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I.

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Das Haus von Lord Linham, am Ende der Brook Street im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair gelegen, erstrahlte in festlichem Glanz. Eine Kutsche nach der anderen fuhr vor; ihnen entstiegen Damen in eleganten Roben, tief dekolletiert, die Taille enggeschnürt, begleitet von Herren in noblem Frack und Zylinder.

Im Inneren des Hauses herrschte lebhaftes Treiben. Obwohl es erst Ende April und somit noch früh in der Saison war, versprach der Ball, der zu Ehren des Debüts von Miss Julie Linham gegeben wurde, ein voller Erfolg zu werden. Wochenlang war emsig für dieses Ereignis gearbeitet worden. Lady Linham hatte zahlreiche zusätzliche Arbeitskräfte eingestellt, und auch die eigene Dienerschaft war in unermüdlichem Einsatz gestanden.

Der Aufwand hatte sich gelohnt: die Kristallüster an den Decken des Ballsaales funkelten im Schein zahlloser Kerzen. Die Spiegel in schweren Goldrahmen, die eigens für diesen Anlaß an den Längsseiten des Saales angebracht worden waren, warfen das Licht tausendfach zurück. Üppige Blumenbouquets, in den Lieblingsfarben von Mylady – Weiß und Rosé – gehalten, tauchten den Raum in ein Blütenmeer und bildeten mit den neuerworbenen Vorhängen aus schwerer altrosa Seide eine harmonische Einheit. In den angrenzenden Räumen waren Sitzgelegenheiten aufgestellt worden, und Spieltische in der Bibliothek (die der Herr des Hauses nur mit äußerstem Widerwillen zur Verfügung gestellt hatte) garantierten, daß sich auch Tanzunwillige gut unterhalten konnten.

Lady Heather Linham, eine korpulente Dame Mitte fünfzig, stand, in eine voluminöse Kreation aus dunkelrosa Krepp gehüllt, zusammen mit ihren beiden ältesten Kindern am Fuße der Treppe, die in den Ballsaal hinabführte, um die ankommenden Gäste zu begrüßen. Die Debütantin war eine junge Dame von siebzehn Jahren. Blonde Haare, die mit Hilfe eines heißen Eisens zu festen Locken gedreht worden waren, umrahmten ihr blasses Gesicht. Rote Flecken auf den Wangen verrieten die Aufregung, die Miss Julie Linham angesichts ihres ersten großen Auftretens in der Gesellschaft erfaßt hatte. Davon abgesehen sah sie jedoch reizend aus. Da sie zudem eine stattliche Mitgift zu erwarten hatte, zweifelte niemand daran, daß es an Bewerbern um ihr Herz und möglicherweise für den Ehestand nicht mangeln würde.

Ein paar Schritte hinter der in zartes Rosa gekleideten Miss Linham stand ihr Bruder, Lord Charles Linham, der Hausherr. Er war neun Jahre älter als seine Schwester und hatte bereits vier Jahre zuvor das Erbe seines Vaters angetreten. Vielleicht war es der Umstand, daß er in so frühen Jahren – er war kaum großjährig geworden – die Verantwortung für seine Mutter, die drei jüngeren Geschwister und ausgedehnte Besitzungen hatte übernehmen müssen, der ihn früh hatte erwachsen werden lassen. Lord Linham wirkte älter als seine sechsundzwanzig Jahre. Er war ein gesetzter Mann, der wie seine Mutter etwas zur Korpulenz neigte. Seine sportlichen Ambitionen waren gering. Denn wenn er auch ein leidlich guter Schütze war, selbstverständlich sein eigenes Gespann lenkte und sogar ab und zu in Jackson’s Boxclub gesehen wurde, so geschah dies weniger, um besondere Fertigkeiten in einer dieser Sportarten zu erwerben, oder aus Neigung, sondern allein um den gesellschaftlichen Konventionen Genüge zu tun. Er war nie nach der neuesten Mode gekleidet und verachtete die Eitelkeit der tonangebenden Dandys aus tiefster Überzeugung.

Seine einzige Leidenschaft gehörte der Medizin. Er widmete seine Freizeit dem Studium heilkundiger Schriften, war über alle Leiden seiner Mitmenschen bestens informiert, konnte Krankheiten und Todesursachen vieler wichtiger Persönlichkeiten aus der Geschichte nennen und scheute sich auch nicht, seiner Umgebung Ratschläge in allen medizinischen Belangen aufzudrängen. Er galt mithin allgemein als ehrbarer junger Mann – aber auch als das, was junge Stutzer wie Mr. George Romsey einen »verdammt aufgeblasenen, langweiligen Kerl« nannten.

In diesem Augenblick konnte Lord Linham nicht seinem Hobby frönen. Die Musikkapelle intonierte soeben den Eröffnungstanz, und ihm oblag es, als erster seine Schwester aufs Parkett zu führen.

Es blieb Lady Linham überlassen, später ankommende Gäste alleine zu begrüßen. Der Tanzsaal war bereits überfüllt. Mylady blickte mit sichtlicher Genugtuung in die Runde. Nichts verdeutlichte den Erfolg eines Ballabends mehr, als wenn die Gäste am nächsten Tag klagten, es sei geradezu unangenehm voll gewesen. Als der Gästestrom abriß, verließ auch sie den Platz am Fuße der Treppe und schwebte auf eine Gruppe von Damen zu, in der sie ihre intimste Freundin Lady Mable Darlington entdeckt hatte.

»Es ist wirklich ein außergewöhnlich gelungener Abend, meine Liebe«, sagte diese sofort, als sie ihre Freundin näher kommen sah. »Ich dachte gerade, wie bedauerlich es ist, daß meine Nichte diesen Ball noch nicht miterleben kann.« Sie wandte sich an die umstehenden Damen: »Ich habe meine Nichte Olivia, die Tochter meiner viel zu früh verstorbenen Schwester, eingeladen, diese Saison bei mir zu verbringen.«

»Ist das nicht das unscheinbare Landkind, das Sie bereits einmal vor Jahren vergeblich unter die Haube bringen wollten, meine Teuerste?« erkundigte sich Mrs. Kirkgate, die wegen ihrer bissigen Bemerkungen ebenso bekannt wie gefürchtet war.

Lady Darlington errötete leicht: »Olivia ist keineswegs unscheinbar«, beeilte sie sich mit Nachdruck zu versichern. »Sie ist eine äußerst attraktive junge Dame.«

Da sie selbst ihre Nichte seit sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte, konnte sie nur hoffen, daß die Behauptung auch den Tatsachen entsprach.

»Ihre Tochter ist ein einnehmendes, kleines Ding«, wechselte Lady Sefton das Thema, an ihre Gastgeberin gerichtet, »ich bin sicher, sie wird eine glänzende Partie machen.«

»Bei dieser Mitgift dürfte das kaum zu verhindern sein«, setzte Mrs. Kirkgate hinzu.

Es blieb Lady Linham erspart, nach einer passenden Antwort zu suchen, denn in diesem Augenblick kündigte der Butler das Eintreffen eines weiteren Besuchers an. Da es bereits nach elf Uhr war, hatte er seinen Posten am Eingang des Saales verlassen, um die Lakaien beim Einschenken der Getränke zu beaufsichtigen. Als er den späten Gast erkannte, eilte er umgehend zur Türe des Ballsaales zurück. »Seine Gnaden, der Herzog von Wellbrooks!« verkündete er mit eindrucksvoller Stimme.

Erwartungsvolle Ruhe senkte sich über den Saal, als seien sämtliche Gespräche mit einem Male verstummt. Alle blickten gespannt die Treppe empor. Lady Linham wandte sich um, ein Triumphgefühl leuchtete in ihren Augen. Er war doch noch gekommen! Fast hätte sie die Hoffnung schon aufgegeben. Erst die Tatsache, daß Seine Gnaden unter ihren Gästen weilte, machte den Abend zu einem beneidenswerten Erfolg. Wellbrooks gehörte zu den besten Kreisen, er war in vieler Hinsicht tonangebend, einer der begehrtesten Junggesellen Londons. Natürlich, er war Lady Linhams Neffe. Und doch hatte sie nicht damit rechnen dürfen, daß seine verwandtschaftlichen Gefühle so weit gehen könnten, den Ball seiner Cousine zu besuchen. Er mied für gewöhnlich alle Veranstaltungen, die zu Ehren von Debütantinnen stattfanden. Nicht einmal Miss Morgans Ball, der letzte Woche gegeben wurde, hatte er mit seiner Anwesenheit beehrt. Und dabei galt Miss Morgan als die hübscheste Debütantin dieser Saison. Aber zu Julies Ball war er gekommen!

Nun stand der Herzog auf der obersten Stufe der Treppe und ließ seinen Blick langsam über die anwesenden Gäste schweifen. Nichts als unverhohlene Langeweile spiegelte sich auf seinem Gesicht. Das Aufsehen, das sein Erscheinen erregte, konnte ihm unmöglich entgangen sein. Und doch war er es viel zu gewöhnt, um sich etwas anmerken zu lassen. Seit seinem ersten Erscheinen in der Öffentlichkeit hatte man ihn umschmeichelt und hofiert. Stets hatte man ihm das Gefühl gegeben, etwas Besonderes zu sein. Ein seltenes Schmuckstück, das jeder gerne für seine Familie gewinnen wollte.

Den knapp Zwanzigjährigen hatte das Verhalten der Gesellschaft erschreckt und abgestoßen. Es dauerte nicht lange, da bat er seinen Vater, ihm ein Offizierspatent zu kaufen. England lag bereits seit längerem mit Frankreich im Krieg. Napoleon, der sich 1804 zum Kaiser der Franzosen gekrönt hatte, hatte in beispiellosen Eroberungskriegen einen großen Teil Europas unter seine Herrschaft gebracht und seine zahlreichen Brüder und Schwestern als Könige eingesetzt. Unter dem Oberkommando des Herzogs von Wellington kämpften englische Truppen in Spanien gegen den Feind. Der junge Wellbrooks wollte sich lieber den Strapazen des Krieges aussetzen, um für seine Heimat Siege zu erringen und seine Tapferkeit unter Beweis zu stellen, als in London zu bleiben und sich den Gefechten auf dem Heiratsmarkt auszuliefern. Vor zwei Jahren war sein Vater gestorben, und er war nach London zurückgekehrt, um sein Erbe anzutreten. Die Jagd der heiratsfähigen Mädchen auf ihn hatte nun noch viel vehementer eingesetzt. Wenn er auch mit Einladungen und Gunstbezeugungen überhäuft wurde, so schien ihm das im Gegensatz zu früher nichts mehr auszumachen. Keine der zahllosen Bemühungen der Gesellschaft, ihn zu erfreuen oder zu beeindrucken, konnte seine Unnahbarkeit durchdringen oder seine Langeweile erschüttern.

Lady Linham blickte erwartungsvoll zu ihrem Neffen empor, der gemächlich die Treppe zum Ballsaal hinabschritt. So hatte sie Gelegenheit, seine elegante Erscheinung zu bewundern. Die dunkelblaue Jacke aus feinem Tuch saß wie angegossen. Das Halstuch war auf unnachahmlich individuelle Weise gefaltet. Sein einziger Schmuck war eine goldene Uhrkette, die bereits sein Großvater getragen hatte, und eine Nadel mit einem einkarätigen Brillanten am Halstuch.

Mit ihrem strahlendsten Lächeln begrüßte Lady Linham Wellbrooks, während er sich galant über ihrer Hand verbeugte.

»Willkommen in unserem Hause, Wellbrooks. Wir freuen uns sehr, dich zu sehen. Ich hatte schon befürchtet, du würdest dich gar nicht in der Stadt aufhalten.«

Der Herzog hob überrascht seine rechte Augenbraue: »Was veranlaßte dich zu diesem Gedanken, liebe Tante?« wollte er wissen. »Ich versichere dir, ich habe die letzten Wochen in der Stadt verbracht.«

Wie immer wurde Mylady bei dem arroganten Blick ihres Neffen nervös: »Ich dachte nur«, erwiderte sie mit leichtem Tadel in ihrer Stimme, »deine Großmutter ist bereits vor einer Woche bei uns eingetroffen, um am heutigen Ball teilzunehmen. Alle Verwandten haben ihr einen Besuch abgestattet. Du bist der einzige, der sie noch nicht aufgesucht hat.«

»Dann werde ich mich beeilen, Versäumtes nachzuholen«, antwortete ihr Neffe kühl. Er verbeugte sich leicht und machte sich auf die Suche nach seiner Großmutter.

Er ließ seine Tante mit Zweifeln zurück, ob es wirklich so klug war, ihn an seine Pflichten als Enkel zu erinnern. Sie hätte es bei weitem vorgezogen, wenn er in der kurzen Zeit seiner Anwesenheit – denn sicher würde er den Ball bald wieder verlassen – ihre Tochter zum Tanz geführt hätte. Statt dessen plauderte er nun mit ihrer betagten Mutter in einem der hinteren Zimmer.

Der Herzog wußte, daß er seine Großmutter im grünen Salon finden würde. Das war der Raum, in dem sie sich am liebsten aufhielt, wenn sie bei ihrer Tochter zu Besuch war. Doch es war gar nicht so leicht, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Zahlreiche Eltern ergriffen die Gelegenheit beim Schopf, um ihm ihre Tochter vorzustellen. Eine entfernte Cousine seines verstorbenen Vaters, eine besonders energische Dame, ging sogar so weit, ihn an der Hand zu fassen und diese an ihre Enkelin weiterzureichen. Dazu äußerte sie den unmißverständlichen Befehl, er möge das Mädchen zum Tanz führen. Dem Herzog lag bereits eine seiner scharfen Abfuhren auf der Zunge. Da fiel sein Blick auf das feingeschnittene Gesicht der Debütantin. Große blaue Augen blickten flehend zu ihm empor, und die hübsch geschwungenen Lippen zitterten. So unterdrückte er seinen ersten Impuls, verbeugte sich vor ihr und geleitete das Mädchen auf das Parkett.

Das Aufsehen, das er damit erregte, war enorm. Man fragte sich, wie es kam, daß er gerade dieses Mädchen um einen Tanz gebeten hatte, während er die anderen nicht zur Kenntnis zu nehmen schien. Vielerlei Vermutungen über die Absichten Seiner Gnaden wurden angestellt. Der Herzog konnte nur dankbar sein, daß es eine hübsche junge Dame war, der er zu so unverhoffter Popularität verhalf. Nach dem Tanz brachte er seine Partnerin zu ihrer Duenja zurück. Sofort scharte sich eine große Zahl von Bewunderern um das Mädchen. Ihre Großmutter lächelte zufrieden. Sie hatte ihr Ziel erreicht.

Nun bemerkte der Herzog seinen Freund MacAlister, der gemeinsam mit seinem Schwager an einer Seitenwand des Ballsaales stand und ihn mit amüsiertem Lächeln beobachtete. Er steuerte sofort auf die beiden zu.

»Na, Julian?« fragte MacAlister. »Wir hatten nicht erwartet, dich hier zu sehen. Dabei scheinst du den Abend wirklich zu genießen. Wer war denn die junge Dame, die du mit deiner Aufmerksamkeit ausgezeichnet hast?«

»Ich habe keine Ahnung«, erklärte der Herzog. »Ich werde rasch meiner Großmutter guten Abend sagen und dann diese Stätte ohne weitere Verzögerung verlassen. Mein Leben ist nicht so einfach wie das eure. Ihr steht da, völlig unbehelligt. Keine Hyäne wirft euch ihre heiratsfähige Tochter an den Hals. Ihr ahnt gar nicht, wie gut es euch geht.«

Die beiden Freunde grinsten schadenfroh.

»Diesen Vorzug kannst du leicht genießen«, sagte MacAlister gelassen, »du brauchst nur zu heiraten, Julian. Dann geht es dir so wie uns.«

Der Herzog schnaufte verächtlich und machte sich weiter auf die Suche nach seiner Großmutter.

Er fand die alte Dame, wie er es erwartet hatte, im grünen Salon. Sie saß auf einer kleinen Bank, umringt von einer großen Zahl von Bekannten, und hielt Hof.

Lady Addlethorpe war eine zierliche kleine Lady, die weißen Haare zu adretten Löckchen gedreht. Cremefarbene Spitzen schmückten Kragen und Manschetten ihrer Ballrobe. Sie machte den Eindruck einer Großmutter wie aus dem Bilderbuch. Niemand, der sie nur vom Sehen kannte, hätte bei ihr einen wachen Verstand und eine gefürchtete, scharfe Zunge vermutet. Sie hatte ihrem seligen Gatten drei Töchter geschenkt und glücklicherweise als viertes Kind auch einen Erben geboren. Nun lebte sie zurückgezogen im Dowerhouse von Addlethorpe Park in Sussex. Einmal im Jahr, zur Saison, weilte sie für einige Wochen im Hause ihrer zweitältesten Tochter Lady Linham, die dem Aufenthalt ihrer kritischen Mutter stets mit Bangen entgegensah. Ihre älteste Tochter, die Mutter des Herzogs, die ihrem Herzen am nächsten gestanden hatte, war zu ihrem Leidwesen bereits gestorben. Die jüngste Tochter, Charlotte, war immer noch ledig, obwohl sie die Dreißig bereits vor Jahren überschritten hatte. Sie lebte bei ihrer Mutter als eine Art Gesellschafterin.

Lady Addlethorpe, die sich eben mit einem alten Bekannten unterhielt, sah den Herzog auf sich zukommen. Sie blickte ihm voller Stolz entgegen. Schon immer hatte sie eine Schwäche für gutaussehende Männer gehabt, und nun erschien es ihr überdies, als würde Julian ihrem geliebten seligen Gatten immer ähnlicher werden. Er war großgewachsen, seine breiten Schultern verrieten den Sportler. Die brünetten Haare waren etwas länger, als es die von Beau Brummell kreierte Mode vorsah. Er hatte sie mit lockerem Schwung aus der Stirne gekämmt. Der Blick aus seinen tiefbraunen Augen, der oft so herablassend kühl sein konnte, ruhte nun voller Wärme und Freundlichkeit auf ihr. Er trat näher und beugte sich galant über ihre Hand.

»Großmama, Sie sind wirklich ein Lichtblick«, sagte er und küßte die dargebotene Wange.

»Ihr könnt alle gehen!« wandte sich Mylady an die Umstehenden. »Kein Grund mehr, sich mit einer alten Frau zu unterhalten. Wirklich, geht. Und amüsiert euch gut.«

Als die Bekannten auf solch energische Art vertrieben worden waren, wandte sie sich ihrem Enkel zu und klopfte einladend neben sich auf das Sofa.

»Setz dich und laß deine Entschuldigungen hören. Warum hast du mich nicht schon längst aufgesucht? Ich bin jetzt bereits tagelang in der Stadt, und alle Verwandten haben es der Mühe wert gefunden, mich willkommen zu heißen.«

»Arme Großmama«, bemerkte der Herzog mitfühlend. Er war weit davon entfernt, zerknirscht zu sein. »Haben sie dich sehr angeödet?«

Ihre Ladyschaft ließ ihr tiefes Lachen ertönen: »Du hast wohl wenig Familiensinn, Wellbrooks?« wollte sie wissen.

»Gar keinen«, erwiderte ihr Enkel lächelnd.

Ein Lakai trat näher, um den beiden ein Glas Champagner zu servieren. Diese Unterbrechung nützte eine hagere, große Dame, auf deren schütterem grauem Haar eine mächtige Witwenhaube thronte. Sie hatte im Türrahmen auf eine günstige Gelegenheit gewartet, um Wellbrooks mit ihrer Tochter bekannt zu machen.

»Meine liebe Lady Addlethorpe«, rief sie aus und stürzte, ihre widerstrebende Tochter am Handgelenk gefaßt, auf die ältere Dame zu. »Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie so gegen alle Konventionen anspreche. Aber es ist mir einfach ein Bedürfnis, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich freue, Sie bei so guter Gesundheit zu sehen.«

Lady Addlethorpe neigte huldvoll ihr Haupt und reichte der Dame zwei Finger: »Mrs. Stamperford, wenn ich nicht irre«, sagte sie betont hoheitsvoll. Dabei musterte sie beiläufig die kleine, pummelige Gestalt im hellblauen Rüschenkleid, die halb verdeckt hinter ihrer Mama stand, die Augen sittsam zu Boden gerichtet.

»Ist das eine Ihrer Töchter?« Es klang nicht gerade begeistert.

»Wie freundlich von Mylady, daß Sie sich an mich erinnern. Ja, das ist wirklich meine Tochter. Meine jüngere Tochter Eliza, um genau zu sein.« Sie schob das Mädchen vor Lady Addlethorpe, damit es seinen Knicks machen konnte. »Meine älteste Tochter Abigail hat vor zwei Jahren debütiert. Und sie hat bereits in ihrer ersten Saison geheiratet. Nicht daß ich mich beklage, denn die Ehe ist außerordentlich glücklich. Ich habe bei der Erziehung meiner Mädchen den allergrößten Wert darauf gelegt, daß sie all die Fähigkeiten erlernen, die zur Führung eines großen Haushalts unumgänglich sind. Ja, ja sie geben perfekte Ehefrauen ab, meine Lieblinge. Und doch …«, sie kramte umständlich ein Taschentuch aus ihrem Retikül, um damit die Augenwinkel abzutupfen, »… und doch ist es immer wieder eine Qual für ein Mutterherz, eines ihrer Kinder zu verlieren. Ich hoffe inständig, daß mir meine liebe Eliza noch lange erhalten bleibt.« Die begehrlichen Blicke, die sie dem Herzog zuwarf, straften diese Worte Lügen. Erbittert stellte sie fest, daß Lady Addlethorpe nicht geneigt schien, ihr ihren Enkel vorzustellen.

Sie wußte natürlich, wer der Mann war, der neben der alten Dame saß. Er war schließlich der einzige Grund gewesen, das Gespräch mit Lady Addlethorpe zu suchen. Ein unglückliches Geschick hatte es gewollt, daß sie noch nicht offiziell miteinander bekannt gemacht worden waren. So beschloß sie, ohne lange zu zögern, auch hier die Initiative zu ergreifen: »Und das ist Ihr ältester Enkel, nicht wahr, Mylady? Es freut mich außerordentlich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Euer Gnaden. Mein Sohn ist ein so eifriger Bewunderer Ihrer Kutschierkunst. Und meine Eliza hat gerade unlängst zu mir gesagt: ›Mama‹, sagte sie, ›Seine Gnaden, der Herzog von Wellbrooks, sieht aus wie ein Märchenprinz.‹ Nicht wahr, das sagtest du doch?« Sie schob ihre Tochter, die über und über errötet war, noch weiter nach vorne, damit sie dem Herzog ihre Hand reichen konnte, wobei sie einen tiefen Knicks machte. Seine Gnaden verbeugte sich knapp und wandte sich dann demonstrativ seiner Großmutter zu. Die ungebetene Gesprächspartnerin mußte erkennen, daß die Unterhaltung mit ihr beendet war. Sie erklärte beleidigt, daß sie Ihre Ladyschaft nun nicht mehr länger aufhalten wolle, und zog, Eliza im Schlepptau, von dannen. Das Mädchen folgte ihr nun mit viel größerer Bereitwilligkeit.

»Was für ein vulgäres Weib«, stellte Lady Addlethorpe fest, als die beiden außer Hörweite waren. »Sie hatte Glück, daß sie die Frau von Jack Stamperford ist, den ich schon als kleinen Jungen gekannt habe. Sonst hätte ich ihr eine scharfe Abfuhr erteilt.«

Der Herzog winkte ab: »So sind sie doch alle«, sagte er.

»Was um Himmels willen meinst du damit?« fragte Ihre Ladyschaft erstaunt. »Was soll das heißen, so sind sie alle?«

Sie war ein derart anmaßendes Verhalten, wie es Mrs. Stamperford an den Tag gelegt hatte, ganz und gar nicht gewöhnt.

»Ja, denkst du denn, das sei mir zum ersten Mal passiert? Denkst du, es sei das erste Mal, daß mir eine Mutter mit hochfliegenden Plänen ihre heiratsfähige Tochter geradezu aufdrängt?« fragte der Herzog bitter. »Warum, meinst du wohl, meide ich derartige Veranstaltungen? Kannst du dir vorstellen, wie es ist, eines der begehrtesten Objekte am Heiratsmarkt zu sein? Ich kann es dir sagen: es ist unerträglich!«

Seine Großmutter betrachtete ihn eingehend von der Seite und schwieg geraume Zeit nachdenklich.

»Ich glaube, ich habe eine Idee, wie dir geholfen werden könnte«, sagte sie schließlich.

Bevor sie ihm jedoch ihre Überlegungen darlegen konnte, wurde sie von ihrer Tochter, Lady Linham, unterbrochen. Diese hatte die Furcht ihrer Mutter gegenüber niedergerungen und war gekommen, um den hohen Gast zu entführen.

»So viele Gäste haben bereits nach Wellbrooks gefragt, Mama. Ich kann es nicht zulassen, daß er sich den ganzen Abend im Hinterzimmer vergräbt, um mit dir zu plaudern.«

Der Herzog erhob sich widerstrebend und blickte mit resigniertem Lächeln auf seine Großmutter hinab.

»Statte mir morgen einen Besuch ab, Julian«, sagte diese und schenkte ihrem Enkel ein warmes Lächeln. »Dann können wir alles in Ruhe besprechen. Ich erwarte dich um zehn Uhr.«

Der Herzog beugte sich nieder, um ihre Wange zu küssen.

»Ich werde pünktlich sein«, versprach er.

Dann bot er seiner Tante den Arm und ließ sich von ihr in den Ballsaal zurückführen.

Die Braut des Herzogs

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