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1 Einleitung 1.1 Problemaufriss

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Hier zeigt sich die Tüchtigkeit des Redners wie die des Feldherrn im Kampf, der seine Streitkräfte teils für den Fall, daß es zum Treffen kommt, bei sich behält, teils sie zur Verteidigung auf die Kastelle oder zur Garnison in die Städte, zur Beschaffung des Nachschubs, zur Sicherung der Marschwege und schließlich auf Wasser und Land verteilt. Quintilian: Institutionis oratoriae. VII, 10, 13.

In der Feldherrnmetapher beurteilt Quintilian die Fähigkeit des Orators danach, ob dieser wie ein Feldherr seine Strategie der jeweiligen Situation entsprechend und damit effektiv einsetzt, also teleologisch. Die Frage, ob Angemessenheit eine genuin rhetorische Kategorie darstellt, erübrigt sich hier.1 Erstaunlicherweise ist das Postulat der Angemessenheit aber auch in der Folgezeit kaum Gegenstand moderner Rhetorikforschung geworden.2 Wie lässt sich dieses Phänomen erklären?

Zum einen sicherlich dadurch, dass die Angemessenheit in der antiken Rhetorik zwar eine sehr wichtige Stellung als zentrales Regulativ der Rede einnimmt, jedoch nirgends eine konkrete Definition gegeben wird. Das Konzept der Angemessenheit stellt die rhetorische Theorie vor ein Problem, da es erstens mehrere Begriffe dafür gibt (aptum, πρέπον, decorum), die durch Übersetzung vom Altgriechischen ins Lateinische (Cicero übersetzt πρέπον mit decorum) tradiert worden sind, und sich zweitens die Angemessenheit über die Jahrhunderte hinweg als ein interdisziplinäres Thema (Poetik, Philosophie, Kunst, Literatur, Architektur und Musik3) erweist. Zum anderen ist in der modernen Rhetorik eine Leerstelle entstanden, die sich daraus ergibt, dass das antike Verständnis von Angemessenheit als πρέπον/decorum sich nicht mehr passgenau in eine Rhetorik im 21. Jahrhundert4 einfügen lässt.5 Eine neue Bestimmung von Angemessenheit in der modernen Rhetoriktheorie scheint unumgänglich zu sein, ist sie doch „[a]uch für die heutige Darstellungsfähigkeit [...] das wichtigste Verständniskriterium geblieben.“6

Angemessenheit scheint auch der archimedische Punkt zwischen Rhetorik und praktischer Ethik zu sein, wenn man von folgenden Annahmen ausgeht:

1 Angemessenheit ist zentrales Regulativ der Rede (bei Cicero decorum orationis) und der Rhetorik.

2 Angemessenheit stellt eine normative Erwartung an den Redner dar (decorum vitae).

Die normative Verankerung von Angemessenheit muss so mit strategischem, auf Persuasion ausgerichtetem Handeln in einem interdisziplinären ganzheitlichen Rahmen problematisiert, analysiert und möglichst in eine rhetorische Theorie überführt werden.

In der antiken Rhetorik lassen sich mehrere Begriffe finden, die „Angemessenheit“, bzw. die Eigenschaft „angemessen“ beschreiben, wovon noch in Kapitel 2 ausführlich die Rede sein wird. Es ist vor allem der von Cicero geprägte Neologismus „decorum“ als Übersetzung für πρέπον, der die rhetorische Angemessenheit ganzheitlich in Abgrenzung zum aptum fasst. Während aptum sich auf die Sachangemessenheit (inneres aptum) und die Situationsangemessenheit (äußeres aptum)7 einer Rede bezieht, ist das decorum ein von Cicero erweitertes Konzept, das den Redner als ethisch handelnden Akteur in seiner je eigenen Wesensart mit einbezieht.8 In dieser Hinsicht umfasst das decorum als solches das aptum, doch nicht vice versa. Deshalb soll hier die These vertreten werden, dass das decorum die Angemessenheitsnorm in Sprache, Verhalten und Kommunikation darstellt, während das aptum insofern vom decorum zu unterscheiden ist, als es eine redeimmanente Kategorie der Sachangemessenheit und der Situationsangemessenheit darstellt.9

Sodann folgen in den nächsten Jahrhunderten weitere Übersetzungen von πρέπον und decorum ins Englische als propriety, fittingness, appropriateness oder ins Französische als bienséance oder convenance, um nur die Wichtigsten zu nennen.10 Doch jeder Übersetzung wohnt auch eine Interpretation inne, womit begriffliche und inhaltliche Veränderungen und Akzentverschiebungen im Laufe der Jahrhunderte in den jeweiligen Sprachen zwangsweise einhergegangen sind. Auch im Deutschen macht sich dies bemerkbar, wenn decorum im Historischen Wörterbuch der Rhetorik als „Angemessenes“, „Schickliches“, „Konvenienz“ angegeben wird oder auch als „Wohlanständigkeit“ bei Christian Thomasius zu finden ist. Und selbst wenn das lateinische decorum als „Angemessenheit“ übersetzt wird, ist der Inhalt dieses Begriffs nicht automatisch klar und fassbar, sodass folgende Fragen offenbleiben: angemessen in Bezug worauf? Und wo liegt die Grenze zwischen Angemessenheit und Unangemessenheit? Wie lässt sich diese Grenze rhetorisch bestimmen?

Es bedarf einer Beschreibung und Einordnung von Angemessenheit in der Rhetorik, die in systematischer Theorie auf die meisten Fälle und Situationen anwendbar ist und ihren Platz sowohl in der Kasualrhetorik, wie auch in der Fundamentalrhetorik11 einnimmt. Wenn die Initiation von Rhetorik im Moment einer Entscheidung(sfindung) (κρίσις) als rhetorischem Fall12 ausgelöst wird, dann scheint Angemessenheit die rhetorische und ethische Absicherung von Persuasion jeglicher Art zu sein und so sollte ihr in der Theorie der modernen Rhetorik ein genuiner Raum zugestanden werden. Fasst man darüber hinaus Angemessenheit mit Erving Goffman soziologisch als Benehmen (demeanor)13, so wird deutlich, inwiefern Kommunikation und Benehmen als gesellschaftliche Prozesse interagieren: „Es bezeichnet ein symbolisches Handeln, mit dem durch Haltung, Kleidung und Verhalten zum Ausdruck gebracht wird, dass man als Akteur über bestimmte Eigenschaften verfügt, die der sozialen Situation angemessen sind, wie etwa Sprachkompetenz, Körperbeherrschung, Ehrlichkeit oder Gelassenheit.“14 Die Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren und welche Selbstdarstellung (face/image) sie bewusst und auch unbewusst kommunizieren, interessiert die Forschung um Erving Goffman, der in der Soziologie als Disziplin mit seinem Interesse an „symbolic interaction“ ein neues Feld der Analyse eröffnet hat, deren Forschungsansätze (auch für die Rhetorik) anschlussfähig sind.

Analog zu den verschiedenen Begriffsprägungen von Angemessenheit in den jeweiligen Sprachen hat sich Angemessenheit im Laufe der Geschichte zu einem interdisziplinären Thema entwickelt. So taucht es zum Beispiel in der Geschichte der Kunst mit der Diskussion um Caravaggios Gemälde Madonna di Loreto (1604-06) auf, das in der Kunstkritik der Zeit als Verstoß gegen das kirchliche decorum gewertet wurde: Die Darstellung von Armut und physischer Unzulänglichkeit in den schmutzigen Füßen und in der zerlumpten Bekleidung der beiden vor der Madonna knienden Pilger, wie auch die Darstellung einer barfüßigen Madonna, die in lässiger Manier an einer Säule lehnt und ein schon älteres Jesuskind auf dem Arm trägt, wurde als Bruch des decorum im sakralen Bild kritisiert.15 Viele seiner Altarbilder wurden wegen unzulänglicher Angemessenheit in der Ausdruckssprache von Klerikern zurückgewiesen.16 Die Grenzen des künstlerisch Darstellbaren und kirchlich Akzeptablen in der Altarmalerei auszuloten, machte das Problem des kirchlichen decorum aus, das eigentlich schon mit dem Dekret über die Verehrung der Heiligen im Jahre 1563 auf dem Konzil von Trient gelöst werden sollte, dessen Einhaltung jedoch den Bischöfen vor Ort oblag und somit weiterhin für Diskussionen sorgte.17

Doch nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der Literatur wird das Ideal von Angemessenheit thematisiert, so bei Jane Austen in ihrem Roman Pride and Prejudice, wo sie in unterhaltsamer, doch gesellschaftskritischer Manier das decorum selbst zum treibenden Thema einer Handlung macht und damit auch noch als weibliche Schriftstellerin im 18. Jahrhundert erfolgreich war.18

Und auch in der Moralphilosophie ist Angemessenheit als propriety ein Aspekt, so in Adam Smiths Theory of Moral Sentiments (1759). Dieses Werk kann aufgrund seines deskriptiven Charakters als eine „Phänomenologie der Moral“19 gelten, das zeigt, inwiefern propriety (Schicklichkeit/Anstand/Angemessenheit) aus sympathy (Anteilnahme/Verständnis) hervorgeht. Adam Smith sieht den Menschen als soziales Wesen, das über die Fähigkeit verfügt, ein „fellow-feeling“20 (Zugehörigkeitsgefühl) für seine Mitmenschen zu entwickeln: Sympathy setzt ihn instand, die Gefühle (emotions), die der Andere zeigt, selbst zu entwickeln und sich in den Anderen hineinzuversetzen. Doch sympathy wird nicht durch die dargestellten passions (Erregung) hervorgerufen, sondern durch die Situation selbst, die sie ausgelöst hat.21 Ist nun die von einem Mitmenschen gezeigte Erregung (passions) im Einklang mit den „sympathetic emotions of the spectator“22 (mitschwingende Gemütsbewegung des Beobachters), dann erscheinen diese passions dem Zuschauer just und proper zu sein. Teilt der Beobachter eine Meinung oder ein Gefühl, das der Mitmensch vertritt oder zeigt, dann werden diese als proper eingestuft und gutgeheißen. Propriety bezeichnet nach Adam Smith die suitableness23 (Angemessenheit) einer Emotion, eines Gefühls oder einer Reaktion im Hinblick auf den Anlass in der jeweiligen Situation. Adam Smith weitet das Konzept von propriety aus, indem er sie als Bedingung für tugendhaftes Handeln allgemein und als grundlegendes Ordnungsprinzip für eine liberale Gesellschaftsstruktur bestimmt.24 Insofern ist Smiths Ansatz, sympathy als „rhetorical consensus between moral agents“25 zu fassen, der jegliche intersubjektive Kommunikation in einem persuasiven Interesse in den Blick nimmt, nah an der in dieser Arbeit vorgestellten rhetorischen Auffassung von Angemessenheit. Angemessenheit als propriety oder πρέπον/decorum soll im Fokus stehen: Sie sprengt die restriktiven Bestimmungen als Stilqualität und bezieht die normativen Erwartungen an den Orator und die sympathy als emphatisches Einfühlungsvermögen mit ein.

Von Adam Smith ausgehend, stellt sich die Frage, ob Eigeninteresse (self-interest) notwendigerweise dem Altruismus als dem „Sehen des Anderen“ gegenüberstehen muss26, oder ob nicht gerade im rhetorischen Prinzip des decorum diese Dichotomie durch die Fähigkeit des Redners zur sympathy (Empathie) im Rahmen des Adressatenkalküls überwunden werden muss, um persuasiv erfolgreich zu sein. Es stellt sich heute wohl weniger die Frage nach dem moralischen Charakter eines Redners, als nach seiner sozialen Fähigkeit, den Rezipienten wahrzunehmen27, um auf dessen Gefasstheit dann rhetorisch einwirken zu können.28

Die Bedeutung von Angemessenheit in seiner interdisziplinären Gefasstheit reicht folglich von „sakraler Würde“ (Caravaggio) und „elegantem Anstand“ (Austen) bis zum „sozialen Moralprinzip“ (Smith), das einerseits ephemeren Charakter hat, dessen Wesenhaftigkeit in der Theorie der Rhetorik dennoch präzise einzufangen ist und einer systematischen Eingrenzung und Ausdifferenzierung bedarf.

Es fällt auf, dass der Begriff decorum in Deutschland irgendwann verschwunden ist29 und als Angemessenheit wiedergegeben wurde, ohne dass das Prinzip an sich vergessen worden wäre. Dagegen findet der Begriff decorum im englischen Sprachraum bis heute in unterschiedlichen Kontexten, beispielsweise ganz dezidiert im parlamentarischen Bereich in Großbritannien, Verwendung.30 Die These dafür könnte sein, dass sich im Kampf zwischen König und grundbesitzendem Adel eine bestimmte soziale Struktur in England herausgebildet hat, die auf dem Prinzip des gentry decorum basiert. Ihren Anfang findet sie in der Magna Charta (1215), welche dem Adel politische Freiheiten gegenüber dem König gewährt und auch mit dem Freiheitsartikel 39 ein wichtiges Grundrecht für alle freien Bürger einführt. Später diente diese als Fundament für die Petition of Rights, die vom Parlament an König Karl I. 1628 gerichtet wurde, für die Bill of Rights (1689) und schließlich auch für den Rule of Law31 und damit für den englischen Parlamentarismus.

All diesen politischen Bestrebungen um Unabhängigkeit und Freiheit wohnt ein „gesellschaftlicher Sinn“32 von Ordnung und ständisch bedingtem Anstand inne, der je neu im politischen Raum verhandelt worden ist. Damit ließe sich auch von einer systembildenden Funktion des decorum innerhalb einer Gesellschaft sprechen33, wenn man das decorum als „Ordnungsmuster“34, „Ordnungsreflex“35 oder „Hyperreferenz“36 teleologisch deutet: Es ermöglicht soziale Differenzierung über Relationierung, Polarisierung und Transmedialität.37

Das decorum ist also als rhetorisches Prinzip auch kulturell prägend, indem es gesellschaftliche Grenzen praktisch bestimmt und reguliert. Es scheint, als ob kaum ein anderer Begriff der antiken Rhetorik derart auf einen gesellschaftlichen Verhaltenskodex38 verweist und in seiner Ausformulierung bis dato dennoch vage bleiben musste und kaum eine habhafte – eher eine fühlbare oder mit Goethe eine gefühlte39 – Referenz bot.

Das Problem von Diversität, Komplexität und Flüchtigkeit spiegelt sich in den verschiedenen theoretischen Zugängen zur Frage nach der Angemessenheit. Diese reichen von Angemessenheit als Bestandteil hermeneutischer Betrachtungen und Theorien in der Literaturwissenschaft (Limpinsel40), als Stilqualität (Kienpointer41) bis zur Angemessenheit als sozialem Wert (Beetz42). Einen interessanten Zugang bietet Ulla Fix, die Angemessenheit als „Adäquatheit“43 wiedergibt; sie versteht diesen Begriff allerdings dezidiert normativ. Die Normen siedelt sie auf vier verschiedenen Ebenen an, nämlich auf der instrumentalen Ebene (Richtigkeit, Stimmigkeit), der situativen (Empfänger, Sender, Medium, Kanal, Gegenstand, Strategie, Intention und Erwartung), der ästhetischen (Klarheit, Folgerichtigkeit, Gewähltheit und Elaboriertheit) und der parasprachlichen Ebene (Kodes, kulturelle Bedingungen)44. Für Fix ist „Adäquatheit“ ein pragmatisches Kriterium eines Textes und ein Kriterium für Redekompetenz45 per se. Zwar gelingt es Ulla Fix, die Angemessenheit eines Textes in sprachlich-kommunikativen Normen auszudifferenzieren und darauf hinzuweisen, dass „kommunikative Adäquatheit“ als Kriterium je situativ neu verhandelt werden muss, doch wird der rhetorisch-ethische Aspekt des decorum nach Cicero vernachlässigt. Während für Cicero das decorum ein inhärent ethisches Kriterium ist, bestimmt Fix die Adäquatheit als eine Art Brücke „zur Erkenntnis und Anerkennung der sozialen und ethischen Funktion sprachlichen Handelns“46.

Wenn Rhetorik auf Persuasion abzielt, die durch den Orator strategisch geplant wird und auf rhetorischem Kalkül und plausiblen Schlüssen beruht, dann muss aber in der kommunikativen Interaktion der ethische Aspekt von Angemessenheit eine bedeutende Rolle spielen. Angemessenheit muss mehr sein als kontextuelle Adäquatheit, doch wie in aller begrifflichen Diversität und interdisziplinären Komplexität das ephemere Wesen von decorum eingefangen werden kann, soll hier als Desiderat benannt, analysiert und aufgehoben werden.

Die normative Kraft des Decorum

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