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VI.
ОглавлениеMr. Jonathan Bactexter, mit seinem Pferd auf dem Weg nach Bath, fluchte leise vor sich hin, wie das sonst nicht seine Art war. Trotz seiner korrekten, etwas bedächtigen Erscheinung war er ein überraschend schneidiger Reiter. Aber mit dem alten Gaul, den man ihm beim letzten Pferdewechsel gesattelt hatte, gab es kein rasches Vorwärtskommen. Er würde sich zu allem Übel auch noch verspäten und erst knapp vor der Dinnerzeit in Redbridge Manor eintreffen. Die unterschiedlichsten Gefühle kämpften in seiner Brust. Doch alle waren unfreundlich: Empörung darüber, daß er auf eine derart delikate Mission geschickt worden war, während sein Herr nichts Wichtigeres zu tun hatte, als ein Wettrennen zu bestreiten; ohnmächtiger Zorn darüber, daß er nicht den Mut aufgebracht hatte, diese Aufgabe schlichtweg abzulehnen; und so etwas wie Furcht vor dem peinlichen Auftritt, der ihm bevorstand.
»Nie wieder!« zischte er durch seine zusammengebissenen Zähne. »Nie wieder lasse ich mich derart mißbrauchen. Ich werde dem feinen Herzog meine Kündigung überreichen. Jawohl. Sobald ich diese schreckliche Reise hinter mich gebracht habe, werde ich kündigen.« Sollte doch Seine Gnaden sehen, wie er ohne ihn zurechtkam. Es war wirklich eine zu hohe Zumutung, was er da von ihm erwartete. Fast wünschte sich Bactexter, der Herzog würde das Wettrennen verlieren. Und die unbekannte Dame würde ihm einen Korb geben. Das wären die gerechten Strafen für ein derartiges Verhalten. Bactexter seufzte. Er wußte, daß weder das eine noch das andere eintreten würde.
Olivia wanderte unterdessen unruhig im Salon auf und ab. Den Blick auf die kleine Uhr auf dem Kaminaufsatz gerichtet, wurde sie von Minute zu Minute nervöser. Das war ja ein guter Beginn für die kommende Unterredung, wenn der Herzog schon verspätet eintraf! Zweifel überkamen sie, ob es wirklich klug war, darauf zu bestehen, daß sie den Besucher allein empfing. Sie hatte gedacht, sich auf diese Weise ein besseres Bild von ihm machen zu können. Sie wollte ihn nach seinen Motiven für den Heiratsantrag befragen. Und sie wollte seine Vorstellung von ihrer zukünftigen Ehe kennenlernen. Gegen eine Vernunftehe hatte sie nichts einzuwenden: Doch mußten die Einzelheiten dieses Arrangements im vorhinein festgelegt werden, damit es nicht zu unliebsamen Überraschungen kam. Und vor allen Dingen: Falls sich herausstellen sollte, daß sie für ihren Bewerber keinerlei Sympathien aufbringen könnte, wollte sie sich die Freiheit nehmen, den Antrag abzulehnen. Auch auf die sichere Gefahr hin, daß sie niemals einen zweiten derart schmeichelhaften Antrag erhalten würde.
Sie hatte sich vorgenommen, der Unterredung mit Wellbrooks einen geschäftlichen Anstrich zu geben, und dabei hätte sie die Anwesenheit von Papa und Marilla als störend empfunden. Die beiden würden beim Abendessen ausreichend Gelegenheit haben, sich mit ihm zu unterhalten. Marilla kannte den Herzog bereits, das würde das Gespräch bei Tisch auflockern.
Ein weiterer Blick auf die Kaminuhr zeigte, daß sich die Zeiger bereits gegen siebzehn Uhr bewegten. Um achtzehn Uhr würde das Abendessen serviert werden. Er mußte doch wissen, daß man auf dem Lande nicht zu so mondäner Stunde dinierte wie in der Stadt. Oder dachte er etwa, man würde ihm zuliebe von dieser Gewohnheit abgehen? Schließlich war er ein Herzog! Ein Herzog! Noch immer war es unfaßbar, daß gerade ein Herzog um ihre Hand angehalten hatte. Irgendeinen Haken mußte diese Sache haben.
Aus finanziellen Gründen konnte er nicht um sie geworben haben, das stand fest. Es war schließlich bekannt, daß Lord Redbridge, wenn auch nicht gerade verarmt, so doch nicht übermäßig bemittelt war. Über die vorteilhafte Vermählung mit Lady Marilla Sudbury konnte Seine Gnaden nicht informiert sein. Darüber, daß der Herzog seinerseits begütert war, schien es keinen Zweifel zu geben. Wäre Seine Gnaden bejahrt gewesen und hätte dringend einen Erben gebraucht – Olivia hätte seinen Antrag verstanden. Aber nein, er war knapp über dreißig. Ihre Befürchtungen, der Herzog könnte verkrüppelt oder entstellt sein, hatte Marilla lachend beseitigt. Er sei ein schöner Mann, sportlich und hochgewachsen.
Ein gutaussehender Mann, reich und von hohem Adel – warum sollte der gerade um sie anhalten, die sie doch weder schön, noch reich – na ja, zumindest von Adel war sie.
Olivia ging zu dem Spiegel hinüber, der neben der Türe hing, und musterte sich mit kritischem Blick. Vielleicht hätte sie sich von ihrer Schneiderin in Bath doch ein neues, etwas vorteilhafteres Kleid nähen lassen sollen. Aber es war ihr als eine Verschwendung erschienen. Unter Tante Mables Ägide würde sie in London viel hübschere Kleider erstehen, als sie sie in Bath je bekommen hätte. Und auch mit ihren Haaren mußte dringend etwas geschehen. Sie wollte keinen Tag länger mit dieser strengen Frisur herumlaufen.
Die Hufe eines einzelnen Pferdes, die über den Vorhof klapperten, unterbrachen ihre Überlegungen. Sie eilte zum Fenster und sah durch einen Spalt zwischen den Vorhängen ihren Gast aus dem Sattel steigen. Er war ein kleiner, schmächtiger Mann mit Brille, den Reithut tief in die Stirn gezogen.
Das also nennt Marilla schön, großgewachsen und sportlich, dachte sie mit einem kleinen, spöttischen Lächeln. Na, sie hätte ihn nicht so bezeichnet. Ein befreites Lachen entfuhr ihr. Ihr Bräutigam machte einen durchaus menschlichen Eindruck. Das Gespräch würde doch nicht so schwierig verlaufen wie befürchtet. Auch der Umstand, daß er zu Pferd kam, verwunderte und beruhigte sie zugleich. Wahrscheinlich würde ihm sein Diener bald nachfolgen. Sie hatte erwartet, daß der Herzog mit allem gebührenden Pomp auf Redbridge Manor vorfahren würde.
In der Halle näherten sich Schritte, die Türe wurde geöffnet und der Butler erschien, gefolgt von dem unbekannten jungen Mann.
»Mister Jonathan Bactexter, Miss Olivia«, verkündete er.
Olivia war kurze Zeit sprachlos, dann riß sie sich zusammen und ging ihrem Gast entgegen, um ihn willkommen zu heißen.
»Sie werden sich sicher fragen, wer ich bin, Miss Redbridge«, begann Mr. Bactexter, als der Butler die Türe hinter sich geschlossen hatte. Dann stellte er sich als der Sekretär Seiner Gnaden vor und entschuldigte sich für sein verspätetes Erscheinen.
Olivia bat ihn, Platz zu nehmen, und bot ihm eine Erfrischung an.
»Hat Sie Ihr Herr vorausgeschickt, Mr. Bactexter?« wollte sie wissen. »Wann dürfen wir mit dem Erscheinen Seiner Gnaden rechnen?«
Der Sekretär schien deutlich beunruhigt zu sein. »Mein Herr bedauert es außerordentlich, daß er außerstande ist, den vereinbarten Termin einzuhalten, Miss Redbridge«, sagte er. »Wichtige gesellschaftliche Verpflichtungen haben seine Anwesenheit in der Hauptstadt unumgänglich gemacht …«
»Aha«, dachte Olivia bitter, »er bereut seinen voreiligen Antrag bereits und hat nun seinen Bedienten geschickt, damit dieser die Angelegenheit für ihn ausbadet.«
»… und darum hat mich Seine Gnaden mit der eh… ehrenvollen Aufgabe beauftragt, seinen schriftlichen Antrag mündlich, an seiner Stelle sozusagen, zu wiederholen«, hörte Olivia den Sekretär sagen. Bactexter stockte und sah Olivia etwas hilflos an.
»Er schickt Sie, seinen Antrag zu wiederholen?« murmelte sie fassungslos. Nein, das war wirklich zu arg! Was für ein Mensch mußte dieser Herzog wohl sein? Wie gering achtete er sie denn! Nahm er ernsthaft an, es genüge, einen Boten zu schicken, um um ihre Hand anzuhalten? Dachte er, es bestehe keine Notwendigkeit, sich persönlich zu ihr zu bemühen? Oder wollte er doch etwas vor ihr verbergen?
So sehr sie diese sonderbare Angelegenheit auch hätte empören müssen, weckte sie doch vor allem ihre Neugierde. Sie brannte darauf, diesen Wellbrooks kennenzulernen und die Gründe für sein seltsames Verhalten herauszufinden. Was für eine glückliche Fügung, daß sie bereits am nächsten Morgen nach London aufbrach.
Der Sekretär, der auf die entrüsteten Ausrufe seiner Gastgeberin wartete, war darauf gefaßt, daß sie nach ihrem Riechfläschchen griff, daß sie tobte, daß sie nach ihrem Vater verlangte. Wie kam es überhaupt, daß sie ihn alleine empfing? Als nichts Derartiges geschah, wagte er, seinen erstaunten Blick auf ihr Gesicht zu richten.
Sie saß da, schweigend und gedankenverloren, und sagte schließlich mit ruhigem Tonfall: »Gut, Mr. Bactexter, Sie haben also den Antrag Seiner Gnaden wiederholt. Wie soll es nun weitergehen?«
Diese emotionslos vorgebrachte Frage brachte den schwergeprüften Sekretär vollends aus dem Konzept: »Weitergehen?« stammelte er. »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht ganz, Miss Redbridge.«
»Nun«, erklärte Olivia gelassen, »der Herzog hat doch sicherlich bereits Vorstellungen über die weitere Zukunft.«
»Ja natürlich, Miss Redbridge.« Bactexter erinnerte sich an die Anweisungen seines Herrn. »Falls Sie Seiner Gnaden die Ehre erweisen, seinen Antrag anzunehmen …«
»… und darüber hegt dieser Mann sicher keinen Zweifel …«, murmelte Olivia.
»Wie bitte?« fragte der Sekretär beunruhigt.
»Oh, nichts, Mr. Bactexter. Bitte fahren Sie fort.«
»Ja, also, sobald Sie den Antrag angenommen haben, Miss, habe ich die Anweisung, die Verlobung in der Gazette zu veröffentlichen.« Er errötete leicht, als er fortfuhr: »Seine Gnaden ist der Meinung, daß es nicht nötig ist, daß Sie sich den Strapazen aussetzen, die eine Saison in der Hauptstadt mit sich bringt. Er hat daher nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie bis zur Eheschließung weiter in Ihrer gewohnten Umgebung bleiben. Selbstverständlich wird er Sie in Kürze selbst aufsuchen …«
»Das ist doch wahrhaftig großartig!« unterbrach ihn Olivia. »Ich weiß zwar noch immer nicht, was Ihren Herrn dazu veranlaßt hat, mir einen derart ehrenhaften Antrag zu machen, und ich bin sogar durchaus geneigt, ihn anzunehmen. Aber die weiteren Pläne gefallen mir ganz und gar nicht. Seien Sie bitte so freundlich und teilen Sie Seiner Gnaden mit, daß ich meine endgültige Entscheidung erst nach unserem persönlichen Kennenlernen treffen kann. Keinesfalls kann eine Verlobung zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Gazette bekanntgegeben werden. Damit wäre doch jede Möglichkeit genommen, die Verlobung wieder zu lösen, wenn sich bei näherer Bekanntschaft … äh … unüberwindliche Divergenzen zeigen sollten.«
Der Sekretär nickte zu dieser energischen Rede. Was für eine seltsame Frau diese Miss Redbridge doch war. Sein erster Eindruck war gewesen, es mit einer uneleganten alten Jungfer zu tun zu haben, die nie und nimmer zu seinem vornehmen Herrn passen konnte. Doch dann war er fasziniert von ihren blitzenden blauen Augen und von ihrer freien Redensweise. Sie unterhielt sich mit ihm in dieser delikaten Angelegenheit ohne jede Scheu oder Nervosität. Wirklich eine ungewöhnliche Frau.
»Übrigens«, fuhr Olivia nun fort, »da fällt mir etwas ein. Wann gedenken Sie denn nach London zurückzureiten, Mr. Bactexter?«
Der Sekretär erklärte, daß er in einem Gasthof in der Nähe des Gutes übernachten wolle, um am nächsten Tag zeitig am Morgen die Heimreise anzutreten.
Da überraschte ihn Olivia mit der Bitte, ihre Kutsche zu begleiten. »Denn wissen Sie, ich werde nur zusammen mit meiner Zofe unterwegs sein. Papa wäre sicherlich beruhigter, wenn wir männlichen Begleitschutz hätten.«
»Sie fahren nach London?« vergewisserte sich der Sekretär voller Entsetzen. Er wußte, daß das nicht im geringsten den Wünschen seines Herrn entsprach.
»Ja, ich gedenke mich den Strapazen der Saison auszusetzen«, antwortete sie ihm mit seinen eigenen Worten. Das schockierte Gesicht ihres Gegenübers war ihr nicht entgangen. »Meine Tante Lady Darlington war so freundlich, mich zu sich einzuladen«, fügte sie deshalb erklärend hinzu.
In diesem Augenblick ging die Türe auf, und Lord Redbridge betrat den Raum. Er schien bereits darüber informiert zu sein, daß statt des erwarteten Herzogs nur dessen Sekretär gekommen war, denn er begrüßte diesen ohne sichtliche Überraschung.
»Nun?« fragte er und ließ einen prüfenden Blick zwischen seiner Tochter und dem Sekretär hin- und hergleiten.
»Seine Gnaden ist in London gesellschaftlich unabkömmlich«, erzählte ihm Olivia, bevor Bactexter zu einer langwierigen Erklärung ansetzen konnte. »Und er war so freundlich, an seiner Stelle Mr. Bactexter zu schicken, Papa. Da ich morgen ohnehin in die Hauptstadt reise, werde ich Seine Gnaden bald persönlich kennenlernen. Dann werde ich die Möglichkeit haben, meine endgültige Entscheidung zu treffen.«
Seine Lordschaft, daran gewöhnt, die Anschauungen seiner ältesten Tochter zu respektieren, nickte zustimmend und meinte, diese Vorgehensweise erschiene ihm als durchaus vernünftig.
Bactexter betrachtete den Herrn des Hauses ebenso ungläubig, wie er zuvor dessen Tochter betrachtet hatte. Es schien ihm so unglaublich, daß er davonkommen sollte, ohne gescholten zu werden.
»Und übrigens«, fügte Miss Redbridge hinzu. »Mr. Bactexter hat sich bereiterklärt, meine Kutsche bis zu Tante Mables Haus zu begleiten. Es besteht daher keine Notwendigkeit mehr, daß du John Pilgrim mit uns fahren läßt …«
»Du wirst Johns Dienste in London gut gebrauchen können«, widersprach der Vater. »Er hat viele Jahre bei einem Herrn in der Hauptstadt gedient und verfügt über ausgezeichnete Ortskenntnisse. Es besteht kein Grund, warum du auf ihn verzichten sollst. Und bei deiner Tante ist Platz genug für einen Stallburschen. Dennoch danke ich Ihnen, Mr. Bactexter, daß Sie meine Tochter begleiten wollen. Es ist mir eine große Beruhigung.«
Mit diesen Worten hatte er sich dem Sekretär zugewandt, um ihm dankbar die Hand zu schütteln. »Und nun«, setzte er fort, »ist es Zeit für das Abendessen. Sie sind selbstverständlich unser Gast.«
»Zu freundlich«, stammelte Bactexter verlegen, »aber ich bin in Reitkleidung und habe nichts Geeignetes mitgebracht …«
»Das macht doch nichts, mein Junge«, antwortete Seine Lordschaft gutmütig, »wir alle werden beim Dinner auf Abendkleidung verzichten, so müssen Sie sich nicht unwohl fühlen.«
Er läutete nach dem Butler. »Skipton wird Sie in eines der Gästezimmer führen, damit Sie sich frisch machen können. Wir erwarten Sie in einer halben Stunde, wenn es Ihnen recht ist.«
Bactexter blieb nichts anderes übrig, als sich für die Freundlichkeit zu bedanken und dem Butler in die Halle zu folgen.
Nach dem Abendessen, als sich der unerwartete Gast verabschiedet hatte, um sein Quartier in einem der nahe gelegenen Gasthöfe zu beziehen, bat Lady Marilla ihre Stieftochter zu einer Unterredung in ihr Schlafzimmer. Es war dieser aufgefallen, daß ihre Stiefmutter den ganzen Abend ungewöhnlich schweigsam gewesen war. Sie hatte mit zerstreuter Miene am Dinner teilgenommen und nur ab und zu mit einer Bemerkung zum allgemeinen Gespräch beigetragen.
In ihrem Schlafzimmer angekommen, entließ sie als erstes ihre Kammerfrau, die gewartet hatte, um ihr beim Entkleiden zu helfen. Dann bat sie Olivia, auf einem der zierlichen Fauteuils Platz zu nehmen.
»Erscheint dir auch alles sehr seltsam?« fragte diese, als sie der Aufforderung nachkam. »Wichtige gesellschaftliche Verpflichtungen haben ihn in London aufgehalten!« Sie betonte das Wort »wichtig«, um deutlich zu machen, wie sehr sie diese banale Entschuldigung anzweifelte. »Was werden das wohl für Verpflichtungen sein, die ihn davon abhalten konnten, eine derartige Verabredung wahrzunehmen?«
Sie verstummte, als sie bemerkte, daß ihre Stiefmutter händeringend und mit nervösen kleinen Schritten begonnen hatte, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Da ist doch noch etwas anderes, das dich beunruhigt, Marilla, nicht wahr?« fragte sie geradeheraus.
»Ich überlegte nur zum wiederholten Male, was Julian veranlaßt haben könnte, dir diesen Antrag zu machen. Kannst du ihn nicht doch in Bath getroffen haben? Oder anläßlich deines Aufenthalts in London? Vielleicht hat er dich nur ganz kurz gesehen, war verzaubert, konnte dich nicht vergessen und …«
»Unsinn!« rief ihre Stieftochter energisch, wenn auch belustigt dazwischen. »Schluß mit den romantischen Träumereien. Wenn du mich bei meinem Debüt gesehen hättest, dann wüßtest du, was für eine schüchterne, linkische Person ich gewesen bin. Damals habe ich keinen Mann verzaubert. Schon gar nicht einen Herzog von Wellbrooks. Und überdies wären wir uns sicher vorgestellt worden.«
»Vielleicht seid ihr es ja. Damals war er noch nicht Herzog, da sein Vater noch lebte. Er war Sir Julian Romsey«, gab ihre Stiefmutter zu bedenken.
»Trotzdem. Ich kenne ihn nicht. Vermutlich war er damals nicht in der Hauptstadt.« Dann setzte sie interessiert hinzu: »Wie kommt es, daß du den Herzog ›Julian‹ nennst?«
»Oh, sagte ich Julian?« erkundigte sich Marilla verlegen.
»Du kennst ihn besser, als du zugeben willst, nicht wahr?« stellte Olivia fest. »Was ist eigentlich los? Ich kann mir nicht vorstellen, daß es alleine am Antrag des Herzogs liegt, daß du dich heute beim Dinner so schweigsam verhalten hast. Und daß du nun ohne Unterbrechung vor mir auf und ab marschierst.« Sie brach ab und hatte plötzlich einen schrecklichen Verdacht: »Ist er etwa geisteskrank?«
Marilla blieb abrupt stehen, die Augen vor Überraschung weit aufgerissen: »Geisteskrank?« rief sie aus. »Wie um alles in der Welt kommst du denn auf diese abwegige Idee?«
»Ist sie denn wirklich abwegig? Zuerst bekomme ich einen Antrag von einem Gentleman, den ich noch nie gesehen habe, dann erscheint sein Sekretär und läßt seinen Herrn unter fadenscheinigen Vorwänden entschuldigen, und dann versetzt dich, die du als einzige von uns den Herzog persönlich kennst, diese Angelegenheit in besondere Aufregung …« Sie machte eine mutlose Handbewegung. »Weißt du, am liebsten würde ich den Antrag rundweg ablehnen. Du glaubst gar nicht, wie heilsam das für meinen Seelenfrieden wäre. Ich könnte mein gewohnt ruhiges Leben …«
»Ablehnen!« rief Marilla entsetzt. »Die Chance deines Lebens in den Wind schlagen? Nur um hier im Versteckten ein ruhiges, ereignisloses Leben zu führen? Nein, meine Liebe, da habe ich ganz andere Pläne für dich!«
Sie ging auf ihre Stieftochter zu, die mit Verwunderung feststellte, wie lebhaft ihre Stiefmutter mit einem Schlag geworden war.
»Ja, denkst du denn, ein Leben hier auf dem Lande oder Rande der Londoner Gesellschaft wäre auf die Dauer etwas für dich? Wenn du deinen Aufenthalt in der Hauptstadt wirklich genießen willst, dann mußt du Aufsehen erregen! Kein Wort mehr über die Idee, ein ruhiges Leben führen zu wollen. Ich bin sicher, deine Tante wird dich gern zu allen Abendveranstaltungen mitnehmen, die sie besucht. Du wirst zu Bällen eingeladen werden, zu Routs und Dinners, Theatervorstellungen und Opernaufführungen besuchen. Dazu benötigst du natürlich eine neue Garderobe und eine modische Frisur. Du hast faszinierende Augen und ein bezaubernd freimütiges Wesen. Wenn dazu noch durchdringt, daß die begehrteste Partie am Heiratsmarkt, und das ist Wellbrooks nun einmal, auch wenn es dir schwerfällt, das zu glauben, zu deinen Bewunderern zählt, dann …« Sie hielt inne, um nach den richtigen Worten zu suchen, und rief schließlich, die Hände über den Kopf erhoben: »… dann wirst du in der feinen Gesellschaft einschlagen wie ein Blitz!«
Olivia, die dem unerwarteten Eifer ihrer Stiefmutter mit wachsender Belustigung zugehört hatte, kniff nun leicht die Augen zusammen und blickte sie durchdringend an:
»Die Wahrheit, bitte, Marilla«, forderte sie schließlich. »Warum ist es für dich so wichtig, daß ich in der Gesellschaft einschlage wie ein Blitz?«
Lady Redbridge schwieg geraume Zeit und blickte gedankenverloren über den Park, der sich in nächtlicher Stille zu beiden Seiten des weitläufigen Hauses erstreckte.
»Also gut«, sagte sie endlich. »Ich hatte ursprünglich vor, mit dem Herzog persönlich darüber zu sprechen. Doch nun ist er nicht gekommen. So werde ich jetzt dir die ganze Geschichte erzählen und dich um deine Hilfe bitten. Vielleicht ist es sogar besser so.«
Sie begann wieder im Zimmer auf und ab zu gehen und mit fahrigen Gesten nach den richtigen Worten zu suchen.
»Es geht um meinen Sohn«, erklärte sie schließlich.
»Um Harry?« fragte Olivia erstaunt.
Marilla schüttelte den Kopf. »Nein, um meinen älteren Sohn. Um Matthew Laurent. Ja, er heißt wirklich so. Du wirst es nicht glauben.« Leise lachte sie auf. »Mein Mann wollte es so. Er heißt Matthew nach seinem Vater. Dieser Name wird englisch ausgesprochen. Und Laurent wurde er nach seinem französischen Urgroßvater genannt. Die Mutter meines Mannes war Französin«, fügte sie erklärend hinzu. »Sie stammte aus der Nähe von Paris. Darum hat mein Erstgeborener einen englischen und einen französischen Vornamen. Es fiel allerdings nicht sehr ins Gewicht. Jeder nannte ihn seit seinen Kindertagen Mat.«
»Darum also hat Amanda Cookrigde davon gesprochen, daß du zwei Söhne haben müßtest«, sagte Olivia. »Wie alt ist Mat jetzt?«
»Er ist dreißig«, erklärte Marilla. Als sie Olivias überraschten Gesichtsausdruck wahrnahm, setzte sie mit geschmeicheltem Lächeln hinzu: »Ich hoffe wirklich, daß man mir einen derart erwachsenen Sohn nicht ansieht. Du mußt bedenken, daß ich erst siebzehn Jahre alt war, als Mat zur Welt kam. Mein Mann war mehr als zwanzig Jahre älter als ich. Ich habe ihn mit sechzehn geheiratet, als meine erste Saison kaum vorüber war. Für mich war Sudbury der Ersatz für den Vater, den ich nie hatte. Ich habe dir doch erzählt, daß mein Papa kurz vor meiner Geburt starb, nicht wahr? Und mein Gemahl benahm sich auch wie ein Vater zu mir. Er war zwar freundlich und wohlwollend, zugleich jedoch sehr bestimmend. Er ließ keine andere Meinung gelten als seine eigene. Ich habe mich daher eng an meine Söhne angeschlossen. Und ich hatte auch ein gutes Verhältnis zu ihren Freunden, besonders zu Matthews Freunden. Der Altersunterschied zu diesen war ja geringer als zu den meisten Freunden meines Mannes. Mat hatte vor allem zwei Freunde, mit denen er viel unternahm. Sie verbrachten nahezu die gesamte Freizeit zusammen, waren gemeinsam in Eton und Oxford.« Marilla lachte, als sie sich jetzt wieder erinnerte: »Man pflegte sie ›Die großen Drei‹ zu nennen«, fuhr sie fort und wurde gleich wieder ernst:
»Alles ging gut, bis Mat zweiundzwanzig Jahre alt wurde. Mein Gatte hielt große Stücke auf ihn. Er war ein intelligenter junger Mann, sportlich und ehrgeizig. Er sprach Französisch so gut wie seine Muttersprache. Und außer den Dummheiten, die jeder junge Mann macht, gab es nie ernsthafte Probleme. Mit zweiundzwanzig lernte er dann dieses Frauenzimmer kennen.« Sie kniff fest die Lippen aufeinander.
»Eine gewisse Betty Laroche. Weiß Gott, ob die Dame wirklich so hieß. Mat brachte sie eines Tages nach Hause und verkündete stolz, daß er sie zu heiraten gedenke. Du kannst dir vielleicht die Aufregung vorstellen, die diese Ankündigung verursachte. Mein Mann war ein Earl aus einem alten Adelsgeschlecht. Stolz auf seine Herkunft und überaus standesbewußt. Die Vermählung seines Erben mit einer Bürgerlichen hätte er nie in Erwägung gezogen. Und dann war diese Miss Laroche auch noch von äußerst zweifelhaftem Ruf. Wir waren beide entsetzt. Auch ich, die sonst immer zu meinen Söhnen gehalten hatte. Ich hatte die beiden stets vor ihrem gestrengen Vater in Schutz genommen. Doch in diesem Fall konnte ich Mat nicht unterstützen. Ich wußte, daß eine derartige Ehe nur schlimm enden konnte. Diese Frau hätte seine Zukunft zerstört. Mat hatte politische Ambitionen, mußt du wissen. Nein, es war einfach ausgeschlossen, so einer Verbindung zuzustimmen.«
Sie seufzte tief. »Das hat mir mein Sohn nie verziehen. Mein Mann tobte. Er drohte Mat zu enterben, ihm das Haus zu verbieten, wenn er sich nicht von dieser Person lossagte. Ja, und er verlangte von Mat, daß er umgehend um die Hand von Lady Diana Fox anhält, die er als wünschenswerte Braut für seinen Sohn ansah. Es war dieser Wunsch seines Vaters, man kann sagen: dieser Befehl, der das Faß endgültig zum Überlaufen brachte. Vielleicht wäre Mat zur Vernunft gekommen, wenn er Miss Laroche erst einmal näher kennengelernt hätte. Zum damaligen Zeitpunkt kannte er sie erst einige Wochen. Er war verblendet durch ihr gutes Aussehen und wohl auch durch ihr entgegenkommendes Wesen. Er, der den Stolz und die Sturheit seines Vaters geerbt hatte, konnte es nicht über sich bringen, sich dem Willen des Älteren zu beugen. Zudem mochte er Diana Fox nicht. Er sagte, sie sei prüde und kalt und habe ein Gesicht wie ein Karpfen. Sie hat dann später einen Landedelmann geheiratet und lebt in der Nähe von Worthing.«
Marilla seufzte abermals und nahm den ursprünglichen Faden wieder auf: »Mat packte eines Tages seine Sachen und zog aus unserem Hause aus. Beim Weggehen schrie er seinem Vater ins Gesicht, daß er ihm sein hartherziges Verhalten nie verzeihen werde. Und daß er sich nicht mehr als der Sohn und Erbe des Earl of Sudbury fühlte. Er erklärte seine feste Absicht, Betty Laroche umgehend zu ehelichen, und ging fort.« Marilla griff nach ihrem Taschentuch, um die Tränen zu trocknen, die ihr in die Augen getreten waren.
»Aber das ist ja schrecklich!« rief Olivia aus. »So erzähle doch, wie ging die Sache weiter?«
»Die Geschichte ist zu Ende«, entgegnete Marilla unter Tränen. »Mehr kann ich dir nicht berichten. Es ist nun acht Jahre her, seit uns Mat verließ, und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.«
»Nie wieder etwas von ihm gehört?« entfuhr es ihrer Stieftochter. »Aber wo ist Mat jetzt? Wovon lebt er?«
»Ich weiß es nicht, Olivia«, antwortete Marilla traurig. »Er ist wie vom Erdboden verschluckt. Niemand scheint zu wissen, wo er sich aufhält. Niemand kann mir sagen, wovon er lebt. In den ersten Jahren haben wir nicht nach ihm gesucht. Mein Mann war unnachgiebig geblieben. Und ich wiegte mich in der Hoffnung, daß mein Sohn eines Tages von sich aus ein Lebenszeichen geben würde. Für meinen Mann war Mat gestorben. Keiner durfte seinen Namen in seiner Gegenwart erwähnen. Ich weiß, daß dir dieses Verhalten für einen Vater unnatürlich streng erscheinen muß. Aber so war nun einmal seine Wesensart. Als er starb, versuchte ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln, Mat zu finden. Aber es war aussichtslos. Einmal schnappte ich ein Gerücht auf, er sei mit seiner Frau ins Ausland gegangen. Aber Näheres wußte niemand. Ich vermute, daß er sich wirklich nicht in England aufhält. Sonst hätte er doch vom Tod seines Vaters erfahren und sein Erbe angetreten. Er hat sich jedoch nie gemeldet. Ach, Olivia«, sagte Marilla unter Aufschluchzen, »manchmal bin ich verzweifelt.«
Sie griff wieder nach ihrem Taschentuch. »Zur Zeit kümmern sich zwei Verwalter um das Erbe. Darum ist es auch nötig, daß ich von Zeit zu Zeit die Häuser besuche, um nach dem Rechten zu sehen.«
»Und ich habe gedacht, Harry sei der Erbe. Und die Güter würden so lange für ihn verwaltet, bis er den Abschied aus der Armee nähme«, warf Olivia ein.
Marilla schüttelte den Kopf: »Nein, glücklicherweise konnte ich Sudbury dazu bringen, Mat nicht zu enterben, wie er es angedroht hatte. Harry hat von seinem Paten einen kleinen Landsitz in Sussex geerbt. Dort kann er einmal wohnen, wenn er der Armee den Rücken kehrt. Aber das wird leider noch einige Zeit auf sich warten lassen, wenn man die Zustände bedenkt, die zur Zeit auf dem Kontinent herrschen.«
»Was ist mit Mats Freunden, von denen du gesprochen hast?« Olivia lenkte das Gespräch wieder zum eigentlichen Thema zurück. »Vielleicht können die beiden dir weiterhelfen.«
»Zu ihnen führte mich mein erster Weg. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß Mat auch aus ihrem Leben verschwunden sein sollte. Sie waren beide überaus höflich zu mir. Doch sie erklärten, sie wissen nicht, wo sich mein Sohn aufhalte. Ich vermute allerdings, daß sie es sehr wohl wissen. Sicher haben sie von Mat die dringende Aufforderung erhalten, mir nichts zu verraten. Ich klammere mich einfach an die Hoffnung, daß die beiden über Mat Bescheid wissen. Daraus schöpfe ich Zuversicht, daß er noch am Leben ist und daß es ihm gutgeht. Denn seine Freunde würden es doch nicht zulassen, daß er in einer ausweglosen Lage leben muß. Und sie hätten mir doch mitgeteilt, wenn ihm etwas zugestoßen wäre, nicht wahr?« Marilla schluchzte und vergrub ihr Gesicht im Taschentuch.
»Aber natürlich hätten sie das«, sagte Olivia sanft und legte ihrer Stiefmutter beruhigend die Hand auf die Schulter. »Ich bin sicher, daß deinem Sohn nichts passiert ist. Schließlich war er doch bereits ein erwachsener Mann, als er fortging. Sicher ist er in der Lage, die Schwierigkeiten zu meistern, in die er sich selbst gebracht hat. Aber nun sag, wer sind die beiden Freunde? Kenne ich sie?«
»Der eine ist Andrew Mattley, der nunmehrige Earl of MacAlister«, erklärte Marilla, »und der zweite ist Julian Romsey, der Herzog von Wellbrooks.«
»Nein!« rief Olivia aus. »Tatsächlich?« Und dann kam ihr ein Verdacht: »Du steckst doch nicht etwa hinter dem Antrag des Herzogs, nicht wahr, Marilla?«
»Um Gottes willen!« wies Marilla dieses Ansinnen von sich. »Ich habe Julian seit gut zwei Jahren nicht mehr gesprochen. Nein, glaube mir, ich habe wirklich keine Ahnung, warum er um dich angehalten hat. Aber es wäre gelogen, wenn ich diesen Antrag nicht für einen Wink des Schicksals ansehen würde.«
»Für einen Wink des Schicksals?« wiederholte Olivia verständnislos. »Aber warum denn?«
»Olivia, du mußt mir helfen.« Marilla umfaßte leidenschaftlich ihre Handgelenke. »Gehe nach London und bringe in Erfahrung, wo sich mein Sohn aufhält. Ob es ihm gutgeht oder ob er Hilfe braucht.«
Olivia blickte sie entgeistert an: »Wie stellst du dir das vor?« fragte sie ziemlich hilflos. »Natürlich würde ich dir gerne helfen. Doch wie könnte ich das anstellen? Ich kann kaum die ganze Stadt nach einem Mann absuchen, den ich noch nie gesehen habe, nicht wahr?«
»Natürlich nicht«, entgegnete ihre Stiefmutter ungeduldig. »Der einzig mögliche Weg, etwas herauszufinden, führt über Mats Freunde. Mir wollten sie keine Auskunft geben. Vermutlich können sie mir aus Solidarität zu Matthew mein Verhalten ebensowenig verzeihen, wie dies mein Sohn kann. Doch wenn Wellbrooks auch mir gegenüber verschlossen blieb, seine Frau, oder auch seine Verlobte, müßte Mittel und Wege finden, das Nötige in Erfahrung zu bringen.«
Olivia erwog diesen Gedanken: »Ja, das scheint mir möglich«, gab sie zu. »Doch der Herzog hat ohnehin bereits um meine Hand angehalten. Warum ist es dann noch nötig, daß ich ›wie ein Blitz in der Gesellschaft einschlage‹, wie du es ausgedrückt hast?«
»Aber natürlich ist es nötig!« rief Marilla und vermittelte den Eindruck, als hätte sie am liebsten mit dem Fuß aufgestampft über so viel Unverstand. Ihre Niedergeschlagenheit war wie weggeblasen. Ihr Temperament hatte auf Grund der erfreulichen Pläne, die sie für ihre Stieftochter hegte, wieder die Oberhand gewonnen.
»Denkst du denn, ein Mann gibt einer Frau auch nur irgendein Geheimnis preis, wenn er sie allein aus Vemunftgründen geheiratet hat? Nein. Er muß von dir fasziniert sein, nur dann wird er uns weiterhelfen. Es ist doch nichts Neues, daß Männer einer schönen Frau jeden Wunsch erfüllen, nicht wahr? Also wirst du eine schöne Frau sein, Olivia.«
Sie trat an ihre Stieftochter heran, um ihr beide Hände auf die Schultern zu legen und ihr ermunternd zuzulächeln: »Ich möchte dir deshalb einen Handel vorschlagen. Du wirst für deine Saison eine neue Ausstattung brauchen: etliche Tageskleider aus feinem Musselin, Abendkleider aus Atlas, Seide und Krepp, Hüte, Handschuhe, Spitzenunterwäsche, passende Schuhe und all die anderen Kleinigkeiten, ohne die eine Dame der ersten Gesellschaft einfach nicht auskommt: Retiküls, Schirmchen, Bänder, Fächer … Meine Liebe, laß das alles mein Anteil an unserer Abmachung sein.«
»Dein Anteil?« wiederholte Olivia und wollte ihren Ohren nicht trauen. »Aber ich hatte vor, mir ein paar Kleider von dem Geld zu kaufen, das mir Mama hinterlassen hat«, wandte sie ein.
Marilla tätschelte freundlich ihre Hand: »Dieses Geld wirst du notwendig für die laufenden Ausgaben benötigen«, erklärte sie weise. »Du wirst Trinkgelder geben müssen, die Droschken bezahlen. Du wirst, wie ich dich kenne, bei Hatchard unzählige Bücher bestellen. Obwohl du kaum Zeit zum Lesen haben wirst, wenn man die Hektik bedenkt, die während der Saison in London herrscht. Na, und dann gibt es noch viel Verlockendes in den Schaufenstern. Ganz zu schweigen von dem Geld, das du am Spieltisch brauchen wirst. Ich möchte dich keineswegs zum Besuch von Spielhöllen verleiten. Doch ab und zu kann ein Abend am Spieltisch in gepflegter Runde sehr amüsant sein. Glaube mir, du wirst überrascht sein, wieviel Geld du brauchen wirst und wie schnell es ausgegeben ist. Darum, laß mich bitte für deine Garderobe aufkommen.«
»Du willst tatsächlich meine gesamte Garderobe bezahlen?« vergewisserte sich Olivia. »Warum solltest du das tun? Um dich meiner Hilfe zu versichern, ist es doch nicht nötig, daß du ein Vermögen ausgibst.«
»Aber das weiß ich doch, meine Liebe«, sagte Marilla erfreut. »Doch es soll nicht nur mein Dank für deine Bemühungen sein, etwas über meinen Sohn in Erfahrung zu bringen. Es macht mir Freude, dich auszustatten. Ich hatte nie eine eigene Tochter. Und, um ehrlich zu sein, ich war bisher immer damit zufrieden, zwei prachtvolle Söhne zu haben. Aber glaube mir, wenn ich eine Tochter gehabt hätte, hätte ich mir gewünscht, sie wäre wie du.«
Sie schenkte Olivia ein warmes Lächeln. »Und darum möchte ich dir gern eine Freude machen. Auch dafür, daß du in all den Jahren nicht an dich gedacht hast, sondern ganz selbstverständlich dieses Haus geführt hast. Ich weiß, daß es nicht immer leicht für dich gewesen sein kann, deinen Geschwistern eine zweite Mutter zu sein. Und doch ist es dir perfekt gelungen. Du hast das Haus und die Gärten in bestem Zustand gehalten, was, und da möchte ich ganz ehrlich sein, bei den finanziellen Mitteln, die dir zur Verfügung standen, an ein wahres Wunder grenzt. Du hast deinen Vater unterstützt, du …«
»Nun reicht es aber!« rief Olivia lachend, aber doch gerührt. »Lobe mich bloß nicht zu viel, sonst werde ich noch eingebildet auf alle meine guten Taten.«
»Du nimmst mein Angebot also an«, stellte Marilla zufrieden fest.
Olivia wurde sofort wieder ernst: »Ja, gerne, Marilla. Aber nur, wenn ich wirklich etwas für dich tun kann. Ich bin mir noch nicht im klaren, wie ich es angehen soll, etwas über Mats Aufenthaltsort zu erfahren.«
»Das weiß ich auch nicht genau«, gab ihre Stiefmutter zu. »Aber ich bin sicher, wenn du erst einmal mit Wellbrooks bekannt bist, wird dir schon etwas einfallen«, meinte sie zuversichtlich. »Wichtig ist lediglich, daß der Herzog nicht ahnt, daß ich hinter deinem Interesse an Mat stecke. Wenn er davon erfährt, ist es aussichtslos, daß du etwas herausfindest. Wie ich dir schon sagte, dürfte ihm Mat strengstes Stillschweigen auferlegt haben. Wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen, das dein Interesse an meinem Sohn rechtfertigt.«
Sie nahm die Wanderschaft im Zimmer wieder auf. »Ich hab’s!« rief sie nach einer Weile und ihre Augen leuchteten: »Du warst doch in dieser Schule. In dem Institut für höhere Töchter in Bath?«
»Du meinst das Institut von Mrs. Clifford?« fragte Olivia gespannt.
»Richtig. Wie wäre es, wenn wir sagten, Betty Laroche habe auch diese Schule besucht? Kein Mensch wird wissen, daß das nicht stimmt. Ich bin sicher, auch Wellbrooks ist nicht näher mit dieser Miss Laroche bekannt.« Mit dramatischer Geste hob sie ihre Hände gegen den Himmel: »Wenn ich bedenke, daß diese Miss Laroche in Wahrheit nun Lady Sudbury ist, dann … nein, ich darf einfach nicht daran denken! Für mich wird sie immer Miss Laroche bleiben.«
»Du meinst, ich soll Wellbrooks erzählen, daß ich mit dieser Dame im Internat war?« wollte Olivia wissen.
»Das ist doch eine gute Idee, nicht wahr? Erzähle ihm, sie sei deine Freundin gewesen. Doch leider hast du sie aus den Augen verloren. Und nun würdest du gerne ihre Adresse wissen. Und da jedermann weiß, daß er ein Freund von Lord Sudbury ist, wird er es nicht bemerkenswert finden, wenn du nach dem Verbleib der beiden fragst.«
»Ich werde meinen guten Ruf verlieren, wenn ich bekenne, daß ich eine Freundin einer verruchten Frau bin«, stöhnte Olivia theatralisch. »Aber im Ernst, meinst du, das würde klappen? Schon alleine der Gedanke, daß ein Mädchen wie Betty Laroche im Institut von Mrs. Clifford gewesen sein soll, ist absurd. Der Herzog wird Verdacht schöpfen.«
»Denkst du, Wellbrooks kennt das Institut von Mrs. Clifford?« tat Marilla diesen Einwand ab. »Außerdem kann er diese Laroche kaum kennen. Mat kannte sie selbst kaum, als er beschloß, sie zu heiraten. Und dann scheinen die beiden England unmittelbar nach dem Streit mit meinem Mann verlassen zu haben.«
Olivia war noch nicht vollständig überzeugt. »Wenn du meinst«, sagte sie dennoch. »Ich werde mich als die Freundin von Miss Laroche ausgeben. Du darfst nicht vergessen, mir alles über sie zu erzählen, was du weißt.«
Marilla strahlte: »Ich bin dir ja so dankbar, daß du mir helfen willst«, sagte sie. »Und du versprichst mir, keiner Menschenseele davon zu erzählen, daß du dich in meinem Auftrag nach Mat erkundigst?«
Olivia versprach es.
»Auch deiner Tante gegenüber nicht, meine Liebe. So liebenswert sie auch sein mag, so kann ich mir doch nicht vorstellen, daß sie unser Geheimnis für sich behalten mag und …«
»Auch meiner Tante gegenüber nicht«, bestätigte Olivia.
»Gut.« Marilla war zufrieden.
»Dann laß uns jetzt Pläne für deinen Aufenthalt in der Hauptstadt schmieden.« Sie nahm auf einem kleinen Hocker ihrer Stieftochter gegenüber Platz: »Ich werde dir die Adresse von Madame Christine mitgeben. Ihr Modesalon ist zur Zeit noch ein Geheimtip. Sie ist eine jener unzähligen Emigranten, die in England Zuflucht gesucht haben. In Paris hat sie einen der bekanntesten Salons geführt, und die ganze vornehme Gesellschaft ließ bei ihr arbeiten. Ihre Modelle sind hinreißend, unnachahmlich in ihrer raffinierten Eleganz. Madame wird dich in allen Modefragen bestens beraten.«
In der nächsten halben Stunde hörte Olivia ihrer Stiefmutter mit immer größer werdendem Vergnügen zu, wie diese Pläne für ihre Saison machte. »Natürlich mußt du selbst kutschieren«, hörte sie sie sagen. »Jede Dame, die etwas auf sich hält, tut das«, setzte Marilla energisch hinzu, als Olivia widersprechen wollte. Dann überlegte sie kurz: »Ich habe mir vor nicht allzulanger Zeit einen Phaeton zugelegt, der genau das richtige für dich sein dürfte. Nicht zu hochrädrig, aber doch ziemlich extravagant. Denkst du, daß du damit zu Rande kommen könntest?«
»Ja sicher, aber …«, wollte ihre Stieftochter einwenden.
»Fein. Dann werde ich veranlassen, daß dir der Wagen zur Verfügung gestellt wird. Natürlich muß das Wappen am Schlag übermalt werden, aber sonst ist der Wagen ideal. Nein, bitte widerspreche mir nicht. Ich habe für das Fahrzeug derzeit ohnehin keine Verwendung. Für die Pferde ist es gut, wenn sie bewegt werden. Und dir wird das Fahrzeug gute Dienste leisten. Zu dumm, daß ich bereits alle Reitpferde hierherkommen ließ, denn natürlich mußt du ausreiten können.«
In diesem Punkt konnte Olivia sie beruhigen. »Tante Mable hat immer einige Reitpferde im Stall. Sie wird mir sicher eines für meinen Aufenthalt zur Verfügung stellen.«
»Sehr gut«, sagte Marilla aufatmend. »Was den Schmuck betrifft, den du brauchen wirst …«
»… werde ich die Perlen meiner Mutter tragen«, ergänzte Olivia. »Und Papa hat mir bereits erlaubt, das Diamantenkollier mitzunehmen. Es ist ein besonders schönes Stück aus der Familie von Vaters Mutter. Die dazu passenden Ohrgehänge trage ich am liebsten. Außerdem habe ich noch die Türkise, die mir meine Großmama zu meinem ersten Debüt schenkte.«
»Fein«, sagte Marilla, die aus dem entschiedenen Tonfall ihrer Stieftochter erkannt hatte, daß es nicht angebracht war, ihr auch noch einige Stücke aus ihrer eigenen reichhaltigen Schmuckschatulle anzubieten. »Dann steht deinem Erfolg nichts mehr im Wege. Schade, daß ich dich nicht begleiten kann. Ich bin wirklich neugierig, wie du in schicken, modischen Kleidern wirkst. Und wie dein Gesicht mit einer weicheren Frisur zur Geltung kommt. Sicher wirst du dich vor Bewunderern kaum retten können.«
»Wir werden sehen«, meinte Olivia skeptisch.