Читать книгу Heart & Hazard Series - Schatten der Vergangenheit, Bd. 2 - S.L. March - Страница 10
ОглавлениеKapitel 4
Nadine trat die Tür ein. Als das Holz nachgab, rannte sie ins Wohnzimmer. Sebastian lag auf dem Boden. Sie kniete sich zu ihm. Was war passiert? Vorsichtig drehte sie ihn auf den Rücken und bemerkte eine Platzwunde an seinem Kopf.
„Sebastian? Sebastian, wach auf!“ Nadine schlug ihm gegen die Wange. Er reagierte nicht. Sie zückte ihr Handy und wählte den Notruf, dabei prüfte sie den Puls an seiner Halsschlagader. Er schlug. Und zwar extrem schnell. Als sich eine ruhige Stimme am anderen Ende meldete, versicherte sie ihr, dass sich der Rettungswagen auf den Weg begab.
Nadine wählte die Nummer von Detective Pierré Jones. Der war hörbar irritiert, als sie ihn bat, schleunigst in das Strandhaus von Sebastian zu kommen und legte auf. Sie schob das Handy in die Hosentasche.
Das Schwanken, der hohe Puls, der Bewusstseinsverlust. Sie hob seine Lider an, die Pupillen waren nur stecknadelgroß. Das konnte nicht sein. Es durfte sich nicht alles wiederholen. Sie hatte persönlich dafür gesorgt, dass seine Vergangenheit ihn nicht wieder einholen würde.
„Sebastian, du musst wach bleiben!“ Sie schüttelte ihn, obwohl sie wusste, dass sie eigentlich beruhigend auf ihn einreden musste. Es war immerhin nicht das erste Mal, dass sie ihn so vorgefunden hatte.
Es funktionierte. Er blinzelte, stöhnte. Nadine zwang sich, ruhig zu bleiben.
„Konzentrier dich auf deine Atmung“, forderte sie ihn auf. „Du darfst nicht auch noch sterben, hörst du? Bleib bei mir!“ Sie strich ihm eine Haarsträhne aus der Stirn und prüfte den Puls an seiner Halsschlagader. „Es wird alles wieder gut. Gleich kommst du ins Krankenhaus“, flüsterte sie und strich ihm über den Kopf.
Sebastian war zwischenzeitlich wieder weggetreten. Nadine schaute in sein ausdrucksloses Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen. Die Lippen bewegten sich. Sie beugte sich zu ihm vor, konnte jedoch nichts verstehen.
Dunkle Erinnerungen drangen in ihren Kopf, die sie schnell beiseiteschob. Sicher halluzinierte er. Eine Nebenwirkung des verdammten Zeugs.
Sie stieß ihm mit voller Wucht gegen die Brust. Das würde einen ordentlichen blauen Fleck geben. Sebastian riss die Augen auf und schnappte hörbar nach Luft. Er richtete den Oberkörper auf und übergab sich.
Nadine schloss für einen Moment die Augen. War es wirklich wieder dieses Gift aus der Organisation? Wo hatte Sebastian es her? In ihrem Kopf spielte Nadine die Szenen ab, die sie von draußen beobachtet hatte. Sie hatte beobachtet, wie er in die Küche gegangen war und sich ein Sandwich gemacht hatte. Das unberührte Sandwich lag zwischen Porzellanscheiben auf dem Boden. Keine Stolperkante. Kein Kabel im Weg. Als ob er aus dem Nichts den Teller losgelassen hätte und zusammengebrochen war. Sie wusste, dass er Schmerzmittel nahm, seit sie ihn vor Jahren während eines Einsatzes alleine in der Scheune zurückgelassen hatte. Ob es daran lag? Vielleicht eine Überdosis Medikamente?
Sicher könnten ihr das nur zwei Personen beantworten. Allerdings lag eine davon wieder benommen vor ihr. Die andere Person wäre Sebastians Arzt. Wenn er den Kontakt in seinem Handy abgespeichert hatte…
Sie griff nach dem Mobilteil auf dem Couchtisch, doch es rutschte ihr aus der schweißnassen Hand. Als sie unter dem Sofa danach tastete, stießen ihre Finger gegen etwas anderes. Sie zog es hervor. Es war eine volle Tablettendose. Hatte jemand Sebastian täuschen und ihm ein anderes Medikament unterjubeln wollen? Ausgerechnet jetzt schweiften ihre Gedanken zu Leon. Es musste eine Möglichkeit geben, Leon den Gar auszumachen und Sebastian zu beschützen. Aber wie sollte sie an zwei Orten gleichzeitig sein? Die einzige Lösung bestand darin, dass Sebastian ihr nicht mehr von der Seite wich. Allerdings hatte Andrew das auch nicht getan und jetzt war er tot. Ihn in ihrer Nähe zu haben würde nicht nur bedeuten, alte Wunden und Erinnerungen aufleben zu lassen, sondern auch mit der Furcht zu leben, dass ihm etwas zustoßen könnte. Der erste Verdacht, dass es Leon Branes sein könnte, der Sebastian schaden wollte, verflog. Leon würde ihm sicherlich keine Medikamente andrehen. Nadine schaute zu dem geschwächten Mann. Hatte Sebastian weitere Feinde?
Sie ließ die Dose verschwinden, als sie Motorengeräusche vernahm. Sie eilte zum Fenster und spähte nach draußen. Es war der Rettungswagen. Nadine lotste den Notarzt und dessen Helfer direkt zu Sebastian. Obwohl sie ihre Hilfe anbot, wurde sie lediglich freundlich zur Seite gebeten. Ihr fröstelte es. Es war ein furchtbares Gefühl so hilflos daneben zu stehen. Sie rieb sich über die Arme und lehnte gegen das Sideboard um zu beobachten, wie sie auf Sebastian einredeten und eine Trage vorbereiteten. Sie konnte ihren Blick nicht von Sebastians Gesicht nehmen. Erinnerungen an einen furchteinflößenden Moment schob sie beiseite. Sie versuchte die wiederkehrende Übelkeit, welche sie die letzten Tage stets plagte, zu ignorieren. Sie hielt die Hand vor den Bauch und versuchte sich zu beruhigen. Kurz trat sie in die Küche und kramte einen Gefrierbeutel aus eine der Schubladen hervor. Sie ließ ein paar der Tabletten in den Beutel fallen und verschloss ihn, ehe sie die Dose in der Hosentasche verschwinden ließ. Als Nadine zurück ins Wohnzimmer trat, wurde Sebastians schlaffer Körper auf die Trage gehievt und aus der Wohnung geschoben. Einer der Sanitäter tauchte in ihrem Blickfeld auf. Nadine sah ihn an. Von draußen hörte sie Motorengeräusche, die verstummten. Eine Tür schlug zu. Dann eine bekannte Stimme, die wohl mit den Sanitätern sprach.
„Machen Sie sich keine Sorgen. Wir bringen ihn ins UCSF Medical Center in San Francisco und werden einige Untersuchungen machen“, versuchte der Sanitäter sie zu beruhigen. „Es wird ihm bestimmt bald wieder besser gehen.“
Sie nickte abwesend. „Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.“
„Möchten Sie mit uns fahren?“
Pierré tauchte an der Tür auf. Nach einem kurzen Blick vom zerstörten Porzellan auf dem Boden schaute er sie an. „Scheiße, wie geht’s Sebastian? Was ist passiert?“, wollte Pierré wissen. Nadine war froh, dass der Detective da war. Dann sah sie den Sanitäter an und schüttelte mit dem Kopf. „Nein, danke! Ich komme selbst nach.“
Der Helfer nickte und kehrte ihr den Rücken zu.
„Halt, warten Sie.“
Der Sanitäter stoppte. Nadine drückte ihm den vorbereiteten Gefrierbeutel in die Hand.
„Die lagen neben ihm. Ich weiß nicht, was es für Tabletten sind. Aber vielleicht haben die etwas mit seinem Zusammenbruch zu tun“, sagte sie.
Der Mann bedankte sich, versprach sie analysieren zu lassen und verließ die Wohnung. Pierré schloss die Tür. Nadine blieb auf derselben Stelle stehen. Nicht in der Lage sich zu bewegen. „Sebastian war weggetreten, als ich ihn fand. Ich glaube, er hat ein falsches Medikament bekommen. Ich weiß nicht, ob sein Arzt ihm etwas Falsches verschrieben hat oder-“
„Oder ob Leon Branes seine Finger im Spiel hat“, sagte er.
„Wie kommst du darauf?“
„Vielleicht erinnerst du dich an Pennys Entführung vor wenigen Tagen in Paris? An jenen Moment, als du verschwunden bist? Leon wollte mit allen Mitteln Sebastian Schmidts in die Finger bekommen. Und sich am liebsten vorher an seiner Geliebten austoben.“
Nadine wurde übel. War es wohlmöglich doch kein Gift? Oder Blizzard? Dachte sie in die falsche Richtung?
„Er will Sebastian tot sehen. Leon behauptet, er sei für den Tod seiner Schwester verantwortlich. Weißt du was darüber?“, wollte Pierré wissen.
Sie verneinte. „Wie ich dir bereits gesagt hatte, ich habe den Kopfgeldjägerauftrag von Leon damals nicht durchgeführt, weil ich wusste, dass Sebastian es nicht war.“
„Wie bist du dir da so sicher?“
„Ich habe in alle erdenklichen Richtungen recherchiert, aber ich bin nie auf Sebastian gestoßen. Er kannte Leons Schwester nicht mal.“
„Im Krankenhaus meinte er auch schon, er könne sich weder an Leons Schwester noch an eine Geliebte erinnern. Kennst du seine Geliebte? Sie könnte auch in Gefahr schweben.“
Nadine stockte der Atem. Sie konnte Pierré nicht die Wahrheit beichten. Sie schüttelte den Kopf. Es war wichtiger, rauszufinden, wer es auf Sebastian abgesehen hatte. Und derzeit hatte sie nur einen Anhaltspunkt, dem sie nachgehen konnte. „Pierré, ich möchte dich um einen Gefallen bitten.“
„Wieso sollte ich eine mögliche Verbrecherin unterstützen?“
„Weil Sebastian unsere Hilfe braucht.“
***
Durch die Adresse auf der Medikamentendose hatte Nadine Sebastians Hausarztpraxis schnell ausfindig gemacht. Die Praxis war längst geschlossen. Es brannte kein Licht mehr. Dabei hatte sie so sehr gehofft, den Arzt der Praxis noch zu erwischen, um ihn zur Rede zu stellen. Wenn sie schonmal hier war, würde sie vielleicht in den Krankenakten irgendwas Brauchbares zu dem Medikament von Sebastian finden? Sie schaute sich um. Sicherheitskameras gab es keine und auch keinen Hinweis auf eine Alarmanlage. Nadine zückte ein Allroundtaschenmesser und klappte einen Dietrich auf. Sie stutze, weil die Tür direkt aufschnappte, als sie testweise die Klinke drückte. Wieso war die nicht verschlossen? Seltsam. Sie steckte das Messer zurück und schlich in die Praxis. Langsam ging sie an geschlossenen Türen vorbei bis zum Empfang und knipste dort ihre Taschenlampe an. Soweit schien alles unauffällig.
Sie wühlte sich durch ein paar durcheinander liegende Papiere und Schlüssel am Empfangstresen. Hier hielt es wohl niemand für nötig, Ordnung zu halten. Sie schob Schubladen auf und durchforstete die Namen der Krankenakten, bis sie Sebastians Namen las. Sie zog den Hefter hervor und öffnete sie. Sie war leer. Nadine erstarrte. Aber, das war nicht möglich. Das konnte nicht sein. Keine Untersuchungsberichte. Keine Krankendaten. Nichts. Es musste doch zumindest einen Nachweis über die Ausgabe des Medikaments geben. Warum gab es keine Unterlagen? Mit zitternden Fingern schob sie die Schublade wieder zu. Sie wandte sich um und ging durch eine Zwischentür zum Labor. Es war vollgestellt mit Regalen, in denen sie Spritzen, Medikamente und Kühlschränke mit Reagenzgläsern voll mit Blutproben erkennen konnte. Blutproben? Ihre Hoffnung keimte auf. Was, wenn es eine Probe von Sebastians Blut gab? Sie erinnerte sich, dass beim letzten Mal das Gift in seinem Blut nachgewiesen werden konnte. Möglicherweise…
Zügig ging sie die Namen auf den Reagenzgläsern durch. Sie erstarrte, als der Lichtkegel der Taschenlampe auf den Volltreffer schien.
„Schmidts, Sebastian“
Zwei Proben. Sie zögerte. Sollte sie die Proben stehlen? Aber wenn sie wissen wollte, ob ihre Vermutung richtig war, musste sie sämtliche Wege und Möglichkeiten auskosten. Ein Schloss versperrte allerdings den Zugang. Nadine trat zurück zum Empfangstresen.
Ein Geräusch ließ sie herumwirbeln. Sie verharrte einen Moment. Es war still. Sie schnappte sich den Schlüsselbund und ging zurück ins Labor. Beim siebten Schlüssel sprang das Schloss auf. Sie griff nach den Gläsern und verstaute sie in ihrer Jackentasche.
Da war es wieder. Das kratzende Geräusch. Sie folgte den Klängen, die vom angrenzenden Zimmer kamen. Es war, als würde etwas über den Boden schaben. Sie knipste das Licht aus. Hier war doch jemand. Ihr Herz raste. Nadine schlich aus dem Labor und zum benachbarten Raum, dessen Tür einen Spalt breit offenstand. Auf dem Boden kauerte ein Schatten und wand sich hin und her.
Nadine stieß die Tür weiter auf und drückte auf den Knopf der Taschenlampe. Der Lichtschein fiel auf einen älteren Mann mit weißen Haaren, der sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Der Mann trug einen weißen Arztkittel. Sein Mund war mit Klebeband verschlossen, Hände und Füße mit Kabelbindern gefesselt. Umliegende Gegenstände wie eine zerstörte Lampe und ein demoliertes Telefon, das vom Schreibtisch auf dem Boden gefallen war, zeigten ihr, wie sehr er versucht hatte, Hilfe zu holen. Sie riss ihm das Klebeband vom Mund und ignorierte seinen Schmerzensschrei.
„Was ist passiert?“, fragte sie.
„Bitte helfen Sie mir. Ich liege schon seit Stunden hier rum und spür meine Hände kaum mehr.“ Er blinzelte gegen das grelle Licht der Taschenlampe.
Nadine leuchtete auf seine Gelenke, die tatsächlich schon eine leicht bläuliche Verfärbung aufwiesen. Die Kabelbinder hatten ihm die Blutzirkulation abgeschnitten. Sie griff nach ihrem Taschenmesser, beugte sich hinunter und befreite den Arzt aus seiner misslichen Lage. Er rieb sich die Handgelenke und blickte sie unsicher an. „Danke.“
Sie kramte die Tablettendose hervor und hielt sie dem Arzt vors Gesicht. „Was ist das für ein Mittel, das sie Sebastian Schmidts verschrieben haben?“
Er starrte auf das Etikett. „Da ist die Adresse meiner Praxis auf der Dose. Aber dieses Medikament ist mir nicht einmal ein Begriff.“
„Aber Sie sind doch sein behandelnder Arzt, oder nicht?“ „Ja, der bin ich. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich es ihm nicht verschrieben habe. Ich wurde vor Stunden niedergeschlagen. Als ich wieder zu mir gekommen bin, lag ich gefesselt auf dem Fußboden.“ Er hielt inne und schien nachzudenken. „Ich habe Stimmen gehört“, fuhr er schließlich fort. „Es war die Stimme von Schmidts und irgendeine Frauenstimme, die mir nicht bekannt ist. Möglicherweise hatte sie ihm das Mittel gegeben. Ich habe damit nichts zu tun.“
Nadine richtete sich auf und ließ von dem Arzt ab. Wer war diese Frau? Hatte sie Sebastian ein falsches Medikament gegeben und er hatte es ahnungslos eingenommen? Aber woher wusste sie, wo Sebastian zum Arzt ging und dass er Schmerzmittel nahm? Eines wusste Nadine mit Sicherheit: Sebastian war in Gefahr. Das konnte alles nur ein Alptraum sein. Glücklicherweise hatte sich Pierré dazu bereit erklärt, Sebastian im Krankenhaus beschützen zu lassen.
Ihr Blick fiel wieder auf den Arzt, der vor ihr auf dem Boden lag. „Und Sie haben absolut keinen Schimmer, wer diejenige war, die dieses Medikament herausgegeben hat?“
Er schüttelte mit dem Kopf. „Bedaure. Sagen Sie, was machen Sie eigentlich in meiner Praxis?“
„Sie aus Ihrer misslichen Lage befreien.“ Nadine knipste die Taschenlampe aus und verschwand.