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Kapitel 2

San Francisco, Police Department

„Ich hatte den Umschlag versehentlich zwischen meinen Akten erhalten. Der ist wohl für dich.“ Jemand legte ihm einen verschlossenen Umschlag auf den Schreibtisch. Als Pierré Jones darauf starrte, wurde ihm mulmig zumute.„Danke, Sir“, sagte er und warf seinem Erzfeind und neuem Chef des Police Departments, Scott Williams, einen flüchtigen Blick zu. Er würde sich wohl nie daran gewöhnen, dass ausgerechnet er sein neuer Boss war. Scott wirkte, als wollte er noch etwas sagen, verließ dann aber sein Büro. Die Tür wurde geschlossen. Pierré ließ sich in den Stuhl zurückfallen. Sein Blick fiel erneut auf den Umschlag. Endlich. Darauf hatte er eine knappe Woche gewartet. Wieso war er mit einem Mal so nervös? Vielleicht sollte er mit dem Öffnen warten, bis sein nächster Termin vorüber war, der in wenigen Minuten anstand. Vielleicht sollte er- Er streckte die Finger nach dem Umschlag aus. Wieso zitterten sie so? Als er das Papier hinauszog und die Werte und Zeilen überflog, wurde ihm schlagartig schlecht. Die Buchstaben brannten sich ihm ins Hirn, ehe sie verschwammen. Das Vibrieren seines Handys ließ ihn zusammenzucken. Sein trüber Blick wanderte zum Display. Es war Penny Liva, seine Geliebte. Er wollte das Gespräch entgegennehmen, wollte von der Neuigkeit berichten, die er in den Händen hielt. Doch selbst wenn er wollte, er konnte jetzt nicht ans Telefon gehen. Er würde keinen Ton über die Lippen bringen. Dann würde sich Penny um ihn sorgen. Unnötigerweise. Damit wollte er sie nach dem Tod ihrer Halbschwester Nadine Shark nicht auch noch belasten. Der Anruf verstummte. Es herrschte Stille. Bloß das Ticken der Wanduhr war zu hören. Pierré starrte erneut auf den Zettel in seiner Hand. Klar und deutlich hörte er sein Herz hämmern. Fühlte, wie weich sich seine Glieder anfühlten. Er versuchte, den Ausbruch von Trauer zu überspielen, indem er grinste. Eine Träne tropfte auf das Papier. Sebastian Schmidts hatte Recht behalten. Bei Nadines Obduktion hatte man eine Schwangerschaft festgestellt. Das Ungeborene hatte nicht überlebt. Mittels des neuen Forensikers war Pierré an eine Ampulle Blut von ihr rangekommen, um es zusammen mit seinem Blut untersuchen zu lassen. Nur um sicher zu gehen. Nadine Shark, seine damalige Affäre, war schwanger gewesen. Genau genommen in der zwölften Woche. Und der DNA Test in seiner Hand zeigte eindeutig: Es war sein Nachwuchs, der mit Nadine gestorben war.

***

Zum wiederholten Mal das Police Department aufzusuchen, erschlug Audrey mit dunklen Erinnerungen. Erst vor kurzem war sie gemeinsam mit Mitch hier gewesen. Er hatte sie begleitet. Hatte ihr zur Seite gestanden. Sie seufzte, als die nette Dame vom Empfang sie zu Pierrés Büro führte. Sie bedankte sich, klopfte an und trat ein. Pierré wischte sich soeben mit dem Handrücken über die Augen und stand auf. „Hallo Audrey.“

„Hi“, grüßte sie erschöpft und ließ sich auf den Stuhl sinken, den er ihr anbot.

„Möchtest du einen Kaffee?“

„Gerne.“

Pierré goss das dunkle Getränk in zwei Becher. Der Duft von Kaffeebohnen ließ ihren Magen knurren. Ihr wurde jetzt erst bewusst, dass sie die letzten Tage kaum einen Bissen zu sich genommen hatte. Sie war Mitch nicht von der Seite gewichen. Pierré reichte ihr einen Becher.

„Wie geht es Mitch?“, fragte er und musterte sie.

„Sein Körper wird schwächer. Das Gift macht ihm zu schaffen.“

Er setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. „Er wird es schon schaffen.“

„Ohne Gegenmittel wage ich es zu bezweifeln.“

„Du gibst ihn doch nicht auf?“

„Niemals!“ Ihr fröstelte es. Audrey stellte die Tasse ab und rieb sich über den Oberarm. „Nur weiß ich nicht, wie ich Mitch helfen kann. Bist du weitergekommen?“

„Leider nicht.“ Pierré sah auf sein Handy. „Ich hatte so sehr gehofft, dass uns John Gruber mit seinen Fähigkeiten und Kontakten helfen könnte, ein Gegenmittel zu finden. Ich versuche, ihn seit Tagen zu erreichen, aber er hebt nicht ab. Ich habe ihn sogar Zuhause aufgesucht, doch er hat mir nicht aufgemacht. Das ist untypisch für ihn.“

„Ist ihm vielleicht etwas zugestoßen?“

„Ich hoffe nicht. Vielleicht ist er auch einfach verreist und hat sein Handy nicht mitgenommen. Ich bleibe aber dran.“

Audrey trank von ihrem Kaffee. „Wieso sollte ich eigentlich vorbeikommen?“

„Der Leichnam deines Bruders konnte bei Blizzard sichergestellt werden. Es wurden Rückstände eines Gifts in seinem Blutkreislauf gefunden. Dieselben Rückstände, die sich in der Ampulle befanden, die wir aus deiner Manteltasche hatten. Außerdem sind Fingerabdrücke auf der Ampulle gefunden worden.“

„Und deswegen sollte ich vorbeikommen?“

Pierré zog eine Schublade auf, zog einen Block und ein schwarzes Stempelkissen hervor, und schob ihr beides zu. „Wir brauchen deine Fingerabdrücke.“

Audrey schluckte. „Sicher.“

Pierré starrte sie an. „Sollten wir deine Fingerabdrücke auf der Ampulle finden, dann-“

„Schon klar“, redete Audrey dazwischen und ließ zu, dass er jeden einzelnen ihrer Finger in die Tinte tunkte und auf dem Papier verewigte. Er musste nicht weitersprechen. Sie ahnte bereits, dass sie dann eine der Hauptverdächtigten sein würden. Jene, die angeklagt werden könnte, ihren geliebten Bruder getötet zu haben. Erst als er fertig war, ballte sie die Hände zu Fäusten. Pierré deutete auf ein kleines Waschbecken in einer Ecke des Büros.

„Danke.“ Audrey stand auf und wusch sich die Hände. Soweit war es bereits gekommen. Nicht nur, dass ihr Eyrin, eine Anhängerin von Blizzard, ihren Bruder genommen hatte. Sie versuchte sogar, ihr den Mord unterzujubeln. Sogar Mitchs Wohlbefinden hatte sie auf dem Gewissen. Eine ungeheure Verärgerung breitete sich in Audrey aus. Und eine frustrierende Hilflosigkeit. Konnte sie wirklich zulassen, dass eine Fremde das Leben ihres Geliebten und ihr eigenes so zerstörte? Audrey stellte das Wasser ab und trocknete sich die Hände. Einige Rückstände waren allerdings hartnäckig und ließen sich nicht entfernen. Es war ein seltsames und furchteinflößendes Gefühl, als Tatverdächtige abgestempelt zu werden.

„Du hast die ganze Zeit nichts gesagt“, meinte Pierré nun.

„Was soll ich schon großartiges sagen?“ Audrey pfefferte die Papiertücher in den Mülleimer und sah ihn an. „Ich war so freundlich und habe diese dämliche Ampulle aufgehoben, um sie dem rothaarigen Miststück zurückzugeben. Ich habe doch nicht gewusst, dass es ein Mittel sein würde, das meinen Bruder töten würde. Mir hätte es gleich komisch vorkommen müssen, da sie in einer Kneipe Handschuhe trug.“

„Mit deiner Beschreibung der Rothaarigen und dem Namen Eyrin habe ich bisher nichts rausfinden können. Sie und Leon Branes sind immer noch wie vom Erdboden verschluckt. Ich bleibe aber dran.“

„Ich danke dir, Pierré.“

Er stand auf. „Sollten deine Fingerabdrücke mit denen von der Ampulle übereinstimmen, könnten weitere Vernehmungen stattfinden.“

„Wie lange wird es dauern, bis das Ergebnis vorliegt?“

„Es könnte sich bis zu einer Woche hinziehen. Außerdem gibt es-“

Audrey wusste, dass ihr die Belastung nicht guttun würde. Sie und ihren Bruder ermorden? Die Anschuldigung war hart und nicht gerechtfertigt. Ihre Gedanken schweiften zu dem Mann, der um sein Leben kämpfte. Ihr graute es. Viel abscheulicher als eine ungerechtfertigte Anschuldigung wäre es, ihr Leben ohne Mitch weiter führen zu müssen. Ohne seine Anwesenheit, seine Nähe, seine Berührungen oder seine Stimme. Das war eine grauenhafte Vorstellung, die sie sich nicht weiter ausmalen wollte. Mitch hatte nicht die Möglichkeit, sich zu retten. Sie schon. Sie würde ein Gegenmittel für ihn finden. Vollkommen egal, wie lange es dauern würde.

„Audrey?“ Eine Stimme riss sie aus den Gedanken.

„Ja?“ Sie schaute auf und blickte in ein besorgtes Antlitz.

„Hast du mir überhaupt zugehört?“

„Ja, es dauert eine Woche, bis die Ergebnisse vorliegen.“

Pierré zog sie auf einen Stuhl und musterte sie eindringlich. „Du hast mir nicht zugehört. Ich habe gesagt, dass wir Seans Handy entsperren konnten, das am Tatort gefunden wurde. Bist du sicher, dass es dir gut geht?“

„Entschuldige bitte.“ Audrey griff nach der Kaffeetasse und starrte auf die bräunliche Flüssigkeit, nach der sie keinen Durst mehr verspürte. „Ich kann mich kaum mehr konzentrieren. Das mit Mitch macht mich fertig. Ich fühle mich so hilflos.“

„Das kann ich gut verstehen.“ Pierré lehnte sich gegen den Schreibtisch. „Vielleicht wäre es besser, wenn du nach Hause fährst und dich ausruhst. Wir können morgen weiter machen.“

„Nein, schon okay.“ Sie rieb sich die Stirn. „Hast du auf dem Handy etwas brauchbares gefunden?“

„Nicht wirklich. Dein Bruder schien so etwas wie ein Privatleben nicht zu haben. Keine Chatverläufe, keine Fotos.“

„Aber das kann doch nicht sein. Manchmal haben wir uns nächtelang Nachrichten geschrieben. Da muss was drauf sein. Bist du sicher, dass es Seans Handy ist?“

Pierré nickte. „Seine Fingerabdrücke wurden auf der Hülle festgestellt. Er zog ein schwarzes Handy in einer Plastiktüte aus der Schublade und drückte auf das Display. Es wurde hell. Der Hintergrund zeigte einen Strand. Sie erinnerte sich, wie sehr ihr Bruder Ausflüge an den Strand geliebt hatte.

„Erkennst du es wieder?“ Er schob es ihr herüber.

„Ja.“

„Es ist lediglich die Nachricht drauf, die er Mitch kurz vor seinem Tod geschickt hat. Die Nachricht, dass Mitch dich abholen soll, weil er den Eisengel gesehen hatte. Nichtsdestotrotz schließt das nicht den Verdacht aus, dass du als Komplizin für Eyrin arbeiten könntest. Schließlich haben dich die beiden Frauen im Hinterhof der Kneipe bei Seans Leichnam gesehen, ehe du geflüchtet bist. Hinzu kommt die Ampulle in deiner Manteltasche. Weißt du, ob Sean ein hohes Vermögen, Wertpapiere oder eine Lebensversicherung besaß?“

„Von seinem Vermögen weiß ich nicht viel. Sean war aber immer sehr sparsam. Ich weiß auch, dass er nach dem Tod unserer Eltern eine Lebensversicherung abgeschlossen hat. Aber das ist schon Jahre her.“

„Wusstest du, wer die Begünstigte sein sollte?“

„Die sollte ich nach seinem Tod sein. Ich hatte abgelehnt, aber er bestand darauf. Er sprach davon, dass er die Versicherungssumme vor drei Monaten auf eine zweite Person angepasst hätte. Sean verriet mir aber nicht, wer die andere Person, neben mir war.“

„Der Staatsanwalt könnte das ebenfalls als Motiv gegen dich verwenden.“

„Ich würde niemals meinen Bruder töten. Schon gar nicht wegen Geld.“

„Okay.“ Pierré notierte sich etwas, ehe er aufsah. „Neben der Nachricht waren die einzigen Kontakte auf seinem Handy, die von Mitch und James.“

„Was ist mit der Nachricht oder vielmehr den Geräuschen, die mir Sean kurz vor seinem Tod auf der Mailbox hinterlassen hat?“, fragte sie.

„Bisher nichts Neues. Die Geräusche werden noch analysiert. Hab Geduld.“

Sie und geduldig? Das waren zwei Worte, die absolut nicht zusammenpassten. Audrey seufzte und ließ die Schultern hängen.

„Ich weiß, es sieht derzeit nicht gut für dich aus“, sagte Pierré, „aber Eyrin wird sicher einen Fehler gemacht haben und wir werden ihn finden.“

Heart & Hazard Series - Verhängnisvoller Verrat

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