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Kapitel 1

San Francisco, Kalifornien, USA

Sechs Jahre später

Die Dämmerung legte sich über San Francisco. Die alte, verlassene Fabrikshalle an der Baker Street war in die Jahre gekommen. Trotzdem wusste sie mittlerweile genau, was sich hinter den einzelnen Konturen verbarg. Spinnen, die an den Ecken der über zwölf Meter hohen Begehbühne an feinen Weben auf ihre Opfer warteten, wirkten geduldiger als sie selbst. Nadine schaute von den Tieren mit acht Beinen zum Geländer. Das Aluminium fühlte sich kalt an, als sie sich daran abstützte. Ihr Blick schweifte durch die Dunkelheit in die Tiefe über die ramponierten Krananlagen, die Stahlträger mit zentimeterhohen Staubschichten, bis hin zu den zerbrochenen, vor sich hin gammelnden Paletten und blauen Fässern. Sie konnte kaum etwas erkennen. Trotzdem kannte sie den Ort mittlerweile gut. Sooft, wie sie ihn bei Tagesanbruch inspiziert hatte. Ein Finger tippte auf Nadines Schulter. Irritiert sah sie sich um. Sie schaute zu einem Feuerlöscher und entdeckte einen Mann mittleren Alters, der ihr direkt in die Augen blickte. Es war Andrew, jener Mann, mit dem sie etwas bewirken konnte. Mit dem sie die Stadt von den kriminellen Machenschaften befreien konnte.

Andrew wirkte besorgt. Sie lächelte, legte eine Hand an seine Wange.

„Ist alles in Ordnung?“, flüsterte er.

Sie nickte. „Alles okay. Bringen wir es hinter uns.“

„Er ist immer noch nicht aufgetaucht.“ Andrew sah sich um. „Irgendwas ist faul.“

Sie legte ihre Hand an sein Kinn und drehte es, damit er ihr in die Augen sehen musste. „Bist du nervös?“

„Nein. Ich meine nur, dass er sich bereits fünf Minuten verspätet. Jede Nacht ist er pünktlich. Warum ausgerechnet heute nicht?“

„Hab Geduld“, hauchte sie und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Wir werden unsere Chance schon bekommen.“

Nadine sah sich in der alten Fabrikshalle um und hielt Ausschau nach Dennis Aloro. Der korrupte Polizist ließ auf sich warten. Ihr vorheriger Anschlag auf ihn in Paris war missglückt, da er zweimal von dem Spezialagenten Sebastian Schmidts vereitelt worden war. Aber heute war die Zeit gekommen, mit ihm abzurechnen.

Nachdem Aloro aus Europa zurückgekehrt war, war er jede Nacht der letzten Woche pünktlich erschienen, um einen seiner Kontaktmänner zu treffen. Einen Headhunter mit dem Codenamen Fisher, den Nadine flüchtig kannte und dem sie im Dunkeln besser nicht begegnen wollte. Dennis Aloro wollte jemanden in die Finger kriegen. Auf das Foto, das er dem Headhunter hatte zukommen lassen, hatte sie keinen Blick erhaschen können. Der Mann, den Dennis bezahlte, war ein tödlicher Kontakt. Fisher war berühmt für seine brutalen Verhörmethoden.

Mit jedem Treffen der letzten Nächte hatte Aloro unruhiger gewirkt. Doch das beunruhigte sie nicht. Es war ihr egal. Sie würde endlich den Mann in die Finger bekommen, der einer derjenigen war, der ihr vor sechs Jahren alles genommen hatte, was ihr wichtig war. Sie würde ihre Rache bekommen. Nadine hatte lange mit Andrew an einem sicheren Plan getüftelt, um den Anhänger der geheimen Terrororganisation „Blizzard“ aufzulauern. Alles war sorgfältig durchdacht. Bloß das Opfer fehlte. Wieso kam er heute nicht? Hatte er mitbekommen, dass sie ihn ausgekundschaftet hatten und vorsorglich einen neuen Ort ausgewählt? Langsam wurde es auch ihr unbehaglich.

„Ich sehe mich weiter vorne um.“

„Sei vorsichtig“, bat Andrew sie besorgt.

Seine Fürsorge wühlte sie auf. Also nickte sie nur, um ihre innere Anspannung zu verstecken. Sie huschte den schmalen Weg an den hohen Stahlträgern vorbei zum Eingang.

Die Ruhe in der leeren Halle war unheimlich. Nadine bewegte sich um den nächsten Stahlträger, um die die Begehbühne gebaut war. Ein Knall hallte durch den hinteren Teil der Fabrikshalle. Das Mündungsfeuer einer Pistole leuchtete auf. Ein Mann schrie auf. Nadine wirbelte herum. Andrew!

Sie lief zurück. Wie hatte Aloro sie finden können? Sie waren stets vorsichtig gewesen. Wie war das möglich? Wie war er ihnen zuvorgekommen? Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, als sie Andrew auf dem Boden des Podests knien sah. War er schwer verletzt worden? Ihr Herz raste, während sie schneller rannte. Ganz egal, ob man sie hören konnte.

Ein Schuss von unten zischte knapp an ihr vorbei. Sie erschrak und presste sich schützend hinter einen Träger.

„Endlich habe ich dich.“

Die Stimme. Sie kam ihr bekannt vor. Eine Gänsehaut bildete sich auf ihrem Körper, als sie die Stimme Leon Branes zuordnen konnte. Ein Mann, dessen Geld für einen Kopfgeldjägerjob sie gestohlen hatte, weil sie den Auftrag nicht ausgeführt hatte. Der Mann, der ihre Halbschwester Penny vor zwei Wochen in Paris entführt hatte, um seine Rache zu bekommen. Ihr Puls beschleunigte sich. Angst kroch ihr die Beine hinauf, während ihr das Herz aus der Brust springen wollte. Nein, das konnte nicht sein. Sie musste sich irren.

Nadine sah einen Schatten, der unter ihr durch die Halle schritt. Sie hielt den Atem an, blickte zu Andrew, der sich aufrappelte und hinter einem Stahlträger in Deckung ging. Sie schluckte schwer und wartete geduldig, bis der Kerl unter ihr weiter ging. Dann erst bewegte sie sich vorwärts, diesmal leiser, trotzdem schossen erneut Kugeln dicht neben ihr vorbei. Sie ging erneut in Deckung.

„Du bist durchaus schwer zu finden, Nadine. Und dass du neuerdings Hilfe benötigst, um deine Kopfgeldjägeraufträge auszuführen, ist was Neues.“

Schritte hallten durch die Halle, ganz in ihrer Nähe. Schließlich verstummten sie. Nadine zögerte, ging dann aber weiter auf ihren Partner zu. Sie mussten hier raus. Dennis Aloro musste warten. Sie mussten sich selbst in Sicherheit bringen. Auch wenn sie sich nicht erklären konnte, wie Leon sie gefunden hatte. Sie hatte sämtliche Spuren verwischt, die zu ihr führen konnten. Jedoch war momentan nichts wichtiger, als Andrew aus der Gefahrenzone zu bringen. Sie wusste nicht, wie schlimm er erwischt worden war. Das, was sie sicher wusste, war, dass sie ihn rausschaffen musste. Egal wie. Hauptsache hier weg.

„Ich habe recherchiert, dass nicht Penny die Geliebte von Sebastian Schmidts war. Du warst es. Du hast neben ihm bei der Spezialeinheit gekämpft. Und ganz plötzlich kommst du vom rechten Weg ab und wirst zur Kopfgeldjägerin. Doch statt mir Schmidts, den Mörder meiner Schwester zu präsentieren, verschwindest du lieber mit meinem Geld. Wenn du glaubst, dass du ungeschoren davonkommst, irrst du dich gewaltig. Ich habe mir bereits einiges für dich einfallen lassen. Ich werde dafür sorgen, dass du erst ganz langsam deinen Verstand verlierst.“

Endlich war sie in Andrews Nähe. Sie brauchte lediglich ihren Arm nach ihm ausstrecken, als eine Kugel schmerzhaft an ihrer Wange vorbei zischte. Erschrocken zuckte sie zurück und fiel mit dem Hintern auf den Boden.

„Ich werde dir alles nehmen, was dir wichtig ist“, fuhr die Stimme im Schatten fort. „Jeden, der dir etwas bedeutet, werde ich dir nehmen, direkt vor deinen Augen, damit es dir dein Herz zerreißt. So lange, bis du verzweifelst. Ich werde dich foltern, dich leiden und bluten lassen. Selbst, wenn du um den Gnadenschuss winselst und bettelst, werde ich dich langsam dahinvegetieren lassen.“

Die Stimme verstummte. Nadines Wange brannte. Dieser Typ war wahnsinnig. Sie mussten verschwinden. Und zwar schleunigst. Sie schaute in die Richtung, aus der sie die Stimme von Leon das letzte Mal vernommen hatte. Wo war er? Wenn er sprach, wusste sie wenigstens, wo er sich befand. Aber jetzt, wo er so still war, konnte sie ihn in der Finsternis nicht ausmachen. Wie sollte sie die Situation nur unter Kontrolle bringen? Sie richtete sich auf und rannte auf Andrew zu.

„Was ist das für ein kranker Wichser?“, krächzte Andrew. Er presste die Hand auf den Oberschenkel. Blut quoll hervor.

„Ein Niemand“, flüsterte Nadine und legte seinen Arm um ihre Schulter. „Wir müssen hier weg.“

„Dann lasse ich mich also von einem Niemand anschießen?“ Er klang verärgert.

„Ich erklärs dir später“, sagte Nadine, während sie ihm aufhalf.

Plötzlich packte Andrew sie und warf sie zu Boden. Sie schlug mit dem Rücken hart auf dem Boden auf. Es knallte.

Andrews Hemd färbte sich rot, genau über dem Herz. Er sah entgeistert von seinem durchbohrten Brustkorb in Nadines Augen und brach zusammen.

„Nein, Andrew!“ Auf den Knien kroch sie zu ihm und presste die Hände auf die Wunde in seinem Brustkorb. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie musste irgendwie seine Blutung stoppen. Sie durfte ihn nicht verlieren. Und schon gar nicht unter solchen Umständen.

Andrew zitterte. Mit letzter Kraft zog er einen Papierfetzen aus seiner Hosentasche und drückte ihn Nadine in die Hand.

„Achte auf ihn!“ Er hustete und spuckte Blut. Dann regte er sich nicht mehr. Andrew hatte sich für sie geopfert. Er hatte sie beschützt. Er hatte die Gefahr kommen sehen und sich vor sie gestellt, damit sie in Sicherheit war.

Schritte näherten sich. „Das war Nummer eins.“

Leon stand direkt vor ihr, eine Pistole in der Hand.

Nadine sprang auf und riss den Feuerlöscher vom Stahlträger. Noch bevor Leon nachladen konnte, entfernte sie die Sicherungen und betätigte den Hebel. Weißer Schaum flog durch die Gegend.

Leon wich zurück, die Hände schützend vor dem Gesicht.

Sie musste weg. Nadine schmiss den Feuerlöscher in Leons Richtung und traf. Er brüllte und ließ die Waffe fallen. Sie rannte los, auf das Fenster zu, durch das sie über die Feuerleiter eingestiegen waren.

„Ich krieg dich, Nadine. Früher oder später bist du tot!“

Furcht durchfuhr sie. Schweißperlen liefen ihr über die Stirn. Sie kletterte aus dem Fenster auf die Feuerleiter. Ein weiterer Schuss fiel.

Ein Blick zurück verriet ihr, dass Leon ihr nicht folgte. Sie hechtete die Treppenstufen hinunter. Dieses eine Mal würde sie Dennis Aloro verschonen. Doch sie würde zurückkommen. Der Tod von Andrew würde nicht ungestraft bleiben. Ihre Augen brannten und die Hand schloss sich fester um den Papierfetzen.

Heart & Hazard Series - Schatten der Vergangenheit, Bd. 2

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