waren unten um die Knöchel mit einem Band aus goldenen Perlen festgebunden, die bei jedem ihrer Schritte klirrten. Solche Hosen trugen auch die Tänzerinnen in Mannfalla. Nach einigen Jahren in Elveroa hielt Ramoja noch immer an ihrem Status als Fremde fest.

Vetle lief auf sie zu.

»Mama! Wir sind in die Alldjup-Schlucht gefallen!«, verkündete er stolz. Ramoja stellte ungerührt einen blutverschmierten Eiseneimer im Moos ab und legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. Sie hielt ihn eine Armeslänge von sich, während ihr Blick schnell über seinen Körper wanderte, um festzustellen, ob er unversehrt war. Dann wandte sie sich wieder an Rime. Er suchte nach Spuren von Besorgnis in ihren Augen, fand aber keine.

Sie waren ein merkwürdiger Anblick, die Rabnerin und ihr Sohn, ein fast erwachsener Mann, der wie ein Kind dachte und handelte. Und er war so blond wie sie dunkel. Vetle begann zu erklären und Rime mischte sich ein, um der Schreckensgeschichte zuvorzukommen, die er unterwegs schon so oft gehört hatte. Er erzählte Ramoja, was geschehen war. Sie nahm es, wie es war, und schimpfte den Jungen auch nicht aus. Vetle hatte sich immer frei bewegen dürfen, ungeachtet der offensichtlichen Gefahren.

»Niemand ist gefallen. Das ist das Wichtigste«, sagte Rime, obwohl Ramoja nicht den Anschein machte, als müsse sie beruhigt werden.

»Wir werden alle fallen, früher oder später. Nichts währt ewig«, antwortete sie nur.

Dann nahm sie den Eimer und kam auf ihn zu, eine Hand erhoben, als wollte sie ihm die Wange tätscheln. Doch das tat sie nicht. Sie ließ die Hand wieder sinken. Solange er zurückdenken konnte, war sie wie eine Mutter für ihn gewesen. Jetzt sah sie etwas in ihm, was sie nicht berühren wollte. Dasselbe, was Hirka dazu bewegt hatte, ihm den Rücken zuzukehren und zu gehen. Es war, als wüssten sie es. Als habe sich alles, was er in den zurückliegenden drei Jahren gesehen und getan hatte, auf seiner Haut, in seinen Augen abgelagert. Rime verspürte einen Anflug von Trauer, die er sofort erstickte. Ramoja nahm den Eimer in die andere Hand und der Griff knarrte. Er roch nach rohem Wild.

»Ich habe dich nicht mehr gesehen seit …«

Rime half ihr. »Seit dem Ritual.«

Sie schaute ihn an. Ihre Augen waren braun und mandelförmig in einem olivfarbenen Gesicht. Sie changierten zwischen Kälte und Wärme, randvoll mit dem, was sie sagen wollte. Trotzdem kam nichts anderes als eine leise Bestätigung.

»Ja, seit dem Ritual …«

Ramoja schüttelte die alten Erinnerungen ab und schob Rime und Vetle ins Haus. Sie stellte den eisernen Eimer auf dem Boden ab und setzte den Wasserkessel auf die glimmende Feuerstelle. Rime sah sich um. Der Raum war noch genauso eng, wie er ihn in Erinnerung hatte, mit einer kleinen Kammer ganz hinten, abgeteilt durch einen Vorhang aus einem unbenutzten Fischernetz. Das Sonnenlicht fiel dort durch eine Luke, die für die Raben immer offen stand. Eine Leiter führte nach oben in den ersten Stock, wo, wie Rime wusste, große Mengen Papier in kleinen Regalfächern gestapelt lagen, sortiert nach Größe und Gewicht. Hier unten war die nächste Ecke bedeckt mit Ablagefächern, in denen Ramoja jede Menge schmale Hülsen aus so unterschiedlichem Material wie Leder, Holz und Bein aufbewahrte. Einige lagen verteilt auf einem schmalen Arbeitstisch aus grünem Glas. Ein Rabe war dabei, sie mit dem Schnabel – eine nach der anderen – in das richtige Fach einzusortieren. Die Klauen des Vogels klapperten auf dem Glas, wie er da langsam hin- und herlief.

Als Rime sich an den Fenstertisch setzte, drehte der Vogel sich nach ihm um. Er hatte Rime gespürt, noch ehe er ihn gesehen hatte. Dann sprang er mit einem Satz auf Rimes Tisch und kam ganz nah zu ihm. Er blieb an seinem Arm stehen, der auf dem Tisch ruhte, und legte den Kopf schräg. Der Rabe war groß, hatte aber ein schmales Gesicht. Im Sonnenlicht schimmerte sein Federkleid lila und blau. Kleine schwarze Daunen umgaben die Schnabelwurzel. Rime konnte kleine Kratzer auf dem Schnabel erkennen, die vom lebenslangen Gebrauch herrührten. Der Vogel blinzelte.

Rime hätte ihm gern gegeben, was er haben wollte, doch er konnte hier nicht umarmen. Als verstünde er, dass das Spiel verloren war, begann der Rabe, mit dem Schnabel an seinem Hemdsärmel zu zupfen.

»Arnaka!«

Ramoja hob das stolze Tier mit beiden Händen hoch, als sei es ein gewöhnliches Huhn, und warf es hinauf zur Dachluke. Der Vogel flog ohne Protest in die obere Etage, stieß aber einige beleidigte Krächzer aus.

»Sie ist sonst nicht so ungezogen.«

Ramoja reichte ihm eine einfache Tonschale mit Tee und setzte sich ihm gegenüber.

»Das war wohl keine Überraschung.«

Er brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass sie immer noch von dem Ritual sprach und von der Bestätigung, die er dabei erhalten hatte, dass die Gabe ihn stark durchfloss. So war es schon bei seiner Mutter gewesen und so war es immer noch bei Ilume. Wie bei allen zwölf Ratsfamilien, die seit Generationen die Worte des Sehers auslegten.

Ramoja wandte den Blick nicht von ihm ab. In dem Punkt erinnerte sie ihn sehr an seine Großmutter. Doch diese Augen waren das genaue Gegenteil von Ilumes. Diese hier strahlten. Sie waren die Augen einer Mutter.

Ramoja hatte eine ehrenvolle Stellung als Rabnerin in Mannfalla aufgegeben, um Rimes Großmutter zu ihrem Dienst im Rat von Elveroa zu folgen. Rime kannte auch den Grund dafür. Es war schwierig, Ramoja anzusehen, ohne daran zu denken, obwohl er davon eigentlich keine Kenntnis haben sollte. Doch der Berg an Dingen, von denen er eigentlich nicht hätte wissen dürfen, war höher als der Glockenturm in Mannfalla gewesen, noch ehe er zehn Winter alt war.

Rime trank. Die Wärme breitete sich in seinem Mund aus.

»Jedes Mal, wenn ich dich sehe, entdecke ich in deinen Gesichtszügen mehr von ihr«, stellte sie fest.

»Man wird älter«, antwortete er, weil ihm nichts Besseres einfiel. Er wusste nicht, wie seine Mutter ausgesehen hatte, kannte sie nur von dem gewebten Bild, das im Wintergarten zu Hause in Eisvaldr hing. Es zeigte eine Frau mit schmalen Händen, die nach den Zapfen in einer knorrigen Föhre griffen, die immer noch in dem Garten stand, der ihren Namen trug. Rime war erst sechs gewesen, als seine Eltern im Schnee umkamen.

»Älter? Du bist achtzehn«, lachte Ramoja und schlug ein Bein übers andere. Die goldenen Tropfenperlen, die ihre Hosenbeine zierten, klackerten aneinander.

Ihr Gesicht wurde schnell wieder ernst. Wohl wissend machte sich Rime auf das gefasst, was kommen musste.

»Was machst du gerade, Rime?«

»Was meinst du?« Er verschaffte sich etwas Zeit. Er wusste nur zu gut, was sie meinte.

»Sie sagen, dass du in der Garde anfängst. In der Leibgarde?«

Rime nickte und suchte nach etwas, worauf er den Blick ruhen lassen konnte. Zwei tote Kaninchen lagen auf einer Bank neben der Feuerstelle. Wahrscheinlich für die Raben, die oft besser aßen als die Leute. In der Kammer hinter dem Fischernetz trieb sich Vetle unruhig herum, als suche er nach etwas, ohne sicher zu wissen, was es war. Ramoja lenkte Rimes Blick wieder auf sich.

»Hast du mit ihr gesprochen, seit du zurück bist?«

»Sie ist bis heute Abend auf Ravnhov.«

Ramoja sagte nichts, deshalb fügte er hinzu: »Dann werde ich mit ihr sprechen.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Rime An-Elderin, Ilumes einziges Enkelkind, geboren und aufgewachsen in Eisvaldr, und du verleugnest deinen Platz im Rat?«

»Ich verleugne nichts.« Er wusste, dass das hohl klang. Eine solche Entscheidung konnte unmöglich anders als mit einer Verleugnung erklärt werden. Aber die Wahrheit war noch viel schlimmer.

»Ist es wirklich das, was du willst?« Berechtigter Zweifel lag in Ramojas Stimme. Sie beugte sich zu ihm, die Hände vor sich auf dem Tisch. Die Armreife klirrten.

»Ich will ihnen dienen«, hörte er sich antworten.

Ramoja lehnte sich wieder zurück. »Ja, zweifellos hat auch die Leibgarde viele wichtige Aufgaben zu erfüllen.«

Das stimmte, aber Rime hörte an ihrer Stimme, welch schwacher Trost das war. Er spürte den schalen Beigeschmack seiner eigenen Lüge. Das war neu. Eine neue Maske, die er tragen musste. Für Ramoja war er der schwächliche Sohn einer starken Familie. Für seine Großmutter war er ein Verräter. Allein der Rat kannte den wahren Grund für diese Entscheidung und den konnte er mit niemandem teilen.

»Die Schriftgelehrten in Mannfalla protestieren schon; das weißt du?«, fragte sie.

»Die Augen des Sehers protestieren immer. Das geht vorbei. Nächsten Monat ist das vergessen.«

»Vergessen? Die einzige Unterbrechung in der Ratszeit derer von An-Elderin seit den ersten Stühlen? Rime An-Elderin, das Kind, von dem der Seher sagte, dass es leben sollte? Der Junge, der eigene Sehersäle hatte, noch ehe er überhaupt geboren war?«

Bei ihren Worten zuckten seine Mundwinkel. Er unterdrückte einen primitiven Impuls, die Zähne zu blecken. Es war schwieriger als sonst. Vielleicht, weil es bald vorüber war. Er würde nie mehr gezwungen sein, den eigenen Mythos zu leben. Nur die Auseinandersetzung mit Ilume stand noch aus.

Ramoja suchte in seinen Augen immer noch nach einer Antwort. Er ließ sie suchen. Sie würde sie nie finden.

»Hast du den Eid abgelegt, Rime?«

Er nickte und sah, wie ein Ausdruck von Schmerz über ihr Gesicht huschte. Also hatte auch sie geglaubt, er würde seine Meinung ändern.

»Du findest, ich verrate das Andenken meiner Mutter«, sagte er.

»Nein, nein!«

Ramojas Augen weiteten sich und der Schleier, der ihre Gefühle verbarg, hob sich für einen Moment. Ein Zeichen, das kaum ein anderer als er hätte deuten können. Er war mit dem Verdeckten aufgewachsen und hatte gelernt, den Unterschied zu sehen. Sie sagte die Wahrheit.

»Du entscheidest nach deinem Herzen, Rime. Nicht nach denen der Toten. Das kann dir niemand nehmen, nicht einmal …«

»Nein, nicht einmal sie.«

Er lächelte. Das war das Erste, woran alle dachten: Was würde Ilume dazu sagen? Wie würde die Matriarchin der Familie An-Elderin die Nachricht aufnehmen, dass sich ihr Enkel für den Weg des Kriegers entschieden hatte, nicht für den vorherbestimmten Weg auf einen der zwölf Stühle, die die Welt regierten und schon immer regiert hatten?

Ramoja schüttelte den Kopf. Nicht einmal sie konnte sich vorstellen, was Rime bevorstand.

»Ich hatte immer gehofft … geglaubt …«

Die letzten Worte kamen schnell, um die Enthüllung zu tarnen, aber es war schon zu spät. Ramoja hatte gehofft, er werde Ilume folgen. Rime war überrascht. Er hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet sie an Traditionen festhalten würde. Sie hatte viele Gründe, es nicht zu tun. In diesem Licht betrachtet war Ramojas Loyalität gegenüber Ilume und dem Rat umso rührender.

Ramoja erhob sich und gleich darauf hörte Rime, wie einer der Raben durch die Luke hinter dem Vorhang hereinflog. Ramoja zog das Fischernetz zurück und scheuchte Vetle aus der Kammer. Der Rabe setzte sich auf ihre Hand, ohne dass sie ein Wort sagen musste. Er kannte die Abläufe. Sie löste eine Hülse, die ganz oben zwischen den Beinen befestigt war.

Rime sah, dass die Knochenhülse das eingebrannte Zeichen des Rates trug. Er war mit dem Zeichen aufgewachsen. Das Zeichen des Sehers. Der schwarze Rabe, von dem alle geglaubt hatten, dass auch er ihn auf der Stirn tragen würde. Ramoja zog die Briefrolle aus der Hülse und überprüfte das Siegel. Der Brief war allein für Ilumes Augen bestimmt. Ramoja schob ihn zurück in die Hülse und steckte sie in die Tasche.

»Gestern ist auch ein Rabe gekommen. Wegen des Rituals. Sie haben es in diesem Jahr wohl früh festgelegt?« Sie schaute ihn an, als glaube sie, er wisse eine Erklärung.

»Ja«, sagte er nur. Es war ein unwirkliches Gefühl, über die Tätigkeit des Rates zu sprechen, als ginge ihn das nichts an. Er würde keiner von ihnen mehr werden.

»Die Leute werden die Gerüchte für wahr halten«, sagte Ramoja. Rime gab keine Antwort. »Aber über das Ritual haben sie sich schon immer das Maul zerrissen«, fuhr sie fort. »Jedes Jahr kurz vor dem Ritual gibt es doch immer jemanden, der sie wieder gesehen haben will.« Sie lachte auf, schaute Rime aber freudlos an, als wolle sie sehen, wie er auf ihre Worte reagierte. Sie nahm wie alle anderen an, er wisse mehr darüber, was der Rat vorhatte. Und in der Regel lagen sie richtig.

»Der Rat kann froh sein, dass die Leute so viel Fantasie haben«, meinte er. »Was hätte das Ritual sonst für einen Sinn, wenn nicht wegen der Blinden?«

Ramoja lachte schief.

»Ist dieses Jahr nicht auch Vetle dran?« Rime schaute den Jungen an, der auf der Bank zur Ruhe gekommen war, den Kopf an die Wand gelehnt. Er öffnete die Augen, als er seinen Namen hörte, schloss sie aber gleich wieder.

Ramoja stand auf, nahm die leeren Teeschalen und kehrte ihm den Rücken zu. »Ja«, antwortete sie.

Auch Rime erhob sich. Er wusste, dass sie sich nur selten nach Mannfalla begab, und das auch nur widerwillig. So widerwillig, dass sie in Elveroa bleiben würde, auch wenn Ilume jetzt zurück in die Hauptstadt fuhr. Alles deutete darauf hin, dass der Besuch beendet war, aber er legte ihr dennoch eine Hand auf die Schulter. Es war unwahrscheinlich, dass er sie noch einmal wiedersehen würde. Allenfalls flüchtig in der Menge, während des Rituals, sofern er einen Grund hatte, sich dort aufzuhalten, aber Rime war gekommen, um Abschied zu nehmen. Sie durfte das nur nicht wissen.

Ramoja drehte sich mit einem entschuldigenden Lächeln wieder zu ihm um.

»Ich habe mich noch nicht an den Gedanken gewöhnt, ohne euch hier zu sein.«

Rime lächelte. »Ich bin drei Jahre nicht hier gewesen.«

Aber er wusste, was sie meinte. Ramoja war ein Teil der Familie An-Elderin. Als seine Mutter starb, hatte Ramoja ihre beste Freundin verloren. Rime wusste, dass sie nie ganz darüber hinweggekommen war. Es gab keine Worte, mit denen er sie hätte trösten können.

»Wir hätten ohnehin nie hier sein sollen«, sagte er. »Der Plan war zum Scheitern verurteilt.« Über seine offenen Worte war er selbst erstaunt. Vielleicht lag es daran, dass sich ihre Wege nun trennten. Vielleicht lag es an der befreienden Erkenntnis, dass er niemals in die Fußstapfen seiner Großmutter treten würde. Er kannte den Grund für seine Offenheit nicht. Aber er sprach weiter.

»Der Rat hat Ilume viele Jahre hierbehalten, weil sie nur so Ravnhov nahe sind. Das ist kein Geheimnis. Aber wie viele Sehersäle haben sie denn geschafft, in Ravnhov zu eröffnen?«

Ramoja lächelte zurückhaltend. Sie beide kannten die Antwort: keinen. Ravnhov war stark. Es war ein altes Fürstentum und dem Rat ein Dorn im Auge. Ravnhov war der einzige Ort auf der Welt, den Mannfalla nie würde bekehren können, obwohl die Städte nur wenige Tagesreisen voneinander entfernt lagen. Aber dazwischen lag Blindból, das schwarze Herz von Ymsland. Die unüberwindlichen Berge, die alle fürchteten und mit langen Umwegen umfuhren. Eine Region nach der anderen hatte sich zum Rat bekannt, nur Ravnhov hatte sich noch seine Selbstständigkeit bewahrt. Das Fürstentum war jetzt schuldenfrei und wurde mit jedem Tag stärker.

»Wir machen uns ein paar Tage vor den anderen auf den Weg«, sagte Ramoja. »Nora kümmert sich um die Raben, während ich weg bin. Sie ist jetzt alt genug für diese Verantwortung.«

Rime nickte. Eine seltsame Vorstellung, dass die Tochter des Schmieds schon alt genug war, um als Lehrling in einer Rabnerei zu arbeiten. Er hatte sie als ängstliches Kind in Erinnerung, das sich weigerte, bei Streichen mitzumachen. Wie etwa dem, von der Westseite auf den Berg Vargtind hinaufzuklettern …

Rime erinnerte sich, wie er da oben auf dem Gipfel gethront hatte, überzeugt davon, dass es außer ihm niemandem gelungen war, die senkrechte Felswand zu erklimmen. Bis Hirka sich mit aufgestoßenen Knien über die Kante gehievt hatte. Sie hatte sich ein Stück von ihm entfernt hingesetzt und so getan, als sei nichts. Sie hatte versucht, nicht zu lächeln, obwohl er gesehen hatte, wie ihre Mundwinkel zuckten. Das Mädchen war wie Nektar gewesen. Sie war die Einzige in Elveroa, die sich nie vor ihm verbeugt oder ihn mit seinem Titel angesprochen hatte. Sie war wie Vetle. Es spielte keine Rolle, wer Rime war. Sie konnte ihn herausfordern oder ihm an den Kopf werfen, er solle sich zum Draumheim scheren – ein Gefühlsausbruch, der sie das Leben hätte kosten können, wenn jemand sie zufällig gehört hätte. Rimes Brust durchlief ein Schauder. Er hatte Leute für viel weniger sterben sehen.

Aber das war jetzt einerlei. Er war keine Figur mehr im Spiel des Rates. Er hatte seinen Platz gefunden. Er war schon tot.

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