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Kapitel 6

Nadine musste überlegt vorgehen. Sie brannte darauf, zu erfahren, wie es Sebastian ging. Aber zunächst musste sie etwas anderes in Sicherheit bringen. Vor dem Eingang des Apartments in dem hohen Gebäudekomplex klopfte sie. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet ihr, dass es bereits nach zehn Uhr abends war. Es dauerte nicht lange, bis die Tür einen Spalt breit geöffnet wurde. Ein müdes, blaues Augenpaar blitzte unter einem zotteligen, blonden Haarschopf hervor.

„Hallo, John.“

Schweigend schloss er die Tür, entriegelte die Kette und ließ Nadine passieren. Sie wurde von einer grauenhaften Duftschwade von kalter Pizza und Dosenbier begrüßt. Ihr wurde flau. Sie unterdrückte das Gefühl. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie in letzter Zeit so empfindlich auf Gerüche reagierte.

„Nadine, was verschafft mir die Ehre?“ John ließ sich auf das Sofa fallen.

„Ich brauche deine Hilfe.“ Sie zog die Blutproben und die Tablettendose aus der Jackentasche und stellte sie vor John auf den Tisch.

„Was ist das?“

„Eine Blutprobe und Medikamente.“

Er nahm das Reagenzglas und betrachtete das Etikett. „Wer ist das?“

„Ein Bekannter. Könntest du die Bestandteile der Tabletten und des Bluts für mich analysieren?“

„Wozu?“ Er griff nach der Tablettendose. „Was da drin ist, steht doch auf der Verpackung.“

„Ich habe die Vermutung, dass da eben nicht das drin ist, was auf der Verpackung steht.“

John war irritiert. „Ich verstehe nicht.“

Nadine setzte sich ebenfalls. „Ich befürchte, mein Bekannter ist vergiftet worden. Und zwar damit.“

„Vergiftet? Wie kommst du darauf?“

Nadine seufzte. „Weil ich ihn schon mal vergiftet aufgefunden habe. Es sind dieselben Anzeichen wie damals.“

„Wie geht’s deinem Bekannten jetzt?“

„Er ist im Krankenhaus. Mehr weiß ich noch nicht. Kannst du mir bitte helfen?“

„Wie stellt du dir das vor?“

„Du arbeitest doch jetzt im Chemielabor eines Pharmaunternehmens. Geht da nicht was?“

John zog eine Augenbraue in die Höhe. „Aber ich kann da keine fremden Mittel einschleusen, um sie zu analysieren. Ich will den neuen Job nicht verlieren.“

Nadine lächelte gequält. John verschränkte die Arme. Sie merkte, dass er es ernst meinte, und starrte auf die Blutproben. Sie wusste, wenn das Gift erstmal in Umlauf kam, würde es unschuldige Menschen das Leben kosten. Genauso wie vor sechs Jahren. Das musste sie mit allen Mitteln verhindern. „Und wenn ich dir sage, dass es hier um Menschenleben geht?“

John sah sie plötzlich aufmerksam an. „Werde konkreter.“

„Wenn es das ist, was ich vermute, sind die Tabletten tödlich. Wenn es erst einmal in die falschen Hände gerät, dann-“

„Okay, schon kapiert.“ John hob abwehrend die Hände. „In meiner Abteilung habe ich einen alten Kollegen wieder getroffen, mit dem ich zusammenarbeite. Vielleicht kann er mir dabei helfen.“

„Vielen Dank. Du glaubst gar nicht, wie sehr du mir damit hilfst.“ Sie ging zur Tür.

John nickte. „Gern geschehen. Ich melde mich bei dir.“

Nadine verließ die Wohnung. Im Flur verschnaufte sie kurz. Als sie hörte, wie John mit jemandem redete, grinste sie. Sie war erfreut, dass sie ihn überzeugen konnte, ihr zu helfen. Aber Moment, mit wem redete er da?

***

Eigentlich hatte Pierré längst seine Schicht beenden wollen, als ihn der Anruf von Penny erreichte. Er war bestürzt über die Nachricht von Seans Tod und wollte sich selbst ein Bild machen, weshalb er mit einem Kollegen zum Gewölbekeller aufbrach. Er verständigte die Zentrale und war mit seinem Partner zusammen als erstes vor Ort. An einem Ort, an dem es keine Leiche gab. Wenn Sean wirklich ermordet worden war, war sein Leichnam weggeschafft worden.

Pierrés Blick wanderte von seinem Kollegen, der auf eine blasse Frau einredete zu zwei Sanitätern, die eine weitere junge Frau auf einer Trage in einen Rettungswagen hievten. Das Blaulicht erhellte den Hinterhof des alten Gewölbekellers. Es stank nach Alkohol und vergammelten Abfall, der feinsäuberlich in Säcken aufgereiht an der Hauswand lehnte.

„Es ging alles so furchtbar schnell“, sagte die Frau. „Eine Frau ist von der Leiche geflüchtet. Dann hat uns jemand von hinten niedergeschlagen. Erst meine Freundin und dann mich. Als ich am Boden lag, habe ich noch ein paar schwarze Stiefel gesehen. Dann bin ich bewusstlos geworden. Als ich zu mir gekommen bin, war die Leiche verschwunden und die Frau auch.“

Pierrés Handy klingelte. Überrascht erkannte er, dass es ein ehemaliger Arbeitskollege war. Er nickte dem Beamten kurz zu, entschuldigte sich und entfernte sich ein Stück. „Hallo John, freut mich, von dir zu hören.“

„Hallo Pierré. Nadine Shark war gerade bei mir.“ John klang aufgebracht. „Sie hat mir Blutproben und Medikamente von Sebastian Schmidts zum Analysieren vorbeigebracht.“

„Wieso bringt Nadine dir Medikamente von ihm zum Analysieren vorbei?“

„Weil sie befürchtet, dass er vergiftet worden sei.“

„Das hat sie mir auch gesagt. Ich war bei Sebastian, als er gerade in den Krankenwagen gehievt wurde.“ Pierré schaute über die aufgereihten Müllsäcke. Er hörte John zwar zu, aber irgendwie überkam ihm das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Vier der Säcke waren nicht so ordentlich aufgestellt worden, wie die anderen. Er ging darauf zu.

„Sie scheint ein tödliches Mittel zu kennen und will, dass ich das überprüfe. Ich weiß nicht, irgendwie kommt mir das merkwürdig vor, Pierré.“

„Äußerst merkwürdig. Noch merkwürdiger finde ich, dass du die Serienmörderin und meine ehemalige Verflossene Nadine Shark kennst.“

„Nadine war deine Affäre? Das wusste ich nicht. Du hast nie ihren Namen erwähnt.“

„Schon okay. Woher kennst du sie?“

„Sie ist eine alte Freundin. Ich habe sie während eines Aushilfsjobs kennengelernt und-“

Während Pierré das Smartphone zwischen Schulter und Ohr klemmte, zog er mit den behandschuhten Fingern die Müllsäcke zurück. Zum Vorschein kamen rote Schlieren auf dem Beton. Er fluchte laut.

„Pierré? Alles okay?“, hörte er John sagen.

„Sicher. Kann ich dich später zurückrufen? Ich bin noch im Dienst.“ Er starrte wie gebannt auf ein Smartphone, das inmitten einer Blutlache zwischen zwei Müllsäcken steckte.

„Klar.“

Pierré bedankte sich und legte auf. Er ging in die Hocke, hob das Smartphone auf und drückte aufs Display. Das schwarze Bild wich und zum Vorschein kam die Aufforderung zur Eingabe der Pin.

„Hast du was gefunden?“, fragte sein Kollege.

Pierré sah auf. Die junge Zeugin stieg gerade in den Rettungswagen zu ihrer Freundin. Der Beamte stand neben ihm.

„Ein Mobilteil und Blutspuren.“

„Also hat die betrunkene Lady eben keinen Quatsch erzählt.“

Pierré nickte. „Es ist zumindest ein Indiz, dass sich hier etwas ereignet hat. Falls es tatsächlich Mord war, ist die Leiche wohl weggeschafft worden, noch bevor es jemand anderes bemerken konnte.“

„Aber warum hat es niemand bemerkt?“

„Bist du mal in der Kneipe gewesen?“

„Nein, wieso?“

„Die Musik da drin ist laut. Aber hier draußen ist nichts zu hören. Die Tür ist so schalldicht, das hätte niemand mitbekommen. Vermutlich haben die beiden Mädels die Täter überrascht. Es liegt nahe, dass es einer der Täter war, der sie bewusstlos geschlagen hat.“ Pierré stand auf. „Wo sind die beiden niedergeschlagen worden?“

Der Beamte deutete auf eine Stelle in der Nähe der Hintertür. Dort befand sich lediglich der nach Alkohol stinkende Glascontainer. Pierré leuchtete mit einer Taschenlampe hinter den Container, fand jedoch nichts Auffälliges.

„Verständige bitte die Spurensicherung. Die sollen den gesamten Hinterhof umkrempeln, die Handydaten auswerten und die Blutspuren analysieren.“

Der Beamte nickte.

Pierré wollte durch die Hintertür treten, doch die war verschlossen. „Merkwürdig. Die Tür ist verschlossen.“

„Ob die auch vorher verschlossen war?“

„Gut möglich. Aber woher hätte der Täter dann wissen können, wann sein Opfer in den Hinterhof tritt? Möglicherweise hat er ihn aus der Kneipe gelockt. Bloß wie?“ Pierré rieb sich die Nasenwurzel.

„Vielleicht kannte das Opfer den Täter und er hat ihn mit einem Anruf rausgelockt oder sie sind gemeinsam rausgegangen.“

„Auch eine Variante. Vielleicht gab es aber auch einen Streit, der eskalierte.“ Pierrés Blick blieb auf dem blutverschmierten Smartphone haften. „Wir sollten die Gäste in der Kneipe befragen. Wenn es einen lautstarken Streit gegeben hat, ist er vielleicht jemandem aufgefallen. Wir sollten später auf dem Revier die Aussagen der beiden Zeuginnen nochmal auswerten. Vielleicht können wir mit ihrer Hilfe eine Phantomzeichnung der Frau erstellen, die geflohen ist.“

Sein Kollege nickte.

„Ich werde mich drinnen umsehen. Bleib bitte hier, bis die Spurensicherung da ist“, sagte Pierré.

In der Kneipe war es voll und stickig. Die Zivilkluft, mit der er sich durch den alten Gewölbekeller bewegte, ermöglichte ihm, in aller Ruhe die Gäste zu begutachten, ohne Aufsehen zu erregen. Wahrscheinlich hatte nicht mal jemand bemerkt, dass sich im Hinterhof der Kneipe eine Tragödie ereignet hatte. Er ging zum Tresen und sprach eine Kellnerin an, die Biere zapfte. „Entschuldigen Sie, wo finde ich den Besitzer dieser Kneipe?“

„Mit der sprechen Sie gerade.“

„Detective Pierré Jones. Können wir uns irgendwo in Ruhe unterhalten. Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Pierré hielt ihr seine Dienstmarke entgegen.

„Oh, aber sicher.“

Die Frau bat einem der Kellner, sich um eine Bestellung zu kümmern und lotste Pierré hinter den Tresen in einen nahegelegene Raum, in der Getränkekästen lagerten.

Sie schloss die Tür, sodass die Musik gedämpft wurde. „Tut mir leid, ich habe leider kein eigenes Büro. Nun, warum wollten Sie mit mir sprechen, Detective? Geht es um das Parkknöllchen, das ich noch nicht bezahlt habe?“

Pierré holte seinen Notizblock hervor. „Deswegen bin ich nicht hier. Haben Sie heute Abend etwas Ungewöhnliches in Ihrer Kneipe bemerkt? Möglicherweise Gäste, die sich gestritten oder vielleicht geprügelt haben? Irgendwelche Unruhestifter oder Leute, die Sie aus der Kneipe geschmissen haben?“

„Nein. Es war wie immer ein ganz normaler Abend. Wieso stellen Sie mir solche Fragen?“

„Ich möchte Sie nicht beunruhigen, Miss…“

„Smith. Amanda Smith.“

„Zwei Frauen wurden im Hinterhof dieser Kneipe niedergeschlagen. Zwischen den Müllsäcken fanden wir außerdem frische Blutspuren.“

„Blut?“ Die Frau fuhr sich über den Kopf. „Das ist furchtbar. Was ist mit den Frauen?“

„Ihnen geht es den Umständen entsprechend. Sie wurden ins Krankenhaus gebracht. Sie haben also nichts Ungewöhnliches bemerkt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid.“

„Wir werden sämtliche Zeugen dieser Kneipe befragen müssen, ob sie etwas Verdächtiges beobachtet haben.“

„Selbstverständlich.“

„Wann haben Sie zuletzt den Hinterhof betreten?“

„Heute Morgen, als ich den Müll rausgebracht habe. Bitte lassen Sie es mich wissen, wenn ich Ihnen helfen kann.“

Pierré nickte und steckte das Notizbuch zurück. „Danke.“

Er zog sein Handy aus der Tasche und rief ein Foto auf, welches Penny ihm vorab geschickt hatte. Es war ein Foto von Audrey, welches er der Kellnerin nun hinhielt. „Haben Sie diese Frau heute Abend hier gesehen? Vielleicht sogar in Begleitung?“

Sie nickte: „Ich habe die junge Rothaarige und einen attraktiven, glatzköpfigen Herrn vor über drei Stunden bedient.“

„Haben sie mit einer Karte bezahlt?“, fragte Pierré.

„Nein, bar.“

„Haben Sie gesehen, wann die Gäste den Laden verlassen haben?“

Sie schüttelte mit dem Kopf. „Leider nicht. Ich habe nicht mitbekommen, wann die beiden gegangen sind. Da fällt mir aber ein, die nachfolgenden Gäste haben mir eine Jacke und eine Tasche gegeben.“

Gemeinsam gingen sie zurück in die Kneipe.

Hinter dem Tresen kramte die Besitzerin einen roten Mantel und eine Damenhandtasche hervor. „Die hatte die Frau getragen, als sie reingekommen ist. Sie hat wohl vergessen sie mitzunehmen. Wobei ich mich echt die Frage stelle, wie man seine Handtasche vergessen kann.“

„Ich werde die Fundstücke mitnehmen.“ Pierré reichte der Besitzerin seine Visitenkarte. „Falls sich die Frau meldet, kann sie ihre Sachen gerne bei mir im Police Department abholen.“

Die Kneipenbesitzerin nickte. Im selben Moment kamen einige Beamte in Uniform in die Kneipe und brachten Unruhe unter den Gästen. Pierré schaute von seinen Kollegen zur Frau zurück. „Tut mir wirklich leid, aber es ist unumgänglich, dass wir Ihre Gäste befragen.“

Tief seufzte sie. „Es muss sein, aber danke für Ihr Verständnis, Detective.“

Pierré nickte.

Er griff nach der Tasche und hievte sie sich über die Schulter. Als sie ihm den Mantel reichte, lugte ein Schraubverschluss halb aus der Manteltasche hervor. Noch bevor er nach dem roten Mantel griff, klimperte etwas zu Boden. In letzter Sekunde konnte er mit dem Fuß eine Ampulle mit Schraubverschluss aufhalten, die über den Boden rollte. Seine Neugierde war geweckt.

Er ging in die Hocke und hob den Gegenstand auf. Merkwürdig. Wieso trug jemand eine leere Ampulle mit sich? Und was waren das für grüne Rückstände?

Heart & Hazard Series - Schatten der Vergangenheit, Bd. 2

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