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Die Geschichte vom kambodschanischen Ödipus

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In der drittgrößten kambodschanischen Stadt namens Kampong Cham am Mekong befindet sich Wat Nokor. Und hier spielt die folgende Geschichte vom kambodschanischen Ödipus.

Die Leute vor Ort bezeichnen Wat Nokor gerne als „Angkor Wat von Kampong Cham“, die Anlage kann aber dem Original nicht wirklich das Wasser reichen. Die alte Anlage aus dem 8. Jahrhundert, in die man architektonisch unglücklich eine moderne Pagode eingefügt hat, befindet sich vor der Stadt. Auch aufgrund der Legende zieht die Anlage vor allem kambodschanische Chinesen an, die ihre Anwesenheit in der Region um Kampong Cham gerne auf diese alte Geschichte zurückführen.

Die Cham sind ein muslimisches Volk, das in Kambodscha, Vietnam, Thailand und Laos beheimatet ist. Sie sind die Nachfahren der Bevölkerung des ehemaligen Königreiches Champa, das grob dem heutigen Vietnam entsprach. Die kambodschanischen Cham kamen hierher, als ihr Königreich von den Vietnamesen erobert wurde. Heute leben in Kambodscha zwischen 500.000 und 700.000 Cham. Sie sind nach den Vietnamesen die zweitgrößte Minderheit des Landes. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung liegt irgendwo zwischen 2,5 und fünf Prozent. Die Cham haben eine eigene Sprache und Schrift. In Kambodscha werden die Cham auch Khmer Islam genannt.

Die Mehrzahl der Kambodschaner sind Buddhisten. Sie sehen den Tod nicht als Ende eines Lebens sondern eher als die Vollendung eines Lebenszyklus, als den Übergang von einem Zyklus zum nächsten. Es kommt dabei weder zu einer Wiedergeburt des Ichs noch zu einer Seelenwanderung. Die Lehre des Buddha besagt, dass es keine Persönlichkeit gibt, der etwas gehören könnte, weil es weder ein „Ich“ noch eine Seele gibt. Daher besitzt niemand sein Karma, niemandem gehören also die Auswirkungen seiner guten oder schlechten Taten. Diese karmischen Wirkungen sind einfach vorhanden und lösen eine neue Geburt aus. Diese „Wiedergeburt“ ist keine Wiedergeburt einer Person, sondern die Nachwirkung des Lebens einer Person. Die Persönlichkeit, das Wesen eines Menschen, vergeht mit seinem Tod. Was den Tod überdauert und den Kreislauf der Wiedergeburt in Gang hält, ist als Karma nur ein vergängliches Bündel von mentalen Faktoren, hinter dem kein Personenkern als eigenständige Substanz steckt.

Zum besseren Textverständnis werden hier die Wörter „Seele“ und „Wiedergeburt“ verwendet.

Wenn in einer kambodschanischen Familie ein Todesfall zu beklagen ist, wird die Leiche normalerweise mit warmem und kaltem Wasser gereinigt, angekleidet, in einen Sarg gelegt und entweder drei (moderne Version) oder sieben (traditionelle Version) Tage im Haus aufgebahrt. Eine Entnahme von Organen oder ein Öffnen des Körpers ist nicht vorgesehen, da das einen schlechten Einfluss auf den neuen Lebenszyklus. Beim Sterbeprozess ist die Anwesenheit eines Mönches von großer Wichtigkeit, da man der Meinung ist, dass er eine beruhigende Wirkung auf den verstorbenen Menschen ausübt und so leichter den Übergang von einem Lebenszyklus zum nächsten geschafft wird. Die „Seele“ befindet sich nach dem Verlassen des Körpers nämlich in einem Zustand der Angst und der Verwirrung. Abschluss der Feierlichkeiten ist die Überführung der Leiche in einen Tempel. Dort wird die Leiche üblicherweise verbrannt, hat der Tote andersgehende Wünsche geäußert, werden diese erfüllt. Im Anschluss daran werden die sterblichen Überreste in einem Grab oder in einem Stupa beigesetzt. Das Verbrennen erlaubt der „Seele“, sich endgültig vom Körper zu lösen.

Alle Familienmitglieder tragen während der siebentägigen Intensivtrauer­phase weiße Kleider, und zumindest dem ältesten Nachkommen der verstorbenen Person werden die Haare geschoren. Im Anschluss daran werden wieder Alltagskleider getragen, man befestigt als Ausdruck der Trauer aber noch für einige Zeit ein schwarzes Band am Arm.

Pchum Ben, ein 15-tägige Fest im September oder Oktober, soll den „Seelen“ mit einem schlechten Karma helfen, schnell den nächsten Zyklus des Lebens zu beginnen. Diesen „armen Seelen“ wird einmal pro Jahr für eben 15 Tage erlaubt, nach ihren lebenden Angehörigen zu suchen oder in der Meditation und Reue ihre Erlösung zu finden. Die Lebenden unterstützen diese Bemühungen durch Tempelbesuche und Opfergaben.

Da war einmal ein Bauernpaar – ein Bauer und seine Bauersfrau eben. Sie lebten in Toul Sbaov, was heute ein Teil der Stadt Kampong Cham ist. Und was machte dieses Bauernpaar den langen lieben Tag? Sie kümmerten sich vor allem um ihr drei Monate altes Baby. Und wenn dann noch ein wenig Zeit blieb, dann gingen sie hinaus und pflügten ihre Reisfelder, wie sich das eben für gute Bauern gehörte. Jetzt ist es aber gar nicht leicht, das Pflügen, wenn man dabei ein Baby mit hat. Gar nicht leicht. Und so legten sie eben das kleine Ding unter einen fruchtbehangenen Baum, um doch ein bisschen besser pflügen zu können. Jetzt war aber dieser Baum ob seiner Früchte auch bei den lokalen Vögeln sehr beliebt, die zwitscherten und pfiffen und krächzten, dass es eine wahre Freude war. Sie hackten auf den Früchten herum, attackierten und verscheuchten sich gegenseitig… und ließen bei all diesem Fressen und Singen und Raufen auch so manches Häufchen fallen, von denen einige dann doch auf unserem unbewachten Baby landeten. Und nicht nur dass, auch eine überreife Frucht folgte dem Gesetz der Gravitation und schlug dem kleinen Kinderl eine doch recht saftige Fleischwunde. Woraufhin das junge Blut in einem dicken dunkelroten Strom aus dem Körper rann

Die Bauersleute nahmen nach getaner Arbeit ihr beschmutztes und blutendes Kind und trugen es zum Steg am Wasser, um es dort zu säubern. Und da passierte es. Die Mama war nach dem langen Tag auf dem Feld unter der heißen, sengenden Sonne wohl schon etwas müde und mit dem Kopf vielleicht schon zu Hause beim abend­lichen Essen oder sonst wo. Auf jeden Fall rutschte ihr das Baby aus den Händen und fiel in das Flusswasser. Und noch bevor die geschockte Mutter, jetzt hellwach, erneut nach ihrem Liebsten greifen konnte, hatten es die Wässer des Flusses schon mit sich gerissen. Und als ob das noch nicht genug wäre, kam in diesem Moment auch noch ein großer Fisch aus dem braunen Wasser geschossen, riss sein großes Maul auf… und verschluckte das Baby mit einem Satz. Sein riesiger Körper fiel zurück ins Wasser, teilte es in der Mitte, jagte so zwei Wellen auf die beiden Ufer zu… und war verschwunden! Die Mutter schrie einmal laut auf, der Vater starrte ungläubig-schweigsam auf die glitzernde Oberfläche, doch was geschehen war, war geschehen und konnte nicht ungeschehen gemacht werden. Sie nahmen sich in den Arm – obwohl Männer und Frauen in Kambodscha das in der Öffentlichkeit nie machen – und humpelten so, aufeinander gestützt ihrem Heim zu, das plötzlich sehr leer und sehr kalt für sie geworden war.

Der Fisch hingegen, nachdem er diesen mächtigen Satz getan und das Kind verschluckt hatte, schlängelte sich ungefangen durch den Mekong und endete schlussendlich im Südchinesischen Meer. Hier war aber die Reise für ihn zu Ende, denn er verfing sich in den Netzen eines chinesischen Fischers, der ob der Größe des Fangs mehr als erfreut war. Wie groß war aber sein Erstaunen, als er den Fisch ausnehmen wollte und zu diesem Zweck dessen Bauch vom Kopf bis zum Schwanz aufschnitt und den Fisch öffnete. Denn in der Bauchhöhle saß gesund, munter und quietschfidel unser kleines Baby, das dem alten Fischer sein schönstes Lächeln schenkte.

Gesehen und geglaubt, schnappte der Seemann das kleine Bündel und lief damit schnurstracks zum Kaiser von China, um ihm diese Geschichte brühwarm zu erzählen… denn der Kaiser liebte gute Geschichten und ließ sich eigentlich nie lumpen, wenn es ans Bezahlen für solche Geschichten ging.

Und man höre und staune, aber der König war ergriffen und kümmerte sich ab sofort rührend um das Kind, fast so, als wäre es einer seiner eigenen Söhne. Als das Kind größer wurde, ließ er es sogar auf seine Kosten studieren und ihm eine höhere Bildung zukommen.

Eines Tages war es aber so weit, und der gut ausgebildete Jüngling fragte seinen Ziehvater, den König von China, ob es denn nicht möglich wäre, seiner Heimat Kambodscha einen kurzen Besuch abzustatten und so nebenbei auch nach dem Verbleib seiner Eltern zu forschen.

Der Kaiser von China gab gnädig-erfreut seine Zustimmung und sorgte so nebenbei auch noch dafür, dass diese Reise in den Süden eine standesgemäße wurde. Fünfhundert Diener mussten den einsamen Reisenden auf der Suche nach seiner Vergangenheit und seinen Wurzeln begleiten.

Mittels hochseegängiger Schiffe folgte man den Spuren des Riesenfisches in umgekehrter Reihenfolge über das Südchinesische Meer und den Mekong, bis man im Hafen von Kampong Cham vor Anker ging. Der junge Mann sprang von Bord, winkte seinen Reisebegleitern noch ein letztes Mal zu und befahl die Rückkehr des Bootes nach China! Tja, damit hatte niemand gerechnet.

Unser Held aus dem Fischbauch nannte sich nun Chao Prom und quartierte sich bei einer nicht mehr ganz so jungen Witwe ein. Und es kam, wie es kommen musste. Das junge und das ältere Blut gerieten in Wallung, die beiden verliebten sich ineinander und man lebte als Mann und Frau zusammen.

Eines Tages, als der frischgebackene Ehemann sich gerade im Schoße seiner erfahrenen Ehefrau vergnügte, da strich sie ihm zärtlich durch sein festes, schwarzes Haar. Dabei spürte sie eine kleine Narbe auf seiner Kopfhaut. Neugierig fragte sie Chao Prom nach der Herkunft und der Ursache der Verletzung. Dieser konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken, da er schmerzlich an seine verlorene Kindheit und an seine abhanden gekommenen Eltern erinnert wurde. Dann erzählte er seiner Frau sein Unglück und seine ganze Lebensgeschichte mit dem Fisch, dem Fischer und dem Kaiser von China. Und er fühlte sich im Anschluss richtig erleichtert, endlich jemandem zum Reden gefunden zu haben, der ihm zuhörte.

Seine Frau wurde aber im Verlaufe der Erzählung immer weißer im Gesicht und brach schlussendlich in ein heftiges Weinen aus, das sich Chao Prom nicht wirklich erklären konnte. Sollte er eine so mitfühlende Frau gefunden haben? Eine, die sich fremdes Schicksal mehr zu Herzen nahm als eigenes Leid?

Und nun begann unter Schluchzen die Frau zu erzählen. Von den Arbeiten auf dem Reisfeld, von den Vögeln und vom Waschen ihres Kindes am Fluss. Und natürlich auch davon, dass es ihr vor Müdigkeit aus der Hand und ins reißende Wasser geglitten sei, wo es ein großer Fisch auf Nimmerwiedersehen mit sich fortgetragen hatte.

Und dann erzählte sie dem mit großen Augen zuhörenden Chao Prom auch noch davon, dass ihr Mann diesen Schicksalsschlag nie wirklich verarbeiten konnte und kurz nach dem vermeintlichen Tod seines Sohnes diesem ins Totenreich nachgefolgt war… und sie als Witwe zurückließ.

Und als die Frau ihre Erzählung beendet hatte, da war beiden klar, dass sie nicht nur Ehemann und Ehefrau, sondern auch Mutter und Sohn waren.

Nun war guter Rat teuer. Chao Prom bat seine Mutterfrau auf den Knien, dass sie ihn bestrafen möge, denn er fürchtete sich vor dem Leiden, das er im nächsten Leben dafür erdulden werden müsse.

Seine Mutter befahl ihm daraufhin, nach ihrem Tod einen Stupa zu konstruieren, um darin ihre Asche aufzubewahren. Und vor dem Stupa sollte eine Statue in Gebetshaltung stehen.

Herr Chao Prom mit seiner exzellenten Ausbildung wurde als Dorflehrer ein sehr wertvolles Mitglied der Gesellschaft, und als seine Mutter starb, begann er mit Hilfe seiner Schüler den Stupa und die Gebetsstatue zu errichten, wo die Asche seiner Mutter ihre letzte Ruhe fand.

Mythen, Märchen und Legenden aus Kambodscha

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