Читать книгу Heart & Hazard Series - Verhängnisvoller Verrat - S.L. March - Страница 9
ОглавлениеKapitel 4
UCSF Medical Center
Der Abend war bereits angebrochen, als Audrey sich mit der warmen Tomatensuppe an den Besuchertisch des Krankenzimmers setzte. Daneben lag die Tageszeitung. Sie starrte auf die Schlagzeile der San Francisco Chronicle: „Journalisten verschollen“. Es gelang ihr jedoch nicht, sich auf den Artikel zu konzentrieren. Sie schob die Zeitung beiseite. Mit dem ersten Löffel musste sie feststellen, dass das Essen aus dem Automaten gar nicht so übel war. Sie dachte daran, wie sie sich damals mit Mitch in der Bar des Palace Hotels eine Tomatensuppe geteilt hatte. Er hatte ihr gegenübergesessen und sich bei einem Witz, den sie gerissen hatte, übelst die Zunge verbrannt. Danach hatten sie köstlich gelacht. Es war ein herrlicher Abend gewesen. Audreys Blick wanderte von dem leeren Stuhl ihr gegenüber zum Krankenbett. Es war ein grauenhaftes Bild, das sie nicht mehr losbekommen würde. Der kräftige Körper, der vollkommen regungslos dalag und zerbrechlich wirkte. Die geschlossenen Lider, die verrieten, dass er noch immer schlief. Das Piepen, das den regelmäßigen, ruhigen Rhythmus seiner Herzschläge wiedergab. Sein Herzschlag, der vor wenigen Stunden einfach gestoppt hatte. Audrey schluckte. Sie zwang sich den Blick abzuwenden, um die noch warme Suppe zu verzehren. Sie musste unbedingt an ein Gegenmittel für ihn rankommen. Bloß woher? Ihre Gedanken schweiften zum Gespräch mit Pierré. Wieso hatte Sean keine persönlichen Daten auf dem Handy? Hatte er ein Geheimnis, das niemand erfahren durfte? Sie seufzte und schob den Teller zur Seite. Sean würde nicht zurückkehren und Mitch nicht geheilt werden. Sollte sie etwa einfach hier sitzen und darauf warten, dass das Gift Mitch umbrachte? Möglicherweise hatte James schon einen Anhaltspunkt. Sie zückte ihr Handy und die Visitenkarten, die man ihr in der Hotelbar gereicht hatte, bevor Mitch zu der waghalsigen Mission aufgebrochen war. Sie waren von James Catcher und Karen O´Donald. Audrey wählte James Nummer, aber er hob nicht ab. Sie konnte nicht bloß darauf warten, dass jemand auftauchen und ein Heilmittel bringen würde, sofern es überhaupt eines geben würde. Sie musste etwas tun. Mitch hatte untersuchen wollen, ob Ampullen gestohlen worden waren und ob die das Gift oder vielleicht doch ein Gegenmittel beinhaltet hatten. Audrey erinnerte sich an das Gespräch in der Hotelbar, bei dem Mitch behauptet hatte, den Standort der Ampullen nicht untersuchen zu können, da er damit beschäftigt gewesen war, sie selbst aus der Scheiße zu retten. Bei dem Gedanken an die gefangenen Menschen in dem Labor, die piependen Gerätschaften, das Röcheln und das ganze Blut wurde ihr wieder schlecht. Sie musste etwas tun. Vielleicht konnte Mitchs Chefin ihr helfen? Doch auch die ging nicht an ihr Telefon.
„Mist!“ Audrey stand auf und schob eine der naturroten Locken hinters Ohr, die ihr ständig ins Gesicht fiel. Wenn sie doch nur James dabei helfen könnte, ein Gegenmittel zu finden, doch sie war keine Agentin. Sie war eine Managerin, die jedes Ereignis zu einem spektakulären Event machte. Die mit Blumenarrangements, Lichterglanz und Appetithäppchen die Menschen für einen Tag verzauberte. Wie sollte sie damit dem FBI behilflich sein? Ihre Gedanken schweiften zu einer Hochzeit, die sie in einem Dorf organisiert hatte. Nur wenige Stunden vor dem Beginn hatte der ortsansässige Konditor einen Autounfall gehabt und die Hochzeitstorte war dahin gewesen. Als sie die Nachricht erreicht hatte und die Braut bereits in Tränen ausgebrochen war, hatte sie aus dem Nichts neu starten und einen neuen Konditor finden müssen, der innerhalb kürzester Zeit für Ersatz sorgen konnte. Jeder hatte es für unmöglich gehalten, doch sie hatte es geschafft, dass die Torte auf die Minute zum Anschnitt beim Hochzeitspaar gelandet war. Was, wenn sie James helfen konnte, indem sie andere Mittel und Wege nutzte? Sie spürte ihr Herz trommeln. Was, wenn es ihr gelingen würde, Seans Mörderin zu finden? Möglicherweise hatte Eyrin auch ein Heilmittel für Mitch. Aber wie sollte sie eine Person finden, die untergetaucht war? Audrey zuckte zusammen, als das Handy in ihren Händen surrte. Es war eine unbekannte Nummer.
„Hallo?“
„Spreche ich mit Audrey?“, fragte eine Frau. „Audrey Kane?“
„Wer will das wissen?“
„Unglaublich“, wisperte die Frau.
„Darf ich fragen, mit wem ich das Vergnügen habe?“
„Oh, aber sicher. Entschuldigung.“ Die Frau räusperte sich. „Ich bin Chloé. Chloé Deschanel. Können wir uns treffen?“
Audreys Blick ruhte auf dem hebenden Brustkorb von Mitch. „Ich kenne dich nicht. Worum geht es denn?“
„Bitte, ich muss dir etwas geben. Ich habe eine Nachricht für dich.“
Hatte sie sich auch nicht verhört? Diese fremde Unbekannte hatte eine Nachricht für sie? Aber wieso?
„Eine Nachricht?“ Audrey rieb sich die Stirn. „Was soll das denn für eine Nachricht sein? Kannst du sie mir schicken? Per Mail oder Messenger?“
„Das geht leider nicht. Die kann ich dir nur persönlich übergeben. Sie ist von deinem Bruder.“
Eine Nachricht von Sean, die nicht in schriftlicher Form verpackt worden war? Das war gar nicht Seans Art. Ob vielleicht Eyrin ihre Finger im Spiel hatte? Soweit hatte sie noch nicht gedacht.
„Woher hast du meine Nummer?“
„Von Seans Handy.“
Seans Handy lag beim Police Department in einem Plastikbeutel. „Okay.“
Ihr wurde mulmig zumute. Sie musste Mitch helfen. Doch zu gern wollte sie erfahren, was es mit dieser merkwürdigen Nachricht auf sich hatte. Nein! Sie musste Prioritäten setzen. Und die hieß Mitch. Wahrscheinlich musste sie so fragend geklungen haben, dass sich Chloé an einer Erklärungen versuchte. „Wahrscheinlich ist es für dich genauso verwirrend für mich. Ich halte Seans Handy gerade in den Händen. Ich sehe, wie oft ihr miteinander gechattet habt. Manchmal Stundenlang und mitten in der Nacht. Bitte Audrey!“ Die Verzweiflung wurde überdeutlich. „Ich muss wissen, was hier los ist.“
Audrey hielt das Handy fest umklammert. Es war ihr einziger Halt, denn der andere lag im Bett vor ihr und kämpfte gegen einen unsichtbaren Feind. Die Neugierde in ihr überwiegte.
„Okay, wir treffen uns im alten Gewölbekeller. In einer halben Stunde.“ Audreys Herz hämmerte. Aufregung machte sich in ihr breit. „Wie erkenne ich dich?“
„Sean hat einen Haufen Bilder von euch auf seinem Handy. Ich denke, ich werde dich erkennen.“
„Ich werde dort sein.“ Audrey legte auf und informierte Pierré, der sie davor warnte, dort alleine hinzugehen. Er versprach, Beamte in Zivil zu schicken, die auf sie achten würden. Dankbar verabschiedete sie sich. Eigentlich wollte sie bei Mitch bleiben, aber die Neugierde, was sich hinter Seans Nachricht verbarg, war groß. Sie strich Mitch zärtlich über den Kopf und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich bin bald wieder zurück.“
***
Mitch schreckte schweißgebadet auf. Sein Blick huschte umher. Er spürte einen Schlauch in seiner Nase. Ein Gerät piepte ununterbrochen. Er war im Krankenhaus. Da war noch etwas, was ihn in der Nase kitzelte. Dieser Duft nach Lilien. Den kannte er doch. Audrey!
„Aud“, hauchte er und riss das lästige Beatmungsgerät von sich. Sie war nicht hier. Wo war sie? Wie ging es ihr? Sein letzter Erinnerungsfetzen war, dass er in den Rettungswagen gehievt worden war. Sein Herz hämmerte heftig gegen den Brustkorb, als er die Decke zur Seite schlug. Gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen. Eine Krankenschwester betrat den Raum und verschaffte sich rasch einen Überblick.
„Sie sind wach“, rief sie überrascht. „Wie fühlen Sie sich?“
„Audrey, ich–“ Ein Schwindelgefühl ergriff ihn, als er die Beine aus dem Bett schwang. Der Raum drehte sich auf einmal. Sein Magen rebellierte. „Ich muss zu ihr.“
„Später“, sagte die Krankenschwester und legte ihre Hand auf seine Schulter. „Jetzt müssen Sie sich erstmal ausruhen. Legen Sie sich wieder hin.“
„Nein“, fauchte Mitch aggressiv und riss sich los. „Jetzt! War Audrey hier?“ Er musste zu Audrey und sich persönlich vergewissern, wie es ihr ging. Sie musste hier gewesen sein. Schließlich konnte er noch ihr Parfum riechen. Direkt neben ihm lag ein Halstuch über der Stuhllehne. Ihr Halstuch, das nach Lilien duftete. Erst jetzt realisierte er, dass er das Gift überlebt haben musste. Wie war das möglich?
„Die junge Frau ist vorhin gegangen. Sie kommt sicher bald wieder. Es wäre besser für Sie, wenn sie sich abregen und sich auf ihre Genesung konzentrieren.“
Genesung? Er war vergiftet worden. Eigentlich hätte das Zeug ihn töten müssen. Aber er lag im Krankenhaus. Er hatte überlebt.
„Genesung? Ich bin gesund.“
„Wenn das Zeug in ihrem Blut nicht wäre, bestimmt.“ Die Schwester beäugte ihn besorgt. „Ich werde Ihnen ein Beruhigungsmittel holen.“
Mit den Worten verschwand sie. Beruhigungsmittel? Wofür Beruhigungsmittel? Er hatte genug von irgendwelchen Spritzen. Er hasste Spritzen. In seiner Erinnerung hatte Audrey sich über ihn gebeugt. Sie hatte gelächtet. Dieses Wahnsinnsgefühl war unbeschreiblich gewesen. Er tapste um das Bett und stützte sein Gewicht mit den Händen an der Kante ab. Warum hatte er bloß so wackelige Beine? Er musste schleunigst zusehen, dass er verschwand, um dem Beruhigungsmittel zu entgehen. Das konnte er nicht gebrauchen. Sein Blick schweifte zu einer Reisetasche, die neben einem Tisch stand. Er zog den Reißverschluss auf und erkannte seine Kleidung. Hatte Audrey sie ihm vorbeigebracht? Oder James? Mitch griff nach einem Pullover und einer Jeans und zog beides an. Tatsächlich trugen ihn seine Beine einigermaßen konstant bis zur Zimmertür. Auf dem Flur schlug ihm der Duft von Desinfektionsmittel entgegen. Er riss sich zusammen. Wie sah das denn aus, wenn er torkelnd über den Flur rannte? Man würde ihn aufhalten und zu einem Arzt bringen.Er atmete tief ein, straffte die Brust und trat sicher in den Flur. Seine Blicke trafen niemanden. Er wich sämtlichen Augenpaaren aus. Besucher und ein Ärzteteam gingen an ihm vorbei. Er warf einen Blick zurück. Die Schwester mit dem Beruhigungsmittel steuerte gerade wieder auf sein Zimmer zu. Er beschleunigte seine Schritte und bog ins nächstbeste Treppenhaus ab. Hier war er sicher. Ein plötzlicher Schwächeanfall ließ ihn den Boden doppelt sehen. Er streckte die Hand nach dem Geländer aus. Ruhig atmen, das wird schon, dachte er sich. Auf der Station hörte er plötzlich Leute über den Flur rennen. Furcht durchfuhr ihn. Vielleicht sollte er besser verschwinden, wenn er nicht erwischt und festgekettet werden wollte. Er starrte auf seine Handgelenke. Sie waren aufgeschürft von den Fesseln, mit denen Blizzard ihn ruhiggestellt hatte. Sein Herz donnerte. Das würde er nicht noch einmal ertragen. Obwohl sein Körper ihm wegzubrechen drohte, stieg Mitch die Treppe hinunter. Eine Etage. Noch eine Etage. Besser noch eine. Als er die letzten Stufen nahm, entdeckte er vor sich ein Schild an einer Tür mit Bullauge: Parkhaus. Mitch stieß die Tür zur Tiefgarage auf. Im dämmrigen Licht des Parkdecks entdeckte er plötzlich eine bekannte Person, die in Gedanken versunken an einem Pickup lehnte. Es war James. Die Tür fiel hinter Mitch ins Schloss und James sah auf. „Kneif mich einer. Mitch? Ich war doch gerade noch bei dir und habe dir die Reisetasche gebracht. Was tust du hier?“
Mitch trat mit wackeligen Beinen auf James zu, die Hände ballte er zu Fäusten. „Du verdammter Drecksack. Wieso hast du das getan? Wieso hast du Audrey in Gefahr gebracht?“
James wich ein Stück zurück und hob abwehrend die Hände. „Mitch, was ist in dich gefahren? Beruhige dich wieder!“
„Audrey hätte dabei drauf gehen können! Ich habe dich verflucht nochmal darum gebeten, sie da raus zu halten! Ich wollte nicht, dass ihr etwas zustößt. Deswegen habe ich sie in deine Obhut gebracht. Ich habe dir Audreys Leben anvertraut!“ Mitch atmete schwer.
„Du kannst mir vertrauen.“
Die Knöchel von Mitchs geballten Fingern waren bereits weiß, als er sich auf James stürzte. Gekonnt wehrte James die Faust ab und schlang den freien Arm um Mitchs Hüften, um ihn den Bewegungsspielraum zu nehmen. „Was ist los mit dir? Wieso bist du so aggressiv?“, hörte er James Worte. Die Kraft verließ Mitch. „Ich habe dir vertraut! Ich dachte, du wärst mein Freund!“
Mitch brach verzweifelt zusammen. James hielt ihn in den Armen und ging mit ihm in die Knie, dabei drückte er ihn fest an sich. „Das bin ich, Mitch. Das bin ich noch immer.“
Langsam fasste Mitch sich und richtete sich auf. James folgte seinem Beispiel und ließ vorsichtig von ihm ab.
„Sie haben mich vor die Wahl gestellt. Entweder Aud oder ich! Oh Kacke, diese verdammten Bastarde haben sie zusehen lassen, wie sie mir das Gift verpasst haben.“
„Was?“
„Ich hätte sie verlieren können. Für immer.“ Mitch versuchte, sich zusammen zu reißen. James räusperte sich, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Motorhaube des Pickups. „Wie geht es dir eigentlich?“, fragte er.
„Ich habe mich noch nie so schwach ge–“ Mitch hielt inne, als er die Haltung seines Freundes sah. Er kannte diese Haltung. Er kannte sie in und auswendig. Die angespannte Körperhaltung, die verschränkten Arme, der unsichere, ernste Blick, der nichts Gutes verhieß. Er hatte Neuigkeiten, die er offenbar nicht gerne übermittelte.
„Was ist los?“, fragte Mitch. „Geht’s um Audrey? Was ist mit ihr?“
James starrte Mitch einen Moment besorgt an. „Audrey geht’s gut. Es geht um dich, Mitch. Du hattest vor wenigen Stunden einen Herzstillstand. Wir wissen nicht, wie viele du davon überleben wirst, wenn wir nicht bald ein Gegenmittel finden.“
Mitch sog scharf den Atem ein und starrte seinen Freund an. Doch dessen Blick ging ins Leere. Er hatte gedacht, er hätte das Gift überlebt und die Schwächeanfälle würden bald von selbst verschwinden.
„Wie bitte?“, fragte er atemlos.
„Du hast eine knappe Woche im Koma gelegen. Wie kann es sein, dass du jetzt vor mir stehst? Das ist doch nicht möglich.“ James wirkte entgeistert. Mitch fehlten die Worte. Er hatte im Koma gelegen? Mehrere Tage waren vergangen, ohne dass er es mitbekommen hatte? Er erinnerte sich an seine Gefangenschaft zurück. Er war nicht allein gewesen. „Was ist mit Sebastian Schmidts? Hat er es auch rausgeschafft?“
„Ja. Aber seit der Beerdigung von Nadine Shark hat ihn niemand mehr gesehen. Er ist nicht mal zur Arbeit erschienen.“
„Nadine Shark ist tot?“ Mitch erstarrte. Das Gift floss immer noch in seinen Adern. Was, wenn sie kein Gegenmittel fanden? Wenn es nur noch eine Frage der Zeit war, dass er unter den Lebenden weilte? Wie würde er seine letzten Tage oder vielleicht Stunden sinnvoll verbringen? Und vor allem, mit wem? In dem Moment blitzte vor seinen Augen das Gesicht von Audrey auf. Verflucht, er musste unbedingt zu ihr und sie ein letztes Mal sehen. „Audrey. Ich muss zu ihr!“
„Was?“ James sah ihn verwirrt an. „War sie denn nicht bei dir? Sie hat sich kaum von deiner Seite gerührt.“
Mitch starrte ihn an, als fiele er vom Glauben ab. Ausgerechnet die Frau, die er so sehr begehrte, war nicht von seiner Seite gewichen?