Читать книгу Wendungen des Schicksals: Höher und Weiter - Sloane Kennedy, Lucy Lennox - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеZach
Mein Bruder war ein toter Mann.
„Einfach vorbeifahren und nach ihm sehen, Zach. Mir zuliebe. Wird nur fünf Minuten dauern.“
Dies waren die Worte, die Jake zu mir gesprochen hatte, kurz nachdem mein Flugzeug in Missoula, Montana, gelandet war. Besagter ihm war der Sohn des besten Freundes meines Bruders, genauer von Xander und Xanders Ehemann, Bennett. Aber die fünf Minuten waren schnell zu zehn, dann zu fünfzehn geworden.
Ein kurzer Blick auf meine Uhr verriet mir, dass eine weitere Viertelstunde vergangen war.
Was bedeutete, dass ich den Jungen schon eine verdammte halbe Stunde lang angestarrt hatte.
Es kostete mich meine ganze Selbstbeherrschung, nicht aus dem Fenster meines Trucks zu schreien und ihn aufzufordern, endlich hineinzugehen.
Denn dann würde ich vielleicht endlich meine Augen von ihm abwenden können.
Ich konnte es einfach nicht fassen, wie erwachsen er innerhalb der letzten paar Jahre geworden war. Als ich ihn das erste Mal traf, war er noch ein Teenager gewesen und hatte seine Unschuld und seine Liebenswürdigkeit auf der Zunge getragen, zusammen mit seinem Herzen. Damals hatte ich ihm sagen wollen, was für eine gefährliche Sache das war … wie sehr er dadurch den Menschen und insbesondere den Männern ausgeliefert war, die sich ein Vergnügen daraus machen würden, seine Naivität zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen.
Männern wie mir.
Nein, ich war nicht einer dieser Typen, die absichtlich danach trachteten, zu benutzen und zu verletzen. Aber auch ich war verantwortlich für zerstörte Leben, die ich zurückgelassen hatte. Zum Glück hatte ich meine Lektion ziemlich früh gelernt und seitdem die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt. Jedes Mädchen oder jeder Typ, mit dem ich mich einließ, wusste, was Sache war. Sex war nur das – Sex. Und ging selten über eine einmalige Begegnung hinaus.
Ich war auch besser darin geworden zu erkennen, ob mein potentieller Partner mit meinen Regeln umgehen konnte.
Ohne den geringsten Zweifel wusste ich, dass Lucky Reed zu den Menschen gehörte, die das ganz sicher nicht konnten.
Als er ein Teenager gewesen und eindeutig in mich verknallt war, war das kein Thema gewesen. Ich hätte nie einen Minderjährigen angefasst und hatte alles getan, um die unverdiente Bewunderung des süßen kleinen Lucky herunterzuschrauben. Das Problem war, dass der Junge hartnäckig gewesen war. Als er achtzehn geworden war und auf dem College studierte, hatte mein Gehirn versucht, mich davon zu überzeugen, dass der Teenager jetzt volljährig und damit ab jetzt alles möglich war. Es bedurfte einer emotional aufgeladenen Begegnung mit ihm an einem Weihnachtsabend, um mir deutlich zu machen, dass mein eiserner Wille, ihn nicht anzurühren, ein paar ziemlich tiefe Risse bekommen hatte.
Ich schüttelte die Gedanken daran, was ich damals zu Lucky gesagt hatte, buchstäblich ab. Diese Minuten gehörten nicht zu den stolzesten Momenten meines Lebens. Tatsächlich war diese Nacht eine bittere Erinnerung daran gewesen, warum ich mich vor so langer Zeit von meinen Freunden und meiner Familie zurückgezogen hatte.
Nach dem Wiederauftauchen meines Bruders Jake, der mehrere Jahre lang verschwunden gewesen war, war ich wieder mit meiner Familie vereint gewesen. Die Konfrontation mit Lucky hatte ich als Ausrede benutzt, um wieder auf Abstand zu gehen. Aber der Teenager war nur ein Grund gewesen, warum ich angefangen hatte, nach Ausreden zu suchen, um der kleinen Stadt Haven in Colorado fernzubleiben.
Mein Bruder und meine Eltern hatten einfach angenommen, dass es mein neuster Einsatz war, der mich während der Feiertage und zu besonderen Anlässen stark eingespannt hatte. Sie konnten nicht wissen, dass ich absichtlich jede Gelegenheit ausschlug, für Besuche in die Staaten zurückzukehren. Und genauso wenig konnten sie ahnen, dass ich meinen letzten Einsatz sogar sechs Monate früher beendet hatte, nachdem eine Knieverletzung das Ende meiner Karriere bei der Armee bedeutet hatte.
Bei dem bloßen Gedanken an den Vorfall, der alles für mich verändert hatte, spürte ich, wie sich meine Brust zusammenzog und mein Atem sich beschleunigte.
Nicht hier, nicht jetzt.
Ich schloss die Augen und versuchte, meine Gedanken auf etwas Erfreulicheres als auf den Tag zu konzentrieren, an dem ich fast mein Leben verloren hätte … den Tag, an dem zu viele meiner Waffenbrüder ihr Leben verloren hatten.
Ich befahl meinem Gehirn, es solle nicht dorthin zurückkehren, wo es normalerweise hinsprang, wenn solche Anfälle auftraten. Aber wie immer ignorierte mein unbeherrschbarer Verstand den Befehl und konzentrierte sich auf die eine Person, die er eigentlich nicht hätte auswählen sollen.
Du schaffst das, Zach.
Die Erinnerung an Luckys freundliche Ermutigung half mir, den Druck in meiner Brust etwas zu lindern. Ich ließ meine Gedanken zu jenem Moment auf dem schneebedeckten Hügel nahe der Hütte meines Bruders zurückschweifen, als der noch jugendliche Lucky mir das Skifahren beigebracht hatte. Der Rest der Familie hatte sich zu Thanksgiving in der Blockhütte von Jake und Oz – seinem jetzigen Ehemann – versammelt gehabt.
Ich hatte der improvisierten Skistunde zugestimmt, nachdem Lucky erfahren hatte, dass ich noch nie Ski gefahren war, es aber immer schon mal ausprobieren wollte. Es hatte nur den Teenager und mich sowie die Stille der Bäume gegeben, während um uns herum dicke Schneeflocken tanzten. Es war einer der unbeschwertesten, reinsten Momente meines Lebens gewesen. Ich hatte vergessen, dass ich den ihn auf Distanz halten musste und einfach seine Gesellschaft genossen. Es gab nichts Unangemessenes an dieser Begegnung – wir waren einfach zwei Menschen, die Spaß hatten und den Augenblick genossen.
Unbeschwert.
Als ich mich an das Ende unserer Stunde und die Schneeballschlacht erinnerte, die dann zwischen uns ausgebrochen war, fiel es mir leichter, zu atmen. Ich lehnte mich nach hinten gegen den Sitz des Trucks, zu müde, um mich zu bewegen. Dabei schaffte ich es gerade eben, den Kopf so weit zu drehen, dass ich nachsehen konnte, ob das Objekt meiner Erinnerungen noch da war, wo es sich zu Beginn meines unerwarteten Schubes befunden hatte. Ich hatte die Angewohnheit, das Zeitgefühl zu verlieren, wenn die Panikattacken auftraten. Mir war bewusst, dass sie das waren, aber ich hatte nicht die Absicht, ihnen zu viele Gedanken zu widmen. Wörter wie Trauma, Überlebensschuld-Syndrom und PTBS waren mir unzählige Male von allen möglichen medizinischen Fachleuten entgegengeschleudert worden, aber ich beendete diese Gespräche immer, bevor sie wirklich begannen.
Lucky saß noch immer auf einer Bank vor dem Studentenzentrum des Campus. Einen Moment lang gestattete ich meinen Augen, seinen Anblick ganz und gar aufzunehmen und erinnerte mich dann daran, warum ich meinen Bruder ermorden wollte.
Der Junge vor mir war genau das nicht mehr. Mit zwanzig konnte man ihn nur als absolut umwerfend bezeichnen. Sein Babygesicht hatte wunderschöne Züge angenommen, zu denen hohe Wangenknochen und die wohl schönsten Lippen gehörten, die ich je bei einem Menschen – egal ob Mann oder Frau – gesehen hatte. Zugegeben, ich war zu weit weg, um seine Augen genau zu sehen, aber die hatte ich mir schon vor langer Zeit eingeprägt. Schokoladenbraun mit goldenen und grünen Sprenkeln drin. Und lange, dichte Wimpern, die dich anzogen und dich dazu brachten, über alles nachzusinnen, was diese Spiegel seiner Seele sagten.
Die Kleidung, die er trug, war locker geschnitten, so dass ich nicht wirklich erkennen konnte, ob er in den letzten Jahren mehr in seinen Körper hineingewachsen war. Meinen Schwanz schien das nicht wirklich zu interessieren. Es schien ihn auch nicht zu interessieren, dass der junge Mann praktisch mit mir verwandt war. Verflucht, er nannte meinen Bruder Onkel Jake. Zum Glück hatte er mich nie so genannt, aber vielleicht hätte es geholfen, wenn er es getan gehabt hätte.
Ich schüttelte den Kopf, als mein Schwanz in meiner Hose weiter anschwoll. Ja, Onkel Zach genannt zu werden, hätte auf keinen Fall etwas geändert. Nur, dass ich mich bei den wenigen Malen, als ich mir erlaubte hatte, über den Teenager und die Zeit seiner Volljährigkeit zu fantasieren, noch mehr wie ein Lustmolch gefühlt hätte.
Wieder verfluchte ich stillschweigend meinen Bruder, während ich beobachtete, wie Lucky mit seinen Freunden redete. Er lachte ausgelassen mit den Jungs und Mädchen, die ihn umgaben, und ich spürte, wie mich dieses seltsame Gefühl der Richtigkeit durchströmte. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, war an diesem schicksalshaften Weihnachtsabend gewesen, kurz nachdem er achtzehn Jahre alt geworden war. Am stärksten waren mir seine offensichtliche Demütigung und die Tränen in Erinnerung geblieben, die über seine Wangen liefen, während er versucht hatte, sich möglichst ruhig umzudrehen und von mir wegzugehen, nachdem ich seine unerfahrenen Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte.
Lucky hatte dieses grässliche Schluchzen ausgestoßen, kurz bevor er den Durchgang erreicht hatte, der zur Rückseite des Hotels führte, das seinen Vätern gehörte. Und ich hätte schwören können, dass ich ihn ein paar Augenblicke später über den Hinterhof in Richtung des Hauses seiner Familie hinter dem Hotel hatte rennen sehen.
Obwohl ich froh war, ihn heute so unbeschwert und frei mit seinen Freunden zu sehen, schwächte dieser Anblick nicht die Erinnerung an das ab, was ich zu ihm gesagt hatte; an das, was er vor zwei Jahren zu mir gesagt hatte.
Da es ihm offensichtlich gut ging und ich das meinem Bruder auch ehrlich berichten konnte, griff ich in der Absicht, meinen Truck zu starten und zu meinem Hotel zu fahren, nach dem Autoschlüssel im Zündschloss. Kurz bevor ich den Motor starten wollte, warf ich einen letzten Blick zurück in Luckys Richtung, in der Hoffnung, nur ein kleines bisschen mehr von seinem Glück aufzusaugen, um es in meinem Gedächtnis speichern zu können, falls ich es in der Zukunft jemals brauchen würde. Meine Finger erstarrten, als mein Blick nicht auf einen lächelnden Lucky fiel. Tatsächlich saß er überhaupt nicht mehr auf der Bank.
Ich hasste es, dass es mir sofort den Atem verschlug, als ich mich hastig nach ihm umsah. Meine Erleichterung, ihn ein paar hundert Meter von seinen Freunden entfernt unter einem Baum wieder zu finden, war jedoch nur von kurzer Dauer.
Denn er lächelte nicht mehr … und er war nicht allein.
Der Typ, der bei ihm war, war nicht bei seinen Freunden gewesen, mit denen er gerade geplaudert hatte. Er sah ungefähr genauso alt aus wie Lucky, aber er hatte einen kräftigeren Körperbau und war gut zehn bis fünfzehn Zentimeter größer. Ich hatte keine Chance zu hören, worüber die beiden redeten, aber das spielte eigentlich keine Rolle, denn wie immer sprach Luckys Gesichtsausdruck Bände. Er fühlte sich sichtlich unwohl und es fiel im schwer, den Blickkontakt mit dem Kerl, der sich vor ihm aufgebaut hatte, aufrechtzuerhalten. Das Einzige, was mich in meinem Truck hielt, waren die anderen Studenten, die in der Nähe standen. Aber keiner von ihnen schien zu bemerken, wie Lucky zurückwich, bis er gegen den Baum hinter sich stieß. Ich schätzte, dass es für die meisten Menschen aussah, als würden zwei Freunde sich unterhalten, aber Luckys Körpersprache war eindeutig – er wollte überall sein, nur nicht dort. Und auch wenn der Typ, der dort bei ihm war, nach außen hin nichts Offensichtliches tat, um seinen Anspruch auf Lucky geltend zu machen: Mein Instinkt sagte mir, dass die Art und Weise, wie er sich immer wieder vorbeugte und leise auf ihn einredete, während er Lucky bedrängte, in Wirklichkeit genau das bedeutete.
Ich streckte die Hand nach dem Türgriff aus, bevor ich es mir anders überlegen konnte, aber Lucky wählte diesen Moment, um sich von dem Kerl wegzudrehen. Er lief zurück zu seinen Freunden, ich hingegen beobachtete den Mann weiter, der ihn bedrängt hatte. Ich kannte diesen Blick … welche Unterhaltung auch immer zwischen den beiden stattgefunden hatte: Das Arschloch war definitiv noch nicht fertig mit seiner Ansprache.
Mein Blick schweifte zurück zu Lucky, der sich gerade von seinen Freunden verabschiedete. Das Lächeln auf seinem Gesicht war so breit wie immer, aber es sah jetzt gezwungen aus. Keiner seiner Freunde schien die plötzliche Anspannung seines Körpers zu bemerken.
Lucky winkte seinen Freunden und ging dann in die entgegengesetzte Richtung zur Stelle, an der der Zwischenfall mit dem Typen stattgefunden hatte, davon. Da ich ihm nicht in meinem Auto folgen konnte, ohne Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, wartete ich noch einen Moment, bis ich ausstieg. Ich vermutete, dass Lucky auf dem Weg zurück in sein Appartement oder ins Studentenwohnheim war. Die Möglichkeit, dass ihm im hellen Tageslicht irgendetwas zustieß, war gering bis nicht vorhanden, aber das interessierte mich einen Scheißdreck. Der Typ, der Lucky belästigt hatte, war verschwunden, also hatte ich vor, Lucky nicht aus den Augen zu lassen. Wenn er erst mal sicher angekommen war, würde ich gehen. Ich würde eine Nachricht an meinen Bruder schicken und ihm mitteilen, dass es dem Jungen prima ging und dann würde ich die Abgeschiedenheit meines Hotels suchen. Und wenn ich auf dem Weg dorthin zufällig auf eine Bar stoßen würde, dann wäre das eben so.
Vielleicht war ich zu Anfang des Tages nicht sonderlich daran interessiert gewesen, einen Typen oder ein Mädchen zu finden, mit dem ich ein oder zwei Stunden verbringen konnte, aber das hatte sich geändert.
Ich war nicht stolz darauf, dass ich nach dem Anblick des kleinen Lucky Reed, der zwar nicht mehr so klein war, aber immer noch genauso süß und unschuldig und außerdem noch unerreichbarer als jemals zuvor aussah, einen Drink und einen Fick brauchte, am besten in dieser Reihenfolge. Aber so war es nun mal. Ich hatte nicht die Angewohnheit, mir selbst etwas vorzumachen und es machte auch keinen Sinn, jetzt damit anzufangen. Der umwerfende Lucky war immer noch unerreichbar für mich, aber das bedeutete nicht, dass ich nicht einen Ersatz finden konnte, um mich eine Weile zu verlieren.
Einen wunderschönen braunhaarigen, braunäugigen, nicht ganz so unschuldigen Ersatz, der wusste, welches Spiel gespielt wurde …
Ich war so gefangen von der Vorstellung, einen Lucky-Doppelgänger zu finden, um mein Verlangen zu befriedigen, dass ich den echten Lucky für ein paar Minuten aus den Augen verlor und ein paar Mal hin- und herlaufen musste, um ihn wiederzufinden.
Tatsächlich atmete ich erleichtert auf, als ich ihn endlich auf einem kleinen, abgelegenen Parkplatz wiederfand. Aber auch diese Erleichterung hielt nur kurz vor, als ich sah, mit wem Lucky zusammen war. Der Typ, der ihn nur ein paar Minuten zuvor schon belästigt hatte, stand wieder direkt vor ihm. Dieses Mal bedrängte er ihn an einem kleinen grauen Auto. Und jetzt bestand keinerlei Zweifel mehr an seinem Besitzanspruch, denn er presste Lucky mit seinem Körper gegen die Seite des Fahrzeugs. Falls ein Gespräch stattfand, hörte ich es nicht, denn ich sah rot und das einzige Geräusch in meinen Ohren war eine Art weißes Rauschen, das mich immer begleitete, wenn mein Körper und mein Verstand in den Raubtiermodus umschalteten.
In den wenigen Sekunden, die es mich kostete, die Entfernung zwischen mir und den beiden jungen Männern zu überwinden, änderte ich die Prioritäten für den Rest des Tages.
Zuerst dem aufdringlichen Arschloch eine aussagekräftige Lektion mit den Fäusten erteilen, dann ein harter Fick mit dem Ersatzmann und schließlich genug Drinks, um mich alles vergessen zu lassen.
Besonders den jungen Mann, der gleich sehen würde, dass ich ganz bestimmt kein Held war.