Читать книгу Die Wikinger von Vinland (Band 1): Verlorene Heimat - Smilla Johansson - Страница 11
Kapitel 3
ОглавлениеZitternd lag sie im Schnee auf dem Dach und lauschte dem Echo der Worte, die sie soeben vernommen hatte. Versuchte zu begreifen, was sie bedeuteten.
Ich, dachte sie immer wieder.
Ich. Sie sprechen von mir. Linea.
Wieder und wieder hörte sie ihren Namen aus dem Mund des Jarls, begleitet von der Zustimmung Valdarrs, ihres Ziehvaters. Ein Mann, der so wichtig war in ihrem Leben. Ein Mann, der ihr alles bedeutete. Ein Mann, dem sie offenbar nichts bedeutete.
Schmerzhaft gruben sich ihre Fingernägel in ihre Handflächen, während Linea nun die Fäuste ballte und hörte, wie Valdarr kommentarlos das Langhaus verließ, die Tür hinter sich zuzog. Noch ehe sie es verhindern konnte, rannen ihr heiße Tränen die Wangen hinab und brannten Spuren in den aufgewühlten Schnee.
Verrat. Wie hatte er nur ihre Hand diesem grausamen und gierigen Mann versprechen können? Wie hatte er diese Verbindung zulassen können?
Wut keimte in ihr, schlang sich mit klammen Fingern um ihr Herz und drohte es ihr in der Brust zum Platzen zu bringen. Sie musste fort. Runter von diesem Dach, weg von Rutmar, weg von Valdarr.
Immer noch zitternd löste sich Linea aus ihrer Starre, wischte sich energisch mit dem Ärmel des Pelzumhangs die Tränen aus den Augen und robbte zur Leiter zurück. Wie genau ihre Füße und Hände den Halt fanden und sie vor einem Sturz in die Tiefe bewahrten, wusste sie nicht.
Sobald Linea den schlammigen Boden wieder unter den Stiefeln spürte, rannte sie los. Quer über den Platz, während weitere Zornestränen ihr die Sicht verschleierten. Es kümmerte sie nicht.
Im Rennen stolperte sie halb blind über ihre Füße, stieß gegen Karren und Marktstände und rempelte Leute an, die ihr wüste Beschimpfungen hinterherbrüllten. Es war ihr egal. Alles schien Linea auf einmal gleichgültig zu sein. Ihre Tränen, die zerzausten Haare … alles, wofür sie sich vor einer halben Fackel noch in Grund und Boden geschämt hatte, verlor seine Bedeutung, wenn sie an die Wertlosigkeit ihres Lebens dachte.
Wie kann er es wagen, einfach so über mein Leben zu bestimmen?
Sie rannte weiter. Über die vom Schnee befreiten Wege geradewegs auf das große Tor in der Holzpalisade zu. Kurz tauchten Hákon und Magnus in ihrem Blickfeld auf, aber Linea schenkte auch ihren Freunden, die ihr verwundert hinterherstarrten, keine Beachtung.
Immer wieder hörte sie Rutmars Worte in ihrem Kopf widerhallen, die ihr ein unangenehmes Kribbeln auf der Haut verursachten.
Besitzen, Weib, Sohn, bevor der Sommer kommt.
Mit jedem weiteren Wort wurde ihr die Bedeutung klarer, wuchs zu einer Last heran.
Linea wurde noch schneller, bahnte sich ihren Weg durch das Dickicht des Waldes, störte sich nicht an Dornen und vereisten Zweigen, die an ihrer Kleidung zerrten und ihr Gesicht zerkratzten. Ein unangenehmes Pochen breitete sich in ihrem Kopf aus. Sie schloss die Augen, ignorierte den Schmerz und rannte weiter. Die eisige Luft brannte qualvoll in ihrer Kehle, und ihre Lungen gierten nach Sauerstoff, bekamen nicht genug.
Linea blieb erst stehen, als der endlose blaue Fjord mit der spiegelglatten Oberfläche vor ihr auftauchte und sie bis an die Uferkante herantrat. Schwer keuchend stand sie da und presste fest ihre Hand gegen die linke Seite, wo sich ein unerträgliches Stechen ausbreitete.
Nur langsam beruhigte sie sich, konzentrierte sich auf ihre Atmung.
Einatmen.
Ausatmen.
Sie hielt die Augen weiterhin geschlossen, versuchte alles auszublenden, bis sie nur noch das sanfte Rauschen des kalten Nordwindes in den dürren Ästen der Bäume ringsum hörte.
Da war nichts mehr. Kein Entsetzen, keine Angst und auch keine Wut kämpften mehr in ihrem Inneren um die Führung. Gänzliche Leere erfüllte sie und sandte ein dumpfes Pochen durch ihren gesamten Körper.
Sie öffnete die Augen, und ihr Blick fiel auf ihre blutigen Handflächen, wo sie sich mit den Nägeln tief ins eigene Fleisch geschnitten hatte. Erschöpft sank sie am Ufer nieder und tauchte ihre geschundenen Hände in das klare, eisige Wasser des Fjords. Beobachtete, wie sich das Blut in sanften Schlieren mit dem Wasser vermischte und langsam von den seichten Bewegungen davongetragen wurde.
Die Zeit verstrich quälend langsam, während sie dort am Ufer hockte und auf das Wasser starrte. Linea ignorierte den betäubenden Schmerz, der sich in ihren Knien ausbreitete und sie zum Aufstehen bewegen wollte, und grub stattdessen ihre Füße ebenfalls in den tiefen Schnee.
Was sollte sie nun tun? Es ergab keinen Sinn, zurück ins Dorf zu gehen und ihrem Vater geradewegs in die Arme zu laufen. Wie sollte sie ihm unter die Augen treten und gleichzeitig so tun, als wisse sie nichts von dem Gespräch mit Rutmar? Sie glaubte nicht, dass Valdarr das Thema ihr gegenüber freiwillig ansprechen würde. Aber sie wusste ebenso, dass weder ihr noch ihrem Ziehvater eine Wahl blieb. Hatte Valdarr möglicherweise ohnehin vorgehabt, sie an Rutmar zu verheiraten? Hatte er vielleicht schon vor Jahren diese Vereinbarung mit dem Jarl getroffen? Wie sonst sollte sie es sich erklären, dass Valdarr seine Verteidigung so schnell aufgegeben hatte? Wenn nur der sorgende Ziehvater aus ihm gesprochen hatte, obwohl der Gefolgsmann in ihm wusste, dass es so kommen würde, wie der Jarl es wollte?
Der Jarl vergisst nichts, wenn ihm daraus ein Vorteil entsteht, dachte Linea verbissen. Wenn Valdarr mehrere Sommer Zeit gehabt hätte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass Rutmar Linea zum Weib nahm, würde das seinen nur geringen Widerspruch erklären. Er hätte es bestimmt nicht einfach so hingenommen, wenn er soeben zum ersten Mal von den Plänen des Jarls erfahren hätte.
Aber würde das ein liebender Vater wirklich tun?
Ein trüber Gedanke kam Linea in den Sinn und trieb ihr einen bitteren Geschmack in den Mund.
Nein, sie war nicht Valdarrs Tochter. Sie war es nie gewesen.
Bereits als sie noch ein kleines Kind gewesen war, hatte Valdarr ihr erzählt, dass er nicht ihr leiblicher Vater sei. Dass sie als Säugling zu ihm gekommen sei und er geschworen habe, für sie zu sorgen.
Wer ihre Eltern wirklich waren, woher sie kamen und ob sie noch lebten, darüber hatte er noch nie ein Wort verloren. Sämtliche Fragen, die Linea ihm immer wieder über ihre Eltern oder ihre wahre Heimat gestellt hatte, hatte er abgeblockt und sie nur brüsk zurückgewiesen.
Indes war sich Linea sicher, dass sie nicht aus Skogbyen oder der näheren Umgebung stammte. Nicht nur der leicht rötliche Einschlag in ihren sonst blonden Haaren verriet sie, sondern auch kaum bemerkbare Unterschiede in ihren feinen Gesichtszügen deuteten darauf hin, dass sie nicht von dieser Küste stammte.
Genau genommen wusste sie nicht mal, ob sie wirklich Linea hieß, geschweige denn, wer Linea war. Sie kam sich selbst fremd vor, und gerade jetzt, da über sie und ihr Leben bestimmt wurde wie über das einer Sklavin, fühlte sie sich verlorener denn je.
Ihre Gedanken wanderten zurück zu Rutmar, dem Mann, dem sie versprochen war. Was wollte er mit einem Mädchen wie ihr? Er könnte jedes Mädchen haben, nach dem er sich verzehrte. Es gab genug Frauen in Skogbyen und auch in den umliegenden Dörfern, die alles dafür geben würden, um von dem Jarl ausgewählt zu werden. Und es war bei Weitem nicht unüblich, dass die Männer erneut heirateten, wenn die Mütter ihrer Söhne im Kindbett starben oder von fremden Kriegern geraubt oder getötet wurden.
Würde es für den Ruf des Jarls nicht sogar vorteilhafter sein, nähme er sich eine Gemahlin von höherem Stand als sie? Eine Schildmaid oder die Tochter eines anderen Jarls? Ohne Eltern und ohne namhaften Einfluss war Linea nicht mehr als eine Thral, eine Sklavin. Er hätte sie so oder so haben können, sie sich als Hure halten können, wie es ihm beliebte. Was aber erhoffte er sich von dieser offiziellen Verbindung mit ihr?
Linea konnte sich nicht vorstellen, dass er es allein auf die Demütigung Valdarrs abgesehen hatte. Dann hätte Rutmar nur warten müssen, bis Linea ihren siebzehnten Sommer erreichte und somit für alle Männer Skogbyens zur Verfügung stand.
Unwillkürlich tauchte das Bild Hákons in ihrem Geist auf. Der Sohn des Jarls wäre nach norwegischem Erbrecht der Anwärter auf den Thron seines Vaters, auch wenn seine Mutter bereits bei den Göttern weilte. Doch mit einer neuen Frau, mit welcher der Jarl auch noch ein Kind zeugte, würde ihm dieser Anspruch genommen werden.
Plante Rutmar genau das?
Es stellte kein Geheimnis dar, dass er nicht viel von seinem Sohn hielt und der Meinung war, sein Sohn tauge für nichts weiter als dumme Streiche und das Treiben des Viehs, aber hasste er Hákon so sehr, dass er einem zweitgeborenen Sohn die gesamte Herrschaft über das Dorf in den Schoß legen würde?
Angst wallte in Linea auf, als sie noch eine grausigere Ahnung beschlich. Dem Jarl war bestimmt nicht entgangen, dass sie Hákon als einen Freund sah und sich stets gut mit ihm verstanden hatte. Konnte etwa Eifersucht die treibende Kraft hinter seinem Vorhaben sein, sie zum Weib zu nehmen? Wollte er Hákon Linea streitig machen?
Das Feuer der Wut, das in ihrem Inneren wütete, wandelte sich augenblicklich in Ekel und Hass. Sie hasste Rutmar, hasste seine Macht, mit ihr tun zu können, was er wollte, und sie verachtete Valdarr für seine Entscheidung, ihm zuzustimmen.
Ihr war sehr wohl bewusst, dass sie in ihrer Position nicht in der Lage war, etwas an den Plänen der Männer zu verändern, und doch fasste sie den Entschluss, sich ihnen nicht leichtfertig zu beugen.
Völlig entkräftet trat sie vom Ufer zurück und fand unter einer hohen Kiefer einen Platz, der vom Schnee gänzlich unberührt war. Sie setzte sich auf den mit Kiefernnadeln bedeckten Boden, den Stamm im Rücken, und zog den dicken Bärenfellumhang enger um ihre schmalen Schultern.
Sie fühlte sich schlapp, regelrecht ausgelaugt von der Flut an Emotionen, die stetig in ihrem Inneren tobten. Langsam schloss sie die Augen, und obwohl ein eisiger Wind über ihr Gesicht wehte, nickte sie wenig später ein.
Raue Stimmen gellten durch die Luft, erfüllten die Nacht über der aufgewühlten See. Das Holz ächzte, die Takelage knarzte und das Segel raschelte im Wind.
Linea schaute angespannt auf die Knorr hinab. Ihr war, als würde sie in den Wolken sitzen und auf das Geschehen auf dem Meer blicken.
In der Ferne färbte sich der Horizont orangerot über der scharfen Kante der hohen Klippen. Rauch stieg von den zerstörten Hütten auf und schien mit ausgestreckten Armen nach dem flüchtenden Schiff zu greifen, das immer schneller Fahrt aufnahm und gen Osten segelte.
Das Bild zerstob und nun sah sie in das junge, wenngleich auch zerschrammte Gesicht Valdarrs, der ungestüm auf sie einredete, doch sie verstand nichts von dem, was er sagte. Blut troff aus seiner schiefen Nase und verklebte ihm den blonden Bart, der nicht halb so lang war, wie sie es von ihm kannte. Angst stand in seinen grauen Augen, und immer drängender wurden seine Worte, die jedoch nicht bis zu ihr durchdrangen.
Sie spürte seine starken Arme, als er sie hielt und ihr Gesicht vor dem Schrecken verbarg, der hinter ihnen lag.
Was war geschehen, dass ein so großer, starker Krieger solch eine Angst hatte?
Panik ergriff von Linea Besitz, ließ ihr Herz erbarmungslos schmerzhaft gegen die Rippen hämmern und beschleunigte ihre Atmung, brachte die Welt um sie herum ins Schleudern und vertrieb das Bild des jungen Valdarr.
Plötzlich schaute sie in dunkle, blaugrüne Augen – ihre Augen. Der flehentliche Blick, der aus ihnen sprach, erschütterte Linea bis ins Mark, nahm ihr die Luft zum Atmen. Es war das Gesicht einer Frau. Die jungen, weichen Züge waren erstarrt und ließen sie viel älter aussehen, als sie eigentlich sein konnte – nicht älter als zwanzig Jahre. Doch die tiefen Furchen auf ihrer Stirn und die kleinen Fältchen um die Augen herum erweckten den Anschein, dass sie die Dreißig weit überschritten hatte. Die aufgeplatzten Lippen hatte sie zu einer schmalen Linie zusammengepresst.
Eine hohe Stimme gab einen entsetzlich qualvollen Schrei von sich, der sich in ihrem Kopf mit den eindrucksvollen blaugrünen Augen vermischte und in ihren Ohren klingelte, so wie das Kreischen von Metall auf Metall.
Linea schreckte keuchend hoch. Sie spürte einen unangenehmen Druck auf den Schultern. Das Erste, was sie verschwommen wahrnahm, waren die schattenhaften Konturen der umstehenden Bäume.
Sie musste mehrere Male blinzeln, bis sich ihre Sicht klärte und sie bemerkte, dass ihr die Tränen in den Augen standen. Ihr Herz klopfte heftig und sie fühlte ihren Puls am Hals stark pochen. Die Angst, die der Traum in ihr ausgelöst hatte, steigerte sich noch, als sie nun das drückende Gewicht auf den Schultern zwei starken Händen zuordnete, die sie weiterhin mit dem Rücken an den Baumstamm drückten.
Panisch schlug sie um sich, trat mit den Füßen, egal, was sie zu treffen hoffte, wollte sich aus der starren Position lösen, aufstehen, flüchten. Ein lautes Fluchen war zu hören, als sie mit ihrem Ellbogen tatsächlich etwas traf, das sich in ihrem Rücken befand und wesentlich weicher war als der Stamm der Kiefer.
»Linea! Verdammt, komm zu dir!« Der Druck auf ihre Schultern verstärkte sich und sie spürte einen heißen Atem im Nacken, was sie noch weiter dazu anstachelte, wie wild um sich zu schlagen.
Ruckartig wandte sie den Kopf nach links und versenkte die Zähne tief in dem Fleisch ihres Angreifers. Dieser heulte sofort schmerzerfüllt auf, und die Hände ließen sie los. Schnell sprang sie auf die Füße und griff nach dem erstbesten Stock, der vor ihr aus dem Schnee ragte, um sich zu verteidigen.
Als sie den Kopf hob, erkannte sie ihn. Dieses Gesicht mit der großen Nase und den vielen Sommersprossen, die auch im Winter nie ganz verschwanden, würde sie überall wiedererkennen. Zwischen den Bäumen, keine zwei Mannslängen von ihr entfernt, stand Hákon, der sie mit einem wütenden Blick bedachte und die blutige Hand an seinem Mantel abwischte. Die Spuren ihrer Zähne leuchteten grellrot vor dem schneeweißen Hintergrund.
Als Hákon merkte, dass Linea sich ein wenig beruhigte, hob er beschwichtigend die Hände und machte einen zaghaften Schritt auf sie zu.
»Es war nur ein Traum, Nea«, murmelte er mit ruhiger Stimme und wagte einen weiteren Schritt, als sie sich nicht rührte.
Nahezu sanft legte er nun seine Hände erneut auf ihre Schultern und was sich soeben noch unangenehm drückend angefühlt hatte, empfand sie nun als wohltuend und beruhigend. Eine vertraute Wärme breitete sich unter seinen Handflächen aus und strömte durch Lineas gesamten Körper bis zu den eiskalten Fingerspitzen, die noch immer krampfhaft den Stock umklammerten.
Das ängstliche Zittern ihrer Glieder hielt an und langsam zog er sie näher zu sich. Ruhig wanderten seine Hände über ihre Arme, strichen über die angespannten Muskeln unter dem dicken Umhang und fanden schließlich ihre Hände. Sanft löste er ihren Griff um das kalte Holz und warf den Stock hinter sich zurück in den Wald.
»Wie hast du mich gefunden?«, flüsterte Linea mit brüchiger Stimme, während sie den Kopf in den Nacken legen musste, um ihn anzusehen, so nah stand er vor ihr.
»Das war nicht gerade schwer«, meinte er mit einem anmaßenden Lächeln auf den schmalen Lippen. »Ich bin einfach deiner Spur der Verwüstung gefolgt.«
Er deutete ein Nicken in Richtung Wald an und Linea stellte sich auf die Zehenspitzen, um über seine Schulter schauen zu können. Hákon hatte tatsächlich gar nicht so unrecht, man konnte nur allzu deutlich erkennen, dass sich jemand ohne Rücksicht auf Verluste einen Weg durch das Unterholz gebahnt hatte.
Sogleich fühlte Linea wieder ein dumpfes Pochen auf ihrer Wange, wo sich eine ordentliche Schramme über ihr Gesicht ziehen musste, denn es spannte unangenehm, als sie versuchte zu lächeln.
»Was, bei allen Göttern, hat dich denn so wütend gemacht?«, fragte er und eine tiefe Sorgenfalte bildete sich zwischen seinen dichten Augenbrauen.
Ihr Lächeln erstarb. Beschämt sah sie zu Boden und schielte auf ihre Stiefelspitzen. Sie brachte es nicht über sich. Konnte ihm nicht erzählen, was sie gehört hatte. Wie sich ihr Leben in den nächsten Monden verändern würde, welche Rolle er dabei spielte, was das für ihn bedeutete. Für ihre Freundschaft. Aber sie wollte es ihm sagen. Wollte, dass er wusste, wie schwer es ihr fiel, mit diesem Wissen zu leben. Wollte ihm versichern, dass er nichts dafürkonnte, genauso wie er es nicht würde verhindern können.
Und doch wusste sie, wenn ihr einer in dieser aussichtslosen Situation helfen konnte, dann war es Hákon.
Erneut spürte sie, wie sich unnachgiebig heiße Tränen in ihre Augen stahlen und ihre Unterlippe unkontrolliert zu zittern anfing. Eine bittere Erkenntnis drängte sich in ihr Bewusstsein.
Wenn ich es ihm nicht erkläre, wird er es von Rutmar erfahren.
Dennoch brachte sie die enthüllenden Worte nicht über die Lippen.
»Es geht dich nichts an«, erwiderte sie trotzig.
Zumindest noch nicht.
Beleidigt ließ er ihre Hände los und trat einen Schritt zurück.
»Wie du willst«, sagte er kalt. Sämtliche Wärme und Zuneigung wichen aus seinem Blick. »Komm mit zurück ins Dorf, es wird gleich dunkel.«
Linea schwieg beharrlich und stapfte energisch, immer noch mit Tränen in den Augen, an ihm vorbei. Zögernd folgte er ihr, wahrte jedoch einen Abstand von gut drei Mannslängen zu ihr.
Die Dämmerung warf bereits lange Schatten, als das Tor in der Palisade endlich in Sichtweite kam und sie die Fackeln zu beiden Seiten leuchten sahen. Hákon behielt recht. Im Winter war es hier so hoch im Norden bei Weitem nicht so lange hell wie im Sommer. Die Tage waren kurz, die Nächte lang.
Linea wusste nicht, wie lange sie der Albtraum gefangen gehalten hatte und wie viele Fackeln seit ihrer Flucht verbrannt waren, aber jetzt wurde ihr bewusst, dass der ganze Tag vergangen war.
Nachdem sie das Tor passiert hatten, drehte sie sich noch einmal zu Hákon um. Sie wusste nicht genau, wie sie es tun sollte, aber sie hatte das Bedürfnis, ihn um Verzeihung zu bitten.
Er war ihr in den letzten Monden wichtig geworden und sie wollte, dass er das wusste. Gleichwohl spürte sie einen stechenden Schmerz in der Brust, wenn sie daran dachte, was ihnen beiden bevorstand.
Ehe er sich abwandte, fing sie kurz seinen Blick ein. Ein dunkles Glitzern, das ihr aus seinen leuchtend blauen Augen entgegenfunkelte und ihr erneut das Gefühl von Geborgenheit gab. Sie öffnete den Mund, wusste jedoch nicht, was sie sagen sollte. Dann drehte er sich auch schon um und eilte zügig zum Haus der Wachen.
Sobald Hákon in der Menschenmenge von abziehenden Händlern verschwunden war, kehrte die eisige Kälte in ihre ohnehin schon steifen Glieder zurück. Erst jetzt wurde Linea klar, dass sie immer noch in der Kleidung von heute Morgen herumlief, die obendrein nach ihrem Ausflug in den Wald zerrissen und auch noch voller Schlamm und Schnee war. So unauffällig wie möglich machte sie sich auf den Heimweg.
Sie war schon beinahe an der Tür zu Valdarrs Hütte angekommen, als ihr siedend heiß einfiel, dass sie den Korb mit den Fischen und Netzen an der Rückseite des Langhauses vergessen hatte.
Linea machte auf dem Absatz kehrt und eilte zurück über den Platz. Der sich stetig füllenden Methalle schenkte sie dabei kaum Beachtung. Als sie das Langhaus passierte, war sie froh, dass der Jarl und seine Anhänger schon hinübergegangen waren.
Sie fühlte sich nun wirklich nicht in der Lage, ihm nach den heutigen Ereignissen gegenüberzutreten. Das gleiche Problem sah sie bei dem Gedanken daran, gleich ihren Ziehvater zu sehen.
Wie sollte sie ihm bloß erklären, wo sie den ganzen Tag lang gewesen war und warum sie so aussah, als hätte sie ein tollwütiger Bär durch die Wälder gejagt?
Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe, während sie den Korb hinter einer großen Holzkiste hervorzog, ihn aufnahm und sich wieder auf den Weg nach Hause machte.
Währenddessen begegnete ihr keine Menschenseele, was nicht weiter ungewöhnlich war, denn mittlerweile hatte sich die winterliche Dunkelheit vollends über das kleine Dorf gelegt. Viel schneller, als ihr lieb war, stand sie vor der schiefen Holztür von Valdarrs Hütte.
Mit einem kräftigen Ruck warf sie sich gegen die Tür, die entsetzlich quietschte, jedoch mit einem schauerlichen Kratzen auf dem Fußboden nach innen aufschwang.
Der Anblick, der sich ihr bot, überraschte sie vollends. Sie hatte erwartet, den Raum dunkel, kalt und verlassen vorzufinden. Linea war fest davon überzeugt gewesen, dass ihr Ziehvater zu der Feier des Jarls eingeladen war, die nur wenige Schritte entfernt in der Methalle stattfand.
Wenn sie ehrlich mit sich selbst war, hatte sie gehofft, ihn an diesem Abend nicht anzutreffen, wollte sie doch die Nacht nutzen und sich die Worte zurechtlegen, die sie ihm zum Thema Jarl entgegenzuschmeißen gedachte.
Hier saß er nun seelenruhig am hell flackernden Feuer und tauchte seine rechte Hand in einen schneegefüllten Eimer.
Linea erschauderte bei dem Gedanken, warum er diesen Eimer benötigte, riss sich aber jäh zusammen, als ihr einfiel, dass er nichts von ihrer Anwesenheit beim Gespräch mit dem Jarl wusste.
Sie stieß die Tür mit dem Hintern zu und stellte den Korb mit den Fischen auf den großen Eichentisch in der Mitte des Raums. Ehe sie sich zu Valdarr umwandte, der sie bisher nur stumm musterte, atmete sie tief ein, um die innere Ruhe zu bewahren und nicht in Tränen auszubrechen und sich so zu verraten.
Bevor sie etwas sagen konnte, brach ihr Ziehvater das Schweigen. »Wie siehst du denn aus? Hat dich ein Rudel hungriger Wölfe angegriffen?«
War es Spott oder Wut, was da in seiner Stimme mitklang? Linea wusste es nicht, scherte sich auch nicht darum, als sie die Schultern straffte und die Arme zitternd vor der Brust verschränkte. »Der Weg zum Fluss war beschwerlicher, als ich dachte. Der Schnee macht es nicht gerade einfacher, durch den Wald zu gehen.«
»Gehen? Du siehst eher aus, als wärst du gerannt.« Er brummelte etwas in seinen Bart, das Linea nicht verstand, und musterte sie erneut mit einem scharfen Blick.
»Nun, das bin ich auch«, gestand sie kleinlaut. »Ich wollte vor der Dämmerung wieder zurück sein und das Eis hatte die Netze …«
Aber Valdarr hatte sich bereits von ihr abgewandt und starrte finster ins Feuer. Unsicher, was sie nun tun oder sagen sollte, schaute Linea auf den Eimer, der auf dem Tisch stand und in dem noch immer seine Hand steckte.
»Warum bist du nicht früher gekommen? Eis an den Netzen hält dich doch sonst nicht auf«, riss er sie aus ihren Gedanken.
Linea sog scharf die Luft ein. Sollte sie die Chance ergreifen und ihn mit dem konfrontieren, was sie heute Morgen gehört hatte?
Nein, dazu fehlte ihr nach wie vor der Mut. Allerdings war es vielleicht möglich, ihm ein paar Informationen zu entlocken. Schließlich hatte sie Fragen, die sie sich allein aus dem Gespräch heraus nicht beantworten konnte. Allen voran die große Frage, die ihr gesamtes Leben bereits beeinflusst hatte.
»Ich war so erschöpft von der Plackerei, dass ich am Ufer eingeschlafen bin. Und …« Sie stockte kurz. »Und ich hatte einen merkwürdigen Traum.« Als er nicht reagierte und nur weiter teilnahmslos ins Feuer stierte, atmete sie tief ein und stellte die Frage, die sie so oft stellte. »Valdarr, du weißt, wer meine Eltern sind, oder?«
Stille. Nur das leise Knistern des Feuers war zu hören.
Linea seufzte. Sie hatte damit gerechnet, auch dieses Mal keine Antwort zu bekommen.
Gerade wollte sie zu einer weiteren Frage ansetzen, als ihr Ziehvater den Blick hob und sie ansah. Seine Augen glänzten seltsam und seine Lippen zitterten, als er die Worte formte. »Bin ich dir kein guter Vater gewesen, Linea?«
Beinah lag ihr eine bittere Erwiderung auf der Zunge, was er denn für ein Vater sei, der seine eigene Tochter an einen grausamen Jarl verschacherte wie das Vieh an den Schlachter, dann sah sie erneut seine feucht glänzenden Augen. Mitleid, Sorge und Kummer meinte sie darin lesen zu können. In ihnen lag keins der Gefühle, die sie zu sehen erwartet hatte. Keine Gier, Genugtuung oder gar Gleichgültigkeit. Sie war ihm nicht egal.
»Doch, das warst du«, räumte sie ein und machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu, setzte sich vor ihm auf den Boden vor das wärmende Feuer. »Kannst du denn nicht verstehen, warum ich wissen möchte, wer ich bin, wo ich herkomme?«
Valdarr sah sie lange schweigend an und Linea erwiderte seinen Blick ebenso stur. Ihr war, als kämpfte er mit sich selbst, und noch konnte sie nicht sagen, welche Seite in ihm als Gewinner aus diesem stummen Kampf hervorgehen würde. Der liebende Vater oder der treue Gefolgsmann des Jarls.
»Wirst du mir nun endlich erzählen, wer meine wirklichen Eltern sind, oder muss ich warten, bis es mir mein zukünftiger Gemahl unter die Nase schmiert?«, bohrte sie weiter und nun sprach Ungeduld aus ihr.
Sein Zögern fachte erneut die Wut in Linea an, brachte ihr Herz wieder zum Toben und trieb ihr neuerliche Tränen in die Augen. Sie fühlte bereits, wie sich die rötlichen Flecken auf ihrem Hals ausbreiteten.
Ihr Gefühlsausbruch verfehlte seine Wirkung nicht. Klappernd fiel der Schneeeimer zu Boden, den Valdarr soeben vom Tisch genommen hatte. Mit vor Schreck geweiteten Augen starrte er sie an.
Energisch stand Linea auf, strich ihre zerrissene Kurztunika glatt und verschränkte die Arme vor der flachen Brust. »Ja, ich weiß von deinem Vorhaben. Oder sollte ich besser sagen: eurem Vorhaben? Wie lange hast du schon geplant, mich an den Jarl zu verschachern, als wäre ich nicht mehr als eine Hure aus dem Haus der Lüste in der Stadt des Königs?«
Sämtliche Farbe wich aus dem Gesicht ihres Vaters, allein das Schmelzwasser von seiner verkrüppelten Hand tropfte auf den festgestampften Lehmboden. Es verschlug ihm regelrecht die Sprache, denn er starrte sie weiterhin fassungslos an.
»Wo… woher weißt du davon?«, brachte er schließlich stotternd hervor.
Linea schnaubte und begann hektisch vor dem Kamin auf und ab zu gehen. »Ich habe euer Gespräch eben … gehört«, sagte sie schlicht. »Aber es tut weiter nichts zur Sache, früher oder später hätte ich es mitbekommen, oder nicht? Also, wirst du mir jetzt erklären, was für den Jarl wohl kein Geheimnis mehr zu sein scheint? Wie konntest du überhaupt zulassen, dass dieser schreckliche Mensch mehr über mich weiß als ich selbst?«
Am liebsten hätte sie ihn angebrüllt, ihm noch mehr von den Fragen entgegengeschleudert, die in ihrem Kopf kreisten, aber sie zwang sich, so ruhig wie möglich zu bleiben. Dies war ihre Chance, endlich alles zu erfahren, was sie wissen wollte.
Linea spürte, dass sie den Antworten auf die quälenden Fragen noch nie so nah gewesen war wie in diesem Moment. Und es kostete sie all ihre Selbstbeherrschung, nun das Schweigen nicht zu brechen und Valdarr zu dem einzig richtigen Schluss kommen zu lassen.
Die Zeit verging langsam, zäh wie das klebrige Harz der Kiefern, doch Linea wandte sich nicht von ihrem Ziehvater ab, wagte nicht einmal zu blinzeln. Ein kleines Gefühl von Triumph pulsierte durch ihre Adern, als sie seinen Blick schließlich brechen sah und er kapitulierend seufzte.
»Also gut. Ich werde dir erzählen, was ich weiß. Aber es ist eine lange Geschichte, in der viel passiert ist. Bist du sicher, dass du nicht erst die nassen Sachen ablegen willst, Linea? In den Hallen der Götter wird dir das Wissen nicht viel nützen.«