Читать книгу Die Rabenringe - Odinskind - Siri Pettersen - Страница 3

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Prolog

Thorrald schlüpfte gerade noch zur Tür herein, konnte sie aber nicht mehr hinter sich schließen. Der Schnee drängte sich schneller über die Schwelle, als er sich mit dem Fuß wieder nach draußen schieben ließ. Er drückte das Bündel in seinen Armen an sich und warf sich wie ein Stier gegen die Tür. Es funktionierte und er konnte den Riegel vorschieben. Er war zu Hause. Endlich in Sicherheit.

Er trat an die Fensteröffnung und schaute hinaus. Von draußen würde niemand etwas sehen. Schon gar nicht bei so einem Wetter. Und dennoch … Er legte das Bündel auf den Tisch und schloss die Fensterläden.

Die Schwarzröcke. Niemand kann die Schwarzröcke aufhalten.

Altweibergedanken! Was konnten die Schwarzröcke ihm schon anhaben? Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen! Bei dem Gedanken war ihm, als zöge sein ganzes Leben vor seinem inneren Auge vorbei. Die Drogen, die er vor der Zunftversammlung verkaufte. Opia fürs Volk, das sich damit zu Tode rauchte.

Dummes Zeug! Wenn die Schwarzen kamen, dann nicht, weil er vor einer Hütte am Ende der Welt harmlose Kräuter verhökerte. Wenn sie kamen, dann ihretwegen …

Thorrald starrte das Bündel auf dem Tisch an. Die Missgeburt. Sie schrie nicht. Vielleicht war sie schon tot. Das wäre das Einfachste gewesen. Es überlief ihn kalt. Der Bärenpelz, den er trug, war so dick, dass er fast den gesamten Raum ausfüllte, doch das half nichts gegen die innere Kälte. Er nestelte an der Verschnürung. Seine Finger waren von der Eiseskälte steif, wollten nicht gehorchen. Er blies in die Glut der Feuerstelle und hielt die Hände über die Wärme. Das Eis im Pelz schmolz und tropfte fauchend ins Feuer.

Der verfluchte Olve hatte im Bierrausch mit dem Schwert herumgefuchtelt. Wonach hatte er gesucht? Nach der Missgeburt? Nach was sonst? Aber egal. Olve hatte das Kind nicht gesehen. Die Kleine war in Sicherheit.

In Sicherheit?! Bist du von Sinnen? Du hast dein eigenes Leben zu leben!

Zwar kein Leben, das ein Heldenlied wert war, aber immerhin war es eines. Aber er konnte sich nicht mit einem Kind belasten! Schon gar nicht mit einem wie diesem. Er wusste, dass er handeln musste.

Thorrald zog sein Messer und starrte hinunter auf die Missgeburt. Sie schlief. Seine Faust war größer als ihr Kopf. Er hob die Klinge. Das Mädchen schlug die Augen auf. Sie waren grün und ohne Angst. Thorrald brüllte auf und rammte das Messer neben ihr in den Tisch. »Blindwerk! Das bist du! Eine Totgeburt!«

Er griff nach dem Krug und stürzte einen Rest lauwarmes Bier hinunter. Dann wickelte er die Kleine aus der Decke, als sei sie ein Geschenk. Sie lag da und ruderte mit den Ärmchen.

Die Erinnerung an alte Hausmittel stieg in ihm auf. An Lügenmärchen, für die er sich zu schade sein sollte. Und dennoch … Er presste den Daumen auf die Klinge, bis ein Blutstropfen hervorquoll, und ließ ihn in den Mund des Kindes tropfen. Nichts passierte. Er verfluchte seine eigene Dummheit. Was hatte er erwartet? Reißzähne?

Es gibt keine Blinden.

Thorrald stützte die Arme auf den Tisch und murmelte: »Was zum Draumheim bist du? Du bist kein Geist. Und du bist keine Blinde. Bist du nur missgestaltet?« Er drehte sie auf den Bauch und strich mit der Hand das Rückgrat entlang, wo der Schwanz hätte sein sollen. Weiß der Seher, er gehörte nicht zu denen, die etwas auf Altweibergewäsch gaben, aber das Kind sprach für sich. Sie war kein Ymling.

Du bist Fäulnis.

Er starrte auf seine Hände, als hätten sie schon angefangen zu verfaulen. »Ich kann dich nicht hierbehalten. Niemand könnte das!« Er hob sie hoch und hielt sie ein Stück von sich. Sie war nur ein paar Tage alt. Den Kopf bedeckte weicher Flaum, kupferrot im Schein des Feuers.

»Ich kann dich töten. Das sollte ich tun. Meine eigene Haut retten.« Aber er wusste, dass er es nicht fertigbrachte. Er hatte es schon gewusst, als er sie beim Steinkreis aus dem Schnee grub. »Du wirst es mir nicht danken, Mädchen. Das Leben draußen auf den Straßen ist kein Vergnügen. Und du findest unter den Tischen der Bierstuben bessere Gesellschaft als mich.«

Die Kleine lächelte ihn zahnlos an. Er legte sie wieder hin. Er wusste, was er zu tun hatte. Das war schwieriger, als sie zu töten, aber er hatte keine Wahl. Er konnte nicht mit einem schwanzlosen Mädchen umherziehen. Er starrte auf den Rest Bier, der im Krug noch übrig war. Dann nahm er die Schachtel mit Traumkappe aus dem Regal. Stark genug, ein so kleines Wesen umzubringen. Er musste vorsichtig sein. Thorrald ließ eine Prise des Pulvers in den Bierkrug rieseln und rührte alles um, bis es nicht mehr schäumte.

»Ist dir klar, was das hier kostet, Mädchen?« Er tunkte einen Stoffzipfel ins Bier und legte ihn auf ihren Mund. Sie saugte daran wie an einer Frauenbrust. Er wartete, bis ihre Augen langsam zufielen, und zog das Messer aus der Tischplatte. Es hinterließ eine helle Wunde im Holz.

Thorrald grub die Klinge in den Rücken des Mädchens. Es schrie. Er legte der Kleinen die Hand auf den Mund. Ihr Schluchzen schnitt sich in ihn hinein, so wie er in sie hineinschnitt. Blut rann auf den Teppich und er war erleichtert, dass sie bluten konnte. Was hatte er erwartet? War er dabei, hysterisch zu werden?

Thorrald ließ nicht eher von ihr ab, bis sie über den Pobacken eine tiefe Wunde hatte; Kratzspuren am Rücken wie von Krallen. Das Mädchen hörte schneller auf zu weinen, als er gedacht hatte. »Wenn jemand fragt, dann hat der Wolf sich deinen Schwanz geholt. Hörst du das? Der Wolf!«

Sie schloss die Augen. Plötzlich bekam er Angst, dass er ihr zu viel Traumkappe verabreicht haben könnte. Er legte sein Ohr an ihre Brust und horchte, ob sie richtig atmete. Nicht dass er gewusst hätte, was richtig atmen bei einer Missgeburt bedeutete.

Schicksalskind. Du wirst noch mein Tod sein.

Thorrald ließ sie auf dem Tisch liegen. Er zog den Pelz enger um sich und ging hinaus in den Sturm. Wie ein verängstigtes altes Weib glaubte er, Schatten zwischen den froststarren Tannen zu erkennen. Aber dort war niemand. Keine Schwarzröcke. Kein jäher Tod, der hinter den Büschen auf ihn lauerte. Noch nicht.

Das Einzige, was er sah, war Ulvheim. Zum allerletzten Mal. Er zog den Spaten aus dem Schnee und begann, sich einen Weg zum Wagenschuppen zu schaufeln.

Die Rabenringe - Odinskind

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