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1.3 Quod decet? – Das Schöne und das Erhabene

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Die Vorstellung – nicht der Begriff – von Angemessenheit in rhetorischem Rahmen evoziert auch die philosophische Gegenüberstellung vom Angemessenen und Schönen oder vom Angemessenen und Erhabenen. Nicht nur Platon (Hippias Maior 291d-e), sondern auch Augustinus’ verloren gegangene Schrift (Vom Schönen und Angemessenen) oder Kant und Schiller beschäftigen sich mit dem Konzept von Angemessenheit als einem philosophischen Ideal oder einer ästhetischen Vorstellung. Das Angemessene und das Schöne können Gegenpole sein (Angemessenes als bloßer Schein des Schönen), Attribute füreinander oder das Angemessene im Sinne von Aristoteles (Rhetorik 1367b12-1367b20) zeigt sich in den schönen Taten. Das Schöne wiederum übertrifft das Angemessene, indem es mehr als angemessen im positiven Sinn meint und sich vor allem auf das menschliche Verhalten bezieht. Andererseits werden hohe Anforderungen an die Angemessenheit gestellt: Vernunft und Gefühl müssen zusammenwirken, wenn etwas Schönes entstehen soll. Sulzer sieht diese Fähigkeit vor allem beim Künstler, wenn er sagt, dass: „zwar [...] Künstler von feinem Geschmake selten in den Fehler des Unangemessenen verfallen; aber das genaue Angemessene erfordert große Scharfsinnigkeit und feines Gefühl. Eben darum aber giebt es den Werken des Geschmaks eine große Schönheit.“1 Schönheit schließlich steht in einem Bezug zum Erhabenen, muss aber auch davon abgegrenzt werden.

Unter den Begriffen des Schönen, Angemessenen und Erhabenen werden Möglichkeiten der ästhetischen Repräsentation beschrieben, die philosophisch und rhetorisch konnotiert sein können. Zunächst soll untersucht werden, welcher Bezug in der Rhetorik zwischen dem decorum und dem Erhabenen besteht.

Das Erhabene taucht in der antiken Rhetorik als Stilart der pathetischen Rede und Gattung der Festrede (genus demonstrativum) auf und dient zum einem dem movere/flectere sowie dem Pathos einer Rede. Erhabenheit in der Sprache kann emotional bewegend werden. Welchen Bezug hat das Erhabene dann in der Rhetorik zur Urnorm des decorum?

In der antiken Rhetorik des Aristoteles, Cicero und Quintilian ist Erhabenheit in der elocutio als genus grande, genus sublime oder genus vehemens verortet. Doch obwohl diese dritte Stilart nach dem genus subtile/genus humile und genus medium/genus mixtum als der überzeugendste Stil bei Cicero (Orator, 97) gilt und die größte Macht der Beredsamkeit („vis omnis oratoris“, Orator, 97) darstellt, ist sie nicht ohne Beschränkung frei anwendbar. Der wahre Redner, den zu skizzieren Ciceros erklärtes Ziel ist, ist ein wortgewaltiger Redner, der alle drei Stile meisterhaft einsetzen und in einer Rede auch miteinander verbinden kann. Denn, ob ein erhabener Stil eingesetzt, wann und in welchem Maße er eingesetzt wird, ist dem πρέπον/decorum unterstellt. Als angemessen gilt in Ciceros Orator, 70-72, was sich gemäß dem Redegegenstand (res), dem Redner (orator) und dem Publikum (auditor) ziemt. Auch für Aristoteles (Rhetorik III, 12, 1413b2ff.) ist Stil primär decorum und rechtes Maß. Lexik und Performanz werden nach dem rhetorischen Gesetz der Angemessenheit je situativ gewählt. Das decorum lässt eine erhabene Rede nicht in Überschwang und Lächerlichkeit abgleiten und sichert somit die volle Macht einer Rede, die zu Herzen spricht, in sie eindringt und dort Überzeugungsarbeit leistet (De oratore II, 187). Das decorum lässt nach Auffassung des rhetorischen Dreigestirns Aristoteles, Cicero und Quintilian Erhabenheit im Stil einer Rede erst möglich und in voller Gänze wirksam werden.

Doch im Altgriechischen meint ὔψος nicht nur den erhabenen Stil, sondern kann auch auf Personen bezogen sein. In Platons Politeia 487a diskutieren Glaukon und Sokrates über notwendige Eigenschaften der philosophischen Seele bei der Wahrheitssuche und sprechen dabei über die Vorbedingungen eines von Natur aus großen Mannes, der sich durch seine Eigenschaften wie Gelehrigkeit, Edelmut, Anmut, durch Wahrheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit hervortut. Auch Aristoteles behandelt in seiner Nikomachischen Ethik 1107b17 das Thema des tugendhaften Handelns als dasjenige, welches stets die Mitte wählt. Die Mitte ist das rechte Maß. Doch diesem widerspricht das Erhabene. Der altgriechische Terminus μεγαλοπρεπής bezeichnet einen Menschen mit einer großen Seele, der sich durch edle Naturanlage in seinem Charakter als ein großer Mann auszeichnet. Dieses altgriechische Adjektiv, das übersetzt „einem Großen angemessen“ und „erhaben“ bedeutet, wird außerdem bei Platon in Lysis 215e1 im Sinne von „großartig/höher“ und bei Pseudo-Demetrios in seinem Traktat Über den Stil (περὶ ἑρμηνείας/De elocutione), § 36 als einer von vier Stilen (χαρακτῆρες) eingeführt. Er löst sich hierbei von der klassischen Dreistillehre und führt stattdessen den einfachen (ἰσχνός), erhabenen (μεγαλοπρεπής), glatten/eleganten (γλαφυρός) und den gewaltigen Stil (δεινός) ein.

Das zentrale Werk der Antike zum Begriff des Erhabenen steuert der Theoretiker Pseudo-Longinus bei. In der Schrift Vom Erhabenen in 9,2 wird Erhabenheit als moralisches Vermögen und innere Kraft verstanden: „ὔψος μεγαλοφροσύνης ἀπήχημα“ (Erhabenheit sei Widerhall von Seelengröße). Till betont, dass Pseudo-Longinus die Erhabenheit als Fähigkeit des Menschen sieht. Sie speist sich aus mehreren Quellen, wobei ästhetische, ethische, personelle und rhetorisch methodische Fähigkeiten eine Verbindung eingehen.2 Das Erhabene bei Pseudo-Longinus ist somit mehr als ein Stilbegriff, mehr als eine ästhetische Qualität und intendierte Wirkung, es weist auf den Menschen zurück.3 In der Rede ist nach Pseudo-Longinus’ Schrift Vom Erhabenen (12,4) das Erhabene ein Ideal, aber auch eine rhetorische Kraft (δυναστεία καὶ βία) am richtigen Ort zur rechten Zeit (καιρός) (Vom Erhabenen 1,4). Verfügt der Redner über diese Kraft, dann kann er über sich hinauswachsen, ja fast die Seelengröße Gottes erreichen (36,1). Die pathetische Kraft des Redners macht auch vor schrecklichen Bildern (9,7) nicht halt, die eigentlich gegen das Geziemende (τὸ πρέπον) verstoßen, aber sich quasi gewaltsam entleeren, einschlagen wie ein Blitz: „Das Erhabene aber, bricht es im rechten Moment hervor, zersprengt alle Dinge wie ein Blitz und zeigt sogleich die gedrängte Gewalt des Redners.“4

Ist das Erhabene vielleicht die Ausnahme, die das Postulat von Angemessenheit erlaubt? Und wenn ja, wie kann das sein? Und schließlich, wie wirken decorum und Erhabenes aufeinander ein?

Immanuel Kant gilt nicht nur aufgrund seines kategorischen Imperativs, seiner Pflichtethik und transzendentalen Vernunftkritik als wegweisender Philosoph des 18. Jahrhunderts, sondern er analysierte in der Kritik der Urteilskraft (1790) auch die beiden Begriffe des Schönen und Erhabenen. In dieser dritten und letzten Kritik bestimmt Kant die ästhetische Urteilskraft als selbsttätiges Erkenntnisvermögen und als Denkungsart, die „entweder zum Guten schon ausgebildet, oder dieser Ausbildung vorzüglich empfänglich“ und so „mit dem moralischen Gefühl“ (KdU B, 170) verwandt ist.

Schön ist das, was in der bloßen Beurteilung (also nicht vermittelst der Empfindung des Sinnes nach einem Begriffe des Verstandes) gefällt. Hieraus folgt von selbst, daß es ohne alles Interesse gefallen müsse. Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt.5

Kant grenzt somit das Schöne deutlich vom Erhabenen ab.6 Schönheit gefällt unmittelbar, wird wahrgenommen mittels des Verstandes und der Einbildungskraft, wird „ästhetisches Reflexionsurteil“ (Erste Fassung der Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, IX) aufgrund formaler Kriterien. Es setzt „Erkenntnisvermögen“ (KdU B, LVI, LVII) voraus, ist „Gesetzmäßigkeit ohne Gesetz“ (KdU B, 70), dessen Bestimmungsgrund das Gefühl ist. Das ästhetische Urteil wird von der „Urteilskraft in ihrer Freiheit“ (KdU B, 120) getroffen, wobei zwei Gemütskräfte, nämlich Einbildungskraft als „Vermögen der Anschauung“ und Verstand als „Vermögen der Begriffe“ (KdU B, 155/156) zusammenwirken. Somit ist das Schöne auf der einen Seite ein Geschmacksurteil, also subjektiv (KdU B, 138/139), auf der anderen Seite ist damit aber auch ein „Anspruch auf subjektive Allgemeinheit“ (KdU B, 19) verbunden.

Das Erhabene geht darüber hinaus. Man nimmt es zwar ebenso „unmittelbar“ wahr, aber der Reiz löst offensichtlich auch einen gewissen Widerstand beim Betrachtenden aus. Dieser resultiert aus der formlosen Beschaffenheit und aus der Unbegrenztheit des Erhabenen, so dass sich die Idee des Erhabenen am meisten „in ihrem Chaos oder in ihrer wildesten regellosesten Unordnung und Verwüstung, wenn sich nur Größe und Macht blicken läßt“7, zeigt. Vom „Gefühl des Erhabenen“ (KdU B, 75/76) ergriffen, wird der Mensch vom Objekt – beispielsweise von Naturphänomenen – nicht nur angezogen, sondern auch abgestoßen. Aus diesem Grund spricht Kant von einer „indirekten“ und „negativen Lust“, wenn der Mensch vom Erhabenen als einem ästhetischen Gefühl (KdU B, 99), das im Menschen selbst wirkt, erschüttert wird (KdU B, 98).8 Das Erhabene ist nicht im Gegenstand der Natur zu finden, „sondern nur in unserm Gemüte enthalten, sofern wir der Natur in uns, und dadurch auch der Natur (sofern sie auf uns einfließt) außer uns, überlegen zu sein uns bewußt werden können.“9 Kant unterteilt das Erhabene in ein mathematisch-Erhabenes und ein dynamisch-Erhabenes. Mathematisch-erhaben bezeichnet eine unvergleichliche Größe (KdU B, 81: quantum), während dynamisch-erhaben „[d]ie Natur, im ästhetischen Urteile als Macht, die über uns keine Gewalt hat“, (KdU B, 102/103) bezeichnet. Erhabenheit ist zum einen die Größe schlechthin und zum anderen eine unwiderstehliche Macht der Erscheinung (τὰ φαινόμενα), die eine Gemütsbewegung auslöst, deren Gegenstand als etwas absolut Großes gedacht wird (KdU B, 81 und B, 84).

Wenn das Erhabene nach Kant eine Idee der Vernunft ist und im Menschen als ästhetisches Urteil und Gefühl wirkt, wie lässt es sich dann angemessen darstellen? Foessel merkt an, dass die reflektierende Urteilskraft die Vorstellung des Erhabenen in erster Linie auf das Subjekt zurückführt, nicht auf das Objekt, und dass es sich somit einer objektiven Darstellung entziehe.10

Ist das Erhabene somit eine nicht darstellbare Figur der menschlichen Einbildungskraft und Vernunft? Kant gibt auf diese Fragen in seinen mannigfaltigen Definitionen des Erhabenen (KdU B, 77/B, 94/B, 118) Antwort. Zunächst entzieht sich das Erhabene dem Angemessenen aufgrund der Unangemessenheit der ästhetischen „Größenschätzung“ (KdU B, 94). In seiner Kritik der Urteilskraft B, 77 definiert Kant das Erhabene als ein „übersinnliche[s] Substrat der Erscheinungen“ (KdU B, 238), als transzendentalen Vernunftbegriff. Solche Ideen sind nicht angemessen darzustellen, da sie nicht objektiv vorliegen, sondern als Vernunftbegriff „indemonstrabel“ (KdU B, 241) sind. Doch gerade diese Unangemessenheit kann sinnlich erfasst werden, beispielsweise über Naturphänomene, durch deren Anblick im Betrachter Ideen von Erhabenheit entstehen, die eine erhabene Denkungsart im Menschen auslösen. Aufgrund dieser Rückwirkung des Erhabenen auf die jeweils individuellen Empfindungen des Menschen spricht Dietmar Till in seiner Studie über das Erhabene (2006), ausgehend vom begrifflichen Konzept des Selbstgefühls, von einem „reflexive[n] Moment des ‚Erhabenen‘“ und einem „Ich-Bezug“ bei Kant.11 Wenn nach Kant das Erhabene übersinnlich ist und sich als Idee im Gemüte formt, so muss der Mensch mehr als nur eine tobende See anschauen, um Erhabenheit zu erleben. Der Mensch selbst wird Teil dessen, indem er durch die Anschauung von erhabenen Naturphänomenen in seinem Innern aktiviert wird: Er wird von den erhabenen Phänomenen ergriffen, jedoch nicht zwangsläufig überwältigt im eigentlichen Sinne. Befindet sich ein Mensch beispielsweise am Strand eines tobenden Meeres, das, von Orkanwinden aufgepeitscht, sich bedrohlich dem Land zu­wendet, wird er zwar die reale Bedrohung für sein Leben spüren und sich fürchten, aber zugleich eine Idee von Unendlichkeit und von Unangemessenheit seines Denkens verspüren.12

Deshalb betont Kant in KdU B, 119, dass „in der transzendentalen Ästhetik der Urteilskraft lediglich von reinen ästhetischen Urteilen die Rede sein müsse, folglich die Beispiele nicht von solchen schönen oder erhabenen Gegenständen der Natur hergenommen werden dürfen, die den Begriff von einem Zwecke voraussetzen;“ das Erhabene als ein ästhetisches Urteil wird durch die Unangemessenheit der Einbildungskraft als eine Idee der Vernunft reflexiv gebildet.

Eine zweite Antwort könnte lauten, dass das Erhabene die einzige Ausnahme ist, die das Postulat von Angemessenheit erlaubt. Für Kant ist das Erhabene letztlich die Unmöglichkeit einer objektiven und positiven Repräsentation. Nach § 23 (B, 75/76) ist das Erhabene an einem formlosen Gegenstande zu finden, der in seiner Unbegrenztheit und in Totalität gedacht wird. Kein Maß kann es fassen, ist es doch in der Kategorie der Quantität als Größe, Macht, Chaos gedacht und so sich selbst Maß. Die menschliche Einbildungskraft scheitert an dieser ästhetischen Größenordnung, ist den Ideen unangemessen. So resultiert die Unangemessenheit des Erhabenen aus der Unangemessenheit der sinnlichen Vorstellung des Menschen selbst.

Das Erhabene ist hier als Idee der Unendlichkeit zwar nicht angemessen darzustellen, doch erreicht es eine Angemessenheit auf einer höheren Ebene. Indem der Mensch sich auf die Unendlichkeit als solche besinnt und begreift, dass die Natur keine Macht über ihn hat, kann er sich in Freiheit, die Willensbestimmung im autonomen Menschen ist, von der Furcht befreien. Sein Verhalten ist nicht von der Natur festgelegt, sondern von seiner eigenen Vernunft bestimmt. Sein Endzweck ist das rechte Handeln. Sich des Erhabenen als Idee der Vernunft klarzuwerden, bedeutet, dass sein Verhalten dann ethisch-moralisch angemessen sein kann. Denn Kant spricht in Bezug auf das Sittengesetz von „der Erhabenheit des Gegenstandes“ (KpV A 291), die darin besteht, dass der Mensch durch seine Intelligenz, Persönlichkeit und sein inneres moralisches Gesetz seinen eigenen Wert entfaltet (KpV A 289/290). Kants Sittengesetz geht ins Unendliche insofern, als es nicht auf Bedingungen des Lebens begrenzt ist, sondern über meine individuelle Existenz hinausgeht. Es ist die formale Bedingung menschlicher Freiheit. Ergo könnte man schlussfolgern, dass das Sittengesetz nach Kant den Menschen erhaben werden lässt. Kants transzendentale Ästhetik und seine Pflichtethik konvergieren in diesem Punkt, wenn das Erhabene, von einer transzendentalen Idee ausgehend, zu einem ethischen Prinzip wird: „Der Gegenstand eines reinen und unbedingten intellektuellen Wohlgefallens ist das moralische Gesetz in seiner Macht, die es in uns über alle und jede vor ihm vorhergehende Triebfedern des Gemüts ausübt“ (KdU B, 120).

Kants Moralphilosophie und Ästhetik des Schönen und Erhabenen finden in Friedrich Schiller einen begeisterten Anhänger, der dem kantischen Weg der „Kraft der Vernunft“ zwar folgt, doch bisweilen auch Abzweigungen nimmt.

Schiller erweist sich nicht nur bezüglich der ethischen Sittenlehre (vgl. Kapitel 3.3), sondern auch bezüglich des Erhabenen bei Kant als sein Vermittler und künstlerischer Weiterdenker13. Kant scheint für Schiller eine Art philosophischer Anregung und literarischer Ausgangspunkt gewesen zu sein.14 Schiller selbst schreibt in einem Brief am 3. März 1791 über Kant: „Seine Kritik der Urteilskraft, die ich mir selbst angeschafft habe, reißt mich hin durch ihren lichtvollen geistreichen Inhalt und hat mir das größte Verlangen beigebracht, mich nach und nach in seine Philosophie hineinzuarbeiten.“15 Man könnte sogar sagen, Schiller lernt bei der Lektüre Kants16 und dessen konzeptuellen Begrenzungen, selbst eine eigene Kunstphilosophie zu entwickeln. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich nach Burke (A philosophical enquiry into the origin of our ideas of the Sublime and Beautiful) und Kant auch Schiller mit dem Erhabenen befasst und dieses sogar neu verortet, nämlich in der literarischen Gattung der Tragödie.

Während für Kant „das moralische Gesetz in mir“, der kategorische Imperativ als der durch den Willen bezwungene Trieb, das Zentrum seiner Pflichtethik bildet, ist für Schiller der Wille des Menschen nicht dem Sollen, sondern der Kunst unterworfen, mit dem Ziel der sittlichen „Veredelung“.17 Die Überzeugung, dass die Kunst als Mittel der Befreiung und Veredelung des Menschen dient, teilt Schiller mit seinem späteren Freund Goethe, mit dem ihn im zweiten Anlauf schließlich eine anregende Freundschaft und eine Art Arbeitsgemeinschaft intellektuell Gleichgesinnter verbindet.

In seinem Gedicht An einen Moralisten schreibt Schiller zwar skeptisch: „Zu Göttern schaffst du Menschen nie“18, doch sie zu vervollkommnen, ihren Charakter zu veredeln, ist ein lohnenswertes Ziel, womit sich Schillers neunter Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen beschäftigt. Das Mittel zur sittlichen Vervollkommnung des Menschen ist die Ästhetik: „Dieses Werkzeug ist die schöne Kunst, diese Quellen öffnen sich in ihren unsterblichen Mustern.“19 Die Kultur als ästhetische Erziehung macht den Menschen fähig, seinen Willen zu behaupten und Freiheit zu erlangen, indem der Mensch als „das Wesen, welches will“ (Über das Erhabene, S. 822) sich moralisch bildet, denn „nur dieser, ist ganz frei“ (Über das Erhabene, S. 824). Mit Hilfe der Energie des Willens, so Schiller weiter, kann der Mensch die Natur beherrschen und sich dann von ihr unabhängig machen. Zur moralischen Anlage20 muss aber die ästhetische Kultivierung des Gemüts hinzukommen. Diese kann durch zwei „Genien“, wie Schiller in seinem Gedicht Schön und Erhaben selbst formuliert, gelingen: durch die Schönheit und das erhabene Gefühl.

Zweierlei Genien sind’s, die durch das Leben dich leiten,

Wohl dir, wenn sie vereint helfend zur Seite dir gehen!

Mit erheiterndem Spiel verkürzt dir der eine die Reise,

Leichter an seinem Arm werden dir Schicksal und Pflicht.21

Seine Konzeption vom Gefühl des Schönen und des Erhabenen entfaltet Schiller in zwei Aufsätzen, in Vom Erhabenen (1793) und ergänzend Über das Erhabene (1794). Während das Gefühl des Schönen ein Ausdruck der Freiheit innerhalb der Natur bedeutet, ist das Gefühl für das Erhabene Ausdruck von Freiheit außerhalb der Natur des Menschen. In der Schönheit passen Sinnlichkeit und Vernunft zusammen, im Erhabenen hat die Sinnlichkeit keinen Einfluss auf die Vernunft. Der Geist ist frei. Dieses Gefühl des Erhabenen ist ein doppeltes, denn es ist aus zwei entgegengesetzten Empfindungen, dem „Wehsein“, das sich als ein Schauer zeigt, und dem „Frohsein“ als positives Gefühl bis hin zum Entzücken, zusammengesetzt. Diese Bandbreite an möglichen Empfindungsextremen im Gefühl22 des Erhabenen zeigt, dass es die Haltung des Menschen zu einem Objekt ist, die entscheidend ist, dass zwei Naturen dem Menschen innewohnen, und beweist nach Schiller auch die „moralische Selbstständigkeit“23. In Vom Erhabenen sprach Schiller noch von zwei Grundtrieben, dem Selbsterhaltungstrieb (Gefühle) und dem Vorstellungstrieb (Erkenntnis) im Menschen als Sinnenwesen. An dieser Stelle führt Schiller aus, inwiefern sich der Mensch von der Natur unabhängig machen kann und er führt terminologisch die beiden Arten des Erhabenen ein: diejenige des „Theoretisch-Erhabenen“ (in Kantischer Diktion dem Mathematischerhabenen entsprechend) und die des „Praktisch-Erhabenen“ (dem Dynamischerhabenen entsprechend). Während das Theoretischerhabene die Natur als Gegenstand nutzt, um des Menschen Erkenntnis im Widerspruch zum Vorstellungstrieb zu erweitern, ist das Praktischerhabene als eine Macht in Opposition zum Erhaltungstrieb (beispielsweise in einer existenziellen Gefahr für den Menschen) zu begreifen, die den Zustand des Menschen selbst beeinflusst. Resümierend fasst Schiller das Erhabene als dreifach zu klassifizierende Macht: als objektive physische Macht, als subjektive physische Ohnmacht und als subjektive moralische Übermacht.24

Der menschliche Geist richtet sich nicht zwangsläufig nach den Sinneserscheinungen oder den Gesetzen der Natur und gibt sich somit der physischen Macht geschlagen, sondern nach dem „selbstständige[n] Prinzipium in uns“25, welches „das absolut Große in ihm selbst erblickt.“26 Das Erhabene, das sich „um den reinen Dämon in ihm [Menschen]“ verdient macht, ist als moralische Übermacht der Weg zur Würde des Menschen: „Ohne das Erhabene würde uns die Schönheit unsrer Würde vergessen machen.“27 Für Schiller ist die Kunst – worunter er in erster Linie die Dichtung und das Drama versteht – eine Quelle der Veredelung des inneren Menschen. In der tragischen Kunst wird mithilfe des Mitleids und der Rührung beim Anblick einer Tragödie der Zuschauer in die Lage versetzt, sein Ich zu verlassen und zum dargestellten Andern zu werden.28 Die Bühne hat bei Schiller das Verdienst, eine Stiftung für den Menschen zu sein:

Jeder Einzelne genießt die Entzückungen aller, die verstärkt und verschönert aus hundert Augen auf ihn zurück fallen, und seine Brust gibt jetzt nur Einer Empfindung Raum – es ist diese: ein Mensch zu sein. 29

Für Schiller ist also die Ästhetik als schöne Kunst das Mittel der Veredelung des Menschen, und der moralisch gebildete Mensch ist frei.

Auch für Arthur Schopenhauer ist die Kunst eine Wirkkraft, die er der Wissenschaft gegenüberstellt: Kunst ist der Wissenschaft überlegen, weil sie ihr Ziel nicht sucht; sie hat es immer schon gefunden. Kunst ist zum einen der wirkende Genius, sie ist zum anderen vollkommene Objektivität, reine Kontemplation30, die Schopenhauer auch Geistesruhe31 nennt. Kunst hat ferner die Fähigkeit, die Erkenntnis der ewigen Ideen (Platons) (III, § 31 und 34) zu vermitteln: „Sie wiederholt die durch reine Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen, das Wesentliche und Bleibende aller Erscheinungen der Welt [...]. Ihr einziger Ursprung ist die Erkenntniß der Ideen; ihr einziges Ziel Mittheilung dieser Erkenntniß.“32 Das Objekt der Kunst ist also immer die Idee, sie ist kein Abbild einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit. Die Kunst macht die Ideen aber mittels der Phantasie des Genius anschaulich, wobei die Phantasie „Begleiterin, ja Bedingung der Genialität“ (III, § 36, S. 254) ist. Auch gewöhnliche Menschen haben Phantasie, sind deswegen aber nicht automatisch genial. Andererseits hat nach Schopenhauer aber jeder Mensch die Fähigkeit, das Schöne zu empfinden und zu schätzen, denn jeder ist für das Schöne und das Erhabene empfänglich, allerdings in unterschiedlichem Grad (Die Welt als Wille und Vorstellung III, § 37, S. 263). So nötigt allein die Betrachtung der Natur dem Menschen „ästhetisches Wohlgefallen“ ab und verwandelt ihn, denn wenn das Schöne auf ihn wirkt, wird er zum „willensfreien Subjekt des Erkennens“ erhoben.33

Dieser Prozess des sich Erhebens über die eigene Individualität kennt aber noch eine Steigerung: Das Schöne wird dann zum Erhabenen, wenn die Betrachtung der Gegenstände einen Widerwillen auslöst (wie bei Kant), wenn er sich der unermesslichen Größe der Gegenstände gegenüber als ein Nichts empfindet, er in seinem Körper einen Widerstand nicht nur bemerkt, sondern diesen Widerstand überwindet, indem er sich gewaltsam von seinem Willen losreißt (III, § 39, S. 272), sodass er sich an diesen Willen nicht einmal mehr erinnert: „[B]ei dem Erhabenen ist jener Zustand des reinen Erkennens allererst gewonnen durch ein bewusstes und gewaltsames Losreißen von den als ungünstig erkannten Beziehungen desselben Objekts zum Willen“34.

Was versteht Schopenhauer aber unter dem Willen, dem er die Vorstellung gegenüberstellt? „Die Welt ist meine Vorstellung:“ Mit diesen apodiktischen Satz beginnt sein Werk Die Welt als Wille und Vorstellung. Die Welt ist, kurz gesagt, Objekt für das Subjekt (I, § 1, S. 31), also seine Vorstellung, alles was mit den Sinnen und dem Verstand (I, § 4, S. 41) wahrgenommen wird (für Kant „Erscheinung“). Sie ist aber auch Wille. Dieser gibt ihm den „Schlüssel zu seiner eigenen Erscheinung“ (II, § 18, S. 151): „[D]er Wille ist die Erkenntniß a priori des Leibes, und der Leib die Erkenntniß a posteriori des Willens.“ (II, § 18, S. 152) Schopenhauers Begriff vom Willen ist weit gefasst und er meint nicht nur den Willen eines Menschen, sondern er spricht auch Tieren und Pflanzen einen Willen zu, indem er den Willen als „jede willkürliche Bewegung (functiones animales)“ und „Erscheinung eines Willensaktes“ und als „Wille zum Leben“ (II, § 20, S. 160-161 und § 27, S. 199 und 208) definiert. Für Schopenhauer ist der Wille der Wille zum Leben generell, er ist das beherrschende Lebensprinzip, die grundlos wirkende Kraft, ein dunkler zielloser Drang, der in allem Lebendigen wirkt (II, § 27, S. 199 und S. 208/211/213 und § 28, S. 220). Wille und Vorstellung stehen einander gegenüber, aber der Wille ist mächtiger, er beherrscht die Vernunft, nicht umgekehrt. Der Wille ist im Menschen ein ständiges Wollen, das nach Schopenhauer einem Mangel entspringt.35 Da jede Erfüllung nur von kurzer Dauer ist, jagen wir rast- und ruhelos den Objekten des Wollens nach. Ruhe findet der Mensch nur, wenn er den Willen verneint. Für die Willensverneinung gibt es zwei Möglichkeiten, die Askese (IV, § 66, S. 479), die von vielen Religionen praktiziert wird, oder eben die Kunst.

In der Kunst vergisst der Mensch seine Individualität, um sich „als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge“36 der Erkenntnis zu öffnen. Die Kunst antizipiert das Ideal oder die Idee des Schönen, wobei die Möglichkeit der „Anticipation des Schönen a priori im Künstler“, seine „Anerkennung a posteriori im Kenner“ liegt.37

Die Welt, die sich dem depressiven und misanthropen Autor Schopenhauer zu Beginn seines schriftstellerischen Schaffens als ein Ort des Leidens darstellt, ist für ihn im zweiten Band seines Hauptwerkes (1844) zum einen also durch die Kunst und zum anderen durch die Askese (IV, § 66, S. 478ff.) und das Mitleid Möglichkeit zu einer besseren Welt. Das Leid ist durch die Kunst und mit Hilfe der ästhetischen Freude zu lindern, wenn auch nur kurzweilige Momente des „inneren Friedens“ (Die Welt als Wille und Vorstellung, III, § 52, S. 353) erreicht werden können. Mensch, Tier und die Pflanze sind im gemeinsamen Willen zum Leben vereint, und somit sind alle eins. Als Quelle moralischen Handelns und Ausweg aus dem Leiden im Leben dient das Mitleid (IV, § 67, S. 484f.), das den Egoismus des Menschen bekämpft, und auch in der Kunstbetrachtung und -erfahrung kann ein Quietiv als zwar momentaner, doch innerer ästhetischer Frieden erlangt werden.

Schopenhauers Gedanken gehen von seinem Vorläufer Immanuel Kant und dessen Erörterung der reflektierenden Urteilskraft und dem ästhetischen Apriori des Schönen und Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft aus. Obwohl Schopenhauer als Schriftsteller und Philosoph erst mehr als 30 Jahre nach der Veröffentlichung seines Hauptwerkes die gebührende Aufmerksamkeit und Popularität bei einer breiten Öffentlichkeit zuteil wurde, ist sein Beitrag der Willensmetaphysik gewichtig und verdeutlicht das Wesen des Erhabenen im inneren Weltbild eines Menschen, der sich als vom subjektiven Willen und seiner Vorstellung gezeichnet erfährt. Oder um mit Leo Tolstoi zu sprechen:

Sie sagen, er habe so recht und schlecht einiges über philosophische Gegenstände geschrieben. Was heißt einiges? Das ist die ganze Welt in unwahrscheinlich klarer und schöner Widerspiegelung.38

Zusammenfassend kann man sagen, dass sich in der Antike zum einen eine positive Konnotierung von Erhabenheit zeigt und zum anderen auch eine Verbindung von decorum und Erhabenheit, die sich deutlich von dem Konzept des Erhabenen als gemischtem Gefühl bei Kant und Schiller abhebt.

Was alle angeführten Beispiele eint, – so unterschiedlich in der Gestaltung sie auch sein mögen – ist die Tatsache, dass sie aufgrund einer intendierten Wirkung eine Suggestion entfalten, der man sich schwer entziehen kann, dass sie im Betrachter eine bestimmte Stimmung oder bestimmte Ideen oder Assoziationen hervorrufen, andererseits aber trotzdem irgendwie unfassbar bleiben.39 Der Betrachter verspürt vielleicht sogar manchmal eine gewisse Unlust, die nach Kant daraus resultiert, dass die Einbildungskraft der „ästhetischen Größenschätzung“ unangemessen ist (KdU B, 97-B, 98/99). Das Erhabene ist also eng an den Rezipienten gebunden, ein Aspekt, den auch Schiller betont, wenn er sagt:

Der erhabene Gegenstand ist von doppelter Art. Wir beziehen ihn entweder auf unsere Fassungskraft und erliegen bei dem Versuch, uns ein Bild oder einen Begriff von ihm zu bilden: oder wir beziehen ihn auf unsere Lebenskraft, und betrachten ihn als eine Macht, gegen welche die unsrige in Nichts verschwindet.40

Es kann ein subjektives Gefühl mit Kant oder ein objektives Gefühl in der Kunst mit Schiller, ein sich Erheben aus der eigenen Individualität und „ewiges Weltauge“ mit Schopenhauer oder eine Suggestion in der modernen Kunst darstellen. Die Wurzel des Erhabenen als jegliches Maß sprengende Größe ist eine Emotion im Betrachter beziehungsweise im Rezipienten, die sich als Furcht zeigt, die wesentlich die conditio humana des Menschen bestimmt. Deshalb sprengt das so verstandene Erhabene das Konzept des decorum. Als ästhetische Norm verstanden, unterliegt es anderen Gesetzen. Die bewusste Verletzung von Angemessenheitsregeln kann in der Kunst beispielsweise Raum schaffen für Kreativität, kann auch einen bewussten Affront gegenüber den Erwartungen des Publikums darstellen und so als revolutionärer Akt verstanden werden.

Was ist nun das Erhabene in der modernen Rhetorik? Ist es der antiken Konzeption einer Stillehre als genus grande, genus sublime und der Wirkung von Größe verhaftet? Inwiefern entwickelte sich die rhetorische Kategorie der Angemessenheit im decorum als gesamtethische Norm und aptum als sachbezogene Angemessenheit weiter? Inwiefern wirkt das Erhabene auf die Rhetorik ein? Ist das Erhabene vielleicht sogar ein Übergang oder ein Paradox?41

Spätestens seit dem 18. Jahrhundert und der Etablierung der Ästhetik als einem genuinen Wissenschaftsbereich werden zwei Aspekte deutlich: zum einen die pragmatische Anwendung nach objektiven Kriterien und zum anderen die Ästhetik als philosophische Disziplin. Rhetorik als Kunst zum Zweck der Überzeugung sieht sich im Spannungsfeld von Ästhetik, Ethik und Pragmatismus. Die Verflechtung von ästhetischen, ethischen und pragmatischen Kriterien in der rhetorischen Theorie scheint dem Rhetor ein Handlungskorsett aufbinden zu wollen, das droht, ihn in der rhetorischen Situation einzuengen. Zwar sind gewisse Vorgaben wie das decorum stets gültig, doch können andererseits Abweichungen im personalen aptum eines Redners bewusst provoziert werden, um ein weiteres rhetorisches Ziel beispielsweise des attentum parare beim Rezipienten zu erwirken. Dies bedeutet, dass nicht immer alle Vorgaben seitens der Rhetorik, Ästhetik oder Ethik beachtet werden.

Die normative Kraft des Decorum

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