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1.4 Das Prinzip der Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik

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Ehr’ im Leben oder Ehr’ im Tod, das ziemt sich für den Edlen.1

Das Prinzip der Angemessenheit in der rhetorischen Praxis und politischen Öffentlichkeit hat von der Antike bis ins postmoderne Zeitalter hinein seine prominente Rolle innerhalb einer rhetorischen Situation behaupten können. Zwar haben sich die Rahmenbedingungen von der politischen Rede im Senat und auf der ἀγορά hin zu multimedialen Präsentationen in großen Unternehmen auf der ganzen Welt stark verändert, doch hat in der Praxis eine Rede ohne die Beachtung des decorum kaum Erfolg. Angemessenheit liegt jeglicher rhetorischen Praxis zugrunde, ihr ephemeres Wesen scheint sich allerdings der rhetorischen Theorie zu versperren. So stellt sich nun die Frage nach der Relevanz von Angemessenheit in der Theorie. In der Tradition der rhetorischen Theorie wird das decorum in der elocutio als ästhetische Größe, aber auch in der inventio, dispositio und actio als ethische Größe verortet. Doch sollte im 17. Jahrhundert der Jurist Christian Thomasius eine bedeutende Rolle spielen, indem er „die überkommene klassisch-humanistische Rhetorik in ihren zentralen Lehrstücken verabschiedet.“2 Welche Auswirkungen dies nun auf die Kategorie des decorum hat, soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Es wird zu zeigen sein, dass Thomasius die Bedeutung des decorum gebührend hervorhebt, indem er die Wohlanständigkeit als eine der drei Grundsäulen des Rechts etabliert und das decorum als eine primär ethische Komponente in der Theorie verankert.

Doch zunächst ist das Angemessenheitspostulat in der Poetik zu finden. So widmet sich Horaz in seiner Ars Poetica der Aufgabe „[...], quid alat formetque poetam, quid deceat, quid non, quo virtus, quo ferat error. scribendi recte sapere est et principium et fons.“ („ich werde lehren [...], was einen Dichter fördere und bilde, was sich zieme, was nicht, wodurch Tugend und wodurch Irrtum entstehen möge. Wissen ist sowohl der Ursprung als auch die Quelle des richtigen Schreibens.)3 Aus diesem Grunde gehört es für Horaz zum notwendigen Handwerkszeug eines Dichters, die jeweiligen Unterschiede in Stil und Gattung zu kennen (Ars Poetica, V. 86), um folgerichtig die passende Verbindung von innerlich Gefühltem und äußerlich Gezeigtem zu finden, d.h. es geht um die innere Stimmigkeit von res, gestus und verba: So entsprechen beispielsweise trauernde Worte einem traurigen Gesicht (V. 105). Wie in Vers 92 bereits angekündigt, hat jedes Wort, jeder Stil, jede Geste und jeder Gegenstand seinen passenden Ort. Das decorum ist das Wissen um die je angemessene Dichtung am rechten Platz und nimmt an dieser Stelle bei Horaz das altgriechische Konzept des καιρός auf. Wie auch Aristoteles vor ihm nimmt Horaz das rhetorische Ethos in den Blick, wenn er in den Versen 112ff., 178 und 227 die verschiedenen Charaktere von Menschen jeden Alters und ihre Unterschiede bezüglich des sozialen Status deutlich macht. Decorum bedeutet hier, dass Sprache und Ethos in einer Dichtung passgenau aufeinander bezogen sind (vgl. Kapitel 2.2). Horaz versteht Dichtung als ein Gemälde (V. 361), das jedoch nicht allein durch Begabung (natura) oder allein durch Technik (ars) gelingt4, sondern trotz aller künstlerischen Freiheit seine Stimmigkeit durch das Wissen um und die Beachtung des decorum erlangt, wie Horaz zu Beginn seiner Schrift anhand von Brüchen des Decorum vorführt: „Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde?“5

Lotte Labowsky ist in ihrer Dissertation aus dem Jahre 1934 der Meinung, Horaz habe seine Ars Poetica in zwei Teile eingeteilt: Vers 1 bis 284 behandelten das ästhetische decorum, während der zweite Teil, der erst in Vers 309 beginnt und sich bis Vers 476 erstreckt, das ethische decorum zum Thema habe.6 Zu Recht weist Labowsky an dieser Stelle außerdem auf die Beziehung zwischen beiden Arten des decorum hin, da auch Horaz das decorum als einen Anspruch an die Perfektionierung von Dichtung per se formuliert, der sowohl ethisch auf den Künstler, Poeten und Redner als Mensch, als auch ästhetisch auf das Kunstwerk, die Dichtung und Rede zielt. Die Mühe und zeitraubende Arbeit des rhetorischen Feilens an der eigenen Dichtung („limae labor et mora“ V. 291), d.h. die poetisch verfeinerte elocutio, verleihe dem Dichter sodann Macht, Ruhm und Ehre. Das zuvor Gedichtete detailliert rhetorisch zu überprüfen, ist für Horaz gleichbedeutend mit der Beachtung des decorum. Die Einheitlichkeit, Stimmigkeit und Einheit eines künstlerischen Werkes wird durch das ästhetische und ethische decorum als dichterisches Telos nach Horaz gewährleistet. Mithilfe des Prinzips der Angemessenheit wird die künstlerische Zusammengehörigkeit einzelner poetischer Teile und rhetorischer Aspekte innerhalb einer Dichtung trotz aller Freiheit in der Kunst garantiert (V. 1-25). Innerhalb der Poetik des Horaz findet sich das rhetorische decorum im Rahmen einer dramatischen Inszenierung von Sprache auch als ethische Kategorie wieder, welche die stilistischen und die ethischen Implikationen einer Dichtung innerhalb einer rhetorischen Situation thematisiert.7

Aristoteles (ethische Tugenden, eth.Nic. X, 8, 1178a10-13), Cicero, Quintilian und Horaz sind sich in der Notwendigkeit des decorum vitae innerhalb der Rhetorik einig und werden auch in den poetologischen Bestrebungen des 17. Jahrhunderts um deutsche „Wohlredenheit“ und Dichtung anerkannt. Dyck spricht in seiner Ticht-Kunst davon, dass „[d]ie Decorum-Lehre, die in der vorbildgebenden antiken Rhetorik und Poetik solchermaßen verankert ist, [...] in die rhetorischen und poetischen Traktate des 17. Jahrhunderts übernommen [wird] und [...] eine zentrale Stellung innerhalb der Stilvorschriften [gewinnt], die der „barocke Klassizismus“ für sich als maßgebend erachtet.“8 Hierbei sind laut Sinemus am Beispiel des Werkes De Poesi graecorum libri octo von Abidas Praetorius jedoch zwei verschiedene Dichtungslehren zu unterscheiden: diejenige des decorum materiae und diejenige des decorum verborum. Er verdeutlicht, inwiefern sich das Wesen der Angemessenheit in deutschen Poetiken ausprägt und stellt fest: „[D]er poetologische Maßstab der Angemessenheit ist keine Subkategorie der Elocutio – Lehre, [...] sondern er umfasst auch die Themen- und Gattungswahl, im rhetorischen Produktionsmodell: die inventio und dispositio.“9

An dieser Stelle ist besonders Martin Opitz zu nennen, der 1624 eine Theorie des decorum in seinem Buch von der Deutschen Poeterey als eine Art von „Zierlichkeit“10 formuliert. Opitz’ Anliegen war es, Regeln und Grundzüge einer deutschen Dichtkunst des Barock zu formulieren, die aufgrund ihrer Nationalsprache auch ein anderes Vermaß als das antike verfolge, – nun nämlich den Alexandriner als Regelvers –, welcher der deutschen Sprache angemessener sei (Buch von der Deutschen Poeterey, VII. Kapitel). Besonders im VI. Kapitel kommt Opitz auf die „Zierlichkeit“ zu sprechen, die zunächst gemeinsam mit der Eleganz, dann der Komposition oder Zusammensetzung von Worten und schließlich mit der Dignität und dem Ansehen (inneres aptum einer Rede) von Worten je einen Aspekt der Rede darstellen. „Zierlichkeit“ scheint hier (VI. Kapitel, S. 24) noch auf den ornatus im Rahmen der elegantia beschränkt und von der ethischen Kategorie des aptum und dem ihm übergeordneten decorum im Ansehen und der Dignität von Worten getrennt zu sein.11 Opitz versteht unter „Zierlichkeit“ primär reine und deutliche Worte, worunter er zum einen das Hochdeutsche ohne Verwendung von Fremdwörtern fasst, und wenn dies nicht vermeidbar ist, wie bei den nomina propria, den Eigennamen, so sind doch zumindest fremdländische Namen mit deutschen Endungen zu versehen (VI, S. 25) und in eine deutsche Schreibweise zu übersetzen (VI, S. 27). In diesen Rahmen des rhetorischen ornatus sind auch seine Ausführungen zum schicklichen Klang einzuordnen, der ein genaues Studium von Buchstaben und deren Klangfolge erfordert: „Weil ein buchstabe einen andern klang von sich giebet als der andere/soll man sehen/das man diese zum offteren gebrauche/die sich zue der sache welche wir für uns haben am besten schicken.“12 Empfohlen wird eine gute Zusammensetzung von Buchstaben in einem Wort und Satz, die das inhaltlich Gesagte auch phonetisch unterstreichen und so diesem sinnlich angemessen13 sind (Onomatopöie): So sind beispielsweise Fließlaute (Liquide) in der Beschreibung von Bächen angemessen und nützlich (VI, S. 29), während bezüglich des Pleonasmus trotz seiner affektstarken rhetorischen Funktion der Hinzufügung und der „Anastrophe“ (Inversion) dem Dichter geraten wird (VI, S. 28), davon Abstand zu nehmen, da sie den Vers „gezwungen“ machen und die Syntax in der Rede „verstellen“. Ebenso sind Epitheta dem Poeten nicht anzuraten, und besondere Betonung wird auf die korrekte deutsche Rechtschreibung und den Satzbau (VI, S. 26) insgesamt gelegt. Doch häufig ist den Regeln des poetischen Gestaltens durch eine beispielhafte Auflistung ex negativo auf die Spur zu kommen: „Newe wörter/[...] zue erdencken/ist Poeten nicht allein erlaubet“ (VI, S. 26); „Ich darff aber darumb nicht bald auß dem Französischen sagen: approchiren“ (VI, S. 27); „Item/Es siehet nicht wol auß/wenn ein Verß in lauter eynsylbigen wörtern bestehet.“ (VI, S. 29)

Nach dem Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft stellt sich Opitz’ Lehre des decorum und aptum als eine Regel der Poetik, als ideales Verhältnis von „Stilhöhe, dichterischer Gattung und dem sozialen Rang der in der Dichtung vorkommenden Personen, Gegenstände und Situationen“14 dar. Es ist ein harmonisches Abwägen von gestalterischen Figuren in Wort und Satz seitens des Dichters, der die „Zierlichkeit“ im ornatus und das Prinzip des decorum materiae und decorum verborum achte. Opitz verfolge laut Sinemus damit als erster eine „material-soziale Aptum-Lehre“15. Damit verbunden sei auch die Unterscheidung der ciceronischen Dreistillehre gemäß dem hierarchisch-ständischen Regelsystem. Es sei der Habitus, der den Stil einer Rede entscheide: „Denn wie ein anderer habit einem könige/ein anderer einer priuatperson gebühret/und ein kriegesman so/ein Bawer anders/ein kauffmann wieder anders hergehen soll: so muß man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden; sondern zue niedrigen sachen schlechte/zue hohen ansehliche, zue mittelmässigen auch mässige und weder zue grosse noch zue gemeine worte brauchen.“16 Angemessenheit ist in opitzscher Denkweise also Harmonie zwischen Stil und Stand beziehungsweise Habitus. Dementsprechend stehen die verba im Dienst der Sache: Wichtige Angelegenheiten müssen mit „prächtig[en] hohen worten vmbschreiben“ werden, „[d]ie mittele oder gleiche art zue reden ist/welche zwar mit ihrer ziehr uber die niedrige steiget/und dennoch zue der hohen an pracht und grossen worten noch nicht gelanget.“17

Drux schreibt zusammenfassend in seiner Dissertation (1976) über die Angemessenheit als „Kardinaltugend der Stillehre aus der klassischen römischen Rhetorik“ (S. 29), dass Opitz den Begriff der Zierlichkeit als Synonym für decorum verwendet und nicht das Prinzip der elegantia, „sondern [der] ‚dignitas‘ oder – materieller – ‚ornatus‘“ (S. 31) verfolgt. Die natürliche Ordnung der ständischen Gesellschaft zu wahren, ist gemäß Opitz somit auch Aufgabe der Dichter in ihren Poetiken des 17. Jahrhunderts; Sie sollen das decorum auch als sozial-ethische Kategorie in der Theorie der Poetik etablieren.18

Anders als Horaz und Opitz vor ihm klassifiziert Christian Thomasius, der Frühaufklärer, Begründer einer Monatsschrift (die Monatsgespräche, 1688/1689) und Verfechter der deutschen Sprache an der Universität, das decorum nicht als eine ethische Kategorie innerhalb eines theoretischen Rahmens von Rhetorik oder Poetik, sondern als eine von drei normativen Richtschnüren menschlichen Handelns. Als Philosophiestudent und schließlich promovierter Jurist interessiert sich Thomasius für das decorum im Rahmen seiner Naturrechtslehre als eine der drei Säulen menschlich-rechten Tuns. Justum (Recht der Natur), honestum (Ethik) und decorum (Politik) bilden eine verlässliche Trias von praktischer Lebensklugheit, Ethik und Recht. Thomasius setzte sich schon vor Kant für die Trennung von Moral und Recht19 ein, kämpfte gegen Vorurteile jeglicher Art und verpflichtete den Menschen auf seine Verantwortung, da der Mensch die Vernunft als Richtschnur und Fähigkeit der Überprüfung und damit der Selbsterkenntnis besitzt.

Auf diesem Hintergrund versteht Thomasius das Naturrecht als ein auf justum, honestum und decorum basierendes Modell, das sowohl den äußeren (justum und decorum) wie auch den inneren Frieden (honestum) fördert und bewahrt. Mithilfe dieser drei Arten von Gütern, die als Einheit20 zusammenwirken sollen, soll zur Regulierung der gesellschaftlichen Ordnung ein rechtliches, ständisch-soziales und ethisches Grundmodell geschaffen werden.21 Anhand der jeweiligen Prinzipien für die „drei Ideologie-Sterne eines Bürgertums“22 (justum, decorum, honestum) wird deutlich, dass diese gesellschaftliche Ordnung durch eine ausbalancierte Gegenseitigkeit, Rücksichtnahme und Vorbildlichkeit, nicht durch die alleinige Macht des Rechtes erreicht werden kann: In § 40 wird das Prinzip des Ehrlichen als dasjenige bestimmt, „[W]as du wilt/daß andere sich thun sollen/das thue du dir selbsten“; in § 41 das decorum als das Anständige, „was du wilt/daß andere dir thun sollen/das thue du ihnen“ und in § 42 wird das Gerechte als dasjenige definiert, „was du dir nicht wilt gethan wissen/das thue du andern auch nicht.“

Die Regeln des Gerechten halten dabei das höchste Übel (wie beispielsweise Taten, die in Krieg und Hass münden), die Regeln des Anständigen das mittlere Übel (fehlende Liebe, die noch nicht in äußersten Hass umgeschlagen ist) und die Regeln des Ehrlichen das unterste Übel (innerer Trieb) im Zaun.23 Während bei den erst genannten notwendigen Regeln die Ursachen dafür – wie Krieg, Hass und fehlende Liebe – klar zu Tage treten, bleibt Thomasius’ Ausführung zu dem untersten Übel unklar. Offensichtlich steht der innere Trieb des Menschen der Regel des Ehrlichen im Weg und muss deshalb zum Nutzen der Gemeinschaft gebändigt werden. Der Mensch verzichtet aus Furcht vor Sanktionen auf die Befriedigung seines inneren Triebes. Soziale Kontrolle verhindert also das Ausleben zerstörerischer Triebe.

Da alle drei Güter wichtige praecepta sind, aber einen unterschiedlichen Rang im Zusammenleben einnehmen, empfiehlt Thomasius in § 78 des ersten Buches seiner Grundlehren des Natur- und Völkerrechts das graduelle Lernen von der leichten zur schwersten Regel, sodass zuerst die Regeln des justum, dann diejenigen des decorum und schließlich des honestum zu erlernen sind.

Zwar geben Thomasius’ Schriften Anreize für weitere Untersuchungen beispielsweise der Pedanterie24 des Zeitalters oder der bürgerlichen Klugheit25, doch müssen diese Aspekte seines Schaffens außen vor gelassen werden, um den Fokus auf seine Theorie von decorum in seinen Werken zu konzentrieren, die sich in der vierten Abhandlung in seinen Kleine[n] Teutsche[n] Schriften (1701), der Einleitung zur Sittenlehre (1692), der Ausübung der Sittenlehre (1696), den Fundamenta Juris Naturae et gentium (Grundlehren des Natur- und Völkerrechts) (1705), sowie den Cautelae circa praecognita jurisprudentiae (1710) findet. Dabei sollen folgende Fragen als Orientierung dienen: Wie definiert Thomasius decorum? Und lässt sich in dieser Zeit der Frühaufklärung von einer Rehabilitierung von Angemessenheit sprechen?

Till weist auf die Tatsache hin, dass Christian Thomasius zwar die „Rhetorik der Figuren“, die in den Schulen gelehrt wird, kritisiert und selbst ein Collegium Styli (deutsche Stilübung) anbietet, aber selbst kein Rhetorik-Lehrwerk hinterlassen hat.26 Und dennoch bieten seine oben genannten Werke genügend interessante Reflexionen über die Beredsamkeit und den Stellenwert des decorum im Besonderen. Im 13. Kapitel von De disciplina decori seines Traktats Christian Thomasius eröffnet der studirenden Jugend einen Vorschlag/wie er einen jungen Menschen/der sich ernstlich fürgeseßt/Gott und der Welt dermahleins in vita civili rechtschaffen zu dienen/und als ein honnet und galant’ homme zu leben/binnen dreyer Jahre Frist in der Philosophie und singulis jurisprudentiae partibus zu informiren gesonnen sey aus dem Jahre 1689 prangert er den Mangel an wissenschaftlicher Forschung („in formam disciplinae vel artis“) bezüglich des decorum an und kritisiert Lambertus Velthuysens Unterscheidung von justum und decorum als fehlerhaft. Die bisherige „Erudition“, d.h. Gelehrsamkeit als solides Wissen und Erziehung („solida eruditio“), lasse in Bezug auf die Erkenntnisse des decorum zu wünschen übrig, was er der „Galanterie“ des Französischen zuschreibt. Er bietet jedoch an dieser Stelle keine deutsche Übersetzung an. Opitz’ Übersetzung von decorum als „Zierlichkeit“ scheint für Thomasius aufgrund der verdächtigen linguistischen Nähe zu ornatus nicht zutreffend zu sein, so dass er später in der Einleitung zur Sittenlehre II, 104 den Begriff der „Wohlanständigkeit“, „Manierlichkeit, Höfflichkeit“ und „Artigkeit der Sitten“ gebraucht.

Die Lehre des decorum wird jeweils zu Beginn des 13. und des 14. Kapitels seines Traktats an die studierende Jugend als ein Teil der philosophia practica bezeichnet. Eine detaillierte Einordnung des decorum in das System der Rhetorik folgt nicht.27 Das Desiderat wird jedoch formuliert: Es solle ein wahrhaftes Konzept de Decoro und in Abhängigkeit von demselben auch ein Konzept de Pudore (Kapitel 13, S. 34) erarbeitet werden. Insgesamt werden 24 verschiedene Aspekte des decorum als mögliche Forschungsfelder angeführt, die von den zuerst genannten de fundamento decori, dem Unterscheid zwischen decorum und justum/decorum und utili und dem Decorum pro bono vero & apparente über die verschiedenen Arten des decorum, von pudor als Verletzung des decorum bis hin zu den zuletzt genannten Themen des decorum im Reden und im Handeln reichen. Anhand dieser hierarchischen Reihenfolge, die das decorum im Reden weit hinten platziert, wird seine Einordnung des decorum in die philosophia practica als einer lebenswichtigen Norm im höflichen Umgang der ständischen Sozietät und nicht als eine bloß rhetorisch-ästhetische Lehre des Stiles untermauert.28

Thomasius’ generelle Rhetorik-Kritik, in die später auch Friedrich Andreas Hallbauer (1725)29 einstimmen sollte, hat den Zweck, eine vortreffliche „Oratorie“ auf den Weg zu bringen, die erst nach dem Studium der Philosophie, der Grammatik und der Poesie in den Schulen gelehrt werden soll.30 Thomasius schreibt: „Ehe ich weiter gehe/sehe ich wohl zuvor/daß ihrer viele mir für einen defect zweiffels ohne anrechnen werden/wenn ich die Oratorie, ehe ich ad Philosophiam practicam schreite/so vorbey passiren solte. Aber ich bin der beständigen Meynung/daß man besser thue/wenn man diese Disciplin etwas weiter hinaus sparet.“31 Denn er will weg von der pedantischen Schulrhetorik, hin zu einer Rhetorik, die sich auf den Orator als selbst denkenden Menschen mit Verstand und freiem Willen32 fokussiert. Der Akzent verschiebt sich auf den sprechenden Menschen und seine Affekte.33

Für Christian Thomasius ist das decorum ein wahrhaftiges und notwendiges Gut; es ist die Bedingung, um in der vita civili sozial reüssieren zu können und notwendig geworden aufgrund der Abgrenzung der Stände und dem menschlichen Drang nach Geselligkeit. Um in dieser Gemeinschaft jeden Stand und jedem Menschen die ihm gebührende Ehrbezeugung angedeihen zu lassen, bedarf es des decorum.34 Doch Thomasius geht sogar noch weiter, wenn er das decorum nicht nur als ein soziales Gut definiert, sondern es als Gut über die gewöhnlichen Klassen und so neben Gott stellt:

Also siehest du/daß wir alles bißhero einzeln erzehletes Gute unter die gewöhnlichen Classen gebracht haben/biß auff Gott und das Decorum, die sich nach der gemeinen Beschreibung nicht füglich zu einer von derselben setzen lassen. Was das Decorum betrifft/daran hat bißhero niemand gedacht/was es für ein Gut sey/obgleich alle Philosophi darinnen wider die Cynicos einig gewesen/daß über die Tugend noch etwas anders sey/das man in gemeinen Leben und Wandel als eine Richtschnur in acht nehmen müsse.35

Die Bedeutung des thomasischen decorum kann nicht überschätzt werden, ist es für ihn doch „die Seele der menschlichen Gesellschaften“, die von Gott als Lehre den Menschen gegeben und wozu sie von ihm befähigt worden sind.36 So prangert er in der Einleitung zur Sittenlehre I, 125-126 die Indifferenz der Menschen gegenüber dem decorum an, die lediglich Gesundheit, Weisheit und Tugend als edle und notwendige, jedoch Freiheit, Ehre, Reichtum, Freunde und das decorum als nicht notwendige Güter ansehen. Hier ist zu unterscheiden zwischen zwei Ursachen der notwendigen Güter:

1 weil sie zum menschlichen Wesen gehören (necessaria absolutè)

2 weil die menschliche Gesellschaft ihrer bedarf, da sie selbst nicht vollkommen, sondern korrupt ist (necessaria ex hypothesi status corrupti societas civilis).

Ein sozialer Aufstieg innerhalb dieses filigranen Geflechts sozialer Umstände, Ungleichheiten und intellektueller Fähigkeiten kann nur mit Hilfe des decorum gelingen, wodurch es wiederum als ein notwendiges Gut bestimmt wird.37

Um Thomasius’ scheinbar widersprüchliche Aussagen über das decorum, zum einen als notwendiges Gut besonderer Klasse und zum anderen als bloße Zier des Menschen, – erreichbar ohne großen Aufwand, welche jedoch nichts zum Glück eines Menschen beiträgt38 –, zu verstehen, muss auf sein Verständnis von Naturrecht eingegangen werden.

Thomasius trennt die Sittlichkeit vom Recht: Während die Sittlichkeit der Gemeinschaft und dem Menschen immanent ist, ist das Recht kein notwendig immanenter Bestandteil von Gemeinschaft, denn es gibt auch Gemeinschaften ohne Recht, wie Diktaturen oder Sekten. Mit dieser Trennung löst Thomasius das Recht aus dem religiösen Bezugsrahmen und stellt es auf die drei Grundsäulen, die Recht und Ethik bestimmen: Justum, honestum und decorum. Dennoch wäre es falsch, ihm hierbei eine Abneigung gegen das Christentum39 zu unterstellen, denn für Thomasius ist das Naturrecht ein von Gott gegebenes Recht, das den Menschen befähigt, mittels der Vernunft das Rechte zu erkennen und das Recht in der Gemeinschaft durch Gesetze zu realisieren und zu leben. Thomasius unterscheidet das Naturrecht (jus naturae) als vernünftige Ratschläge im Sinne moralphilosophischer Überlegungen vom positiven Recht als staatlich gesetztem Recht: „Hüte dich demnach/daß du nicht meinest/als wenn das natürliche und gegebene/das göttliche und menschliche Gesetze Arten von einerley Natur wären: Das natürliche und göttliche Gesetze gehöret mehr zu denen Rathschlägen/als zu denen Herrschaften; das menschliche Gesetze in dem eigentlichen Verstande genommen wird nur von der Norm der Herrschafft gesaget.“40

Um auch moralische Gebote neben dem im positiven Recht verankerten justum durchsetzen zu können, bedarf es eines Naturrechtsbegriffes, der auch das honestum und decorum beinhaltet.41 Insofern könnte man justum, honestum und decorum auch als drei verschiedene Ethiken auffassen, nach denen es gilt, sein Leben in rechter Weise zu leben. Sie sind Ratschläge (consilium) und Leitlinien, wie der Mensch mit seinen Mitmenschen umzugehen hat und auf Grund derer er entsprechende Gegenreaktionen zu erwarten hat. Ziel und Zweck dieser drei Grundprinzipien des Rechts und der Ethik nach Thomasius ist die Glückseligkeit im Leben. Doch ist diese nicht automatisch durch die Einhaltung einer dieser drei Normen zu erlangen: „Es ist aber deswegen das Decorum kein nothwendig Stücke der Gemüths-Ruhe wenn es nur nicht mit Vorsaß und aus blosser Liebe zur Singularität unterlassen wird.“42 Glückseligkeit besteht nicht im Genuss von Gütern, sondern in der Gemütsruhe und ihrer Erhaltung im Leben.43 Diese Ruhe muss mithilfe normierender Prinzipien und qua „gesunder Vernunft“ (Grundlehren des Natur- und Völkerrechts. I, 1, 90) erst erarbeitet werden, indem jene die Okkupation des freien Willens als „Begierde im Herzen“ (Grundlehren des Natur- und Völkerrechts. I, 1, 34) überwinden.

So zeigt sich auch das Wesen des decorum erst im Tun: Es kann sich in dreifacher Ausprägung zeigen, tugendhaft, lasterhaft oder indifferent sein.44 Der Mensch darf keine „offenbahre Singularität“ oder „Liebe zur bestialität“ (II, 108) aufweisen, dies bedeutet, dass er nicht egoistisch leben oder wie eine „Bestie“ schändlich handeln darf. Es ist zu unterscheiden zwischen einem Menschen, dem das decorum fehlt und demjenigen, der „indecenter vivit“.45 Nur demjenigen, der „indecenter vivit“, wird abgesprochen, je die Glückseligkeit in seinem Leben erreichen zu können. Dies bedeutet, dass ein Mensch, der das decorum erkannt hat und sich dennoch – wider die Vernunft – dazu entschlossen hat, nicht gemäß dem decorum zu leben, kein Lebensglück wird erfahren können. Ein Handeln wider besseres Wissen und Vermögen schließt Erlangung von Glückseligkeit im Leben für Thomasius aus. Die Sittenlehre garantiert deshalb ein Leben in Glückseligkeit. Thomasius definiert sie „als eine Lehre/die den Menschen unterweiset/worinnen seine wahre und höchste Glückseligkeit bestehe/wie er dieselbe erlangen/und die Hindernissen/so durch ihn selbst verursachet werden/ablegen und überwinden solle.“46 „Glückseligkeit“ wird in seiner Einleitung zur Sittenlehre II, 4 als „das wahre Gut des Menschen“ definiert. Erst gegen Ende des zweiten Hauptstückes (II, 123-126), tituliert Von der grösten Glückseligkeit des Menschen, werden die konstitutiven Teile der Gemütsruhe als „Güter der Seele“ (Einleitung zur Sittenlehre II, 124) angeführt: Weisheit und Tugend. Die Weisheit reinigt den Verstand, so dass der Mensch die „wahre Glückseeligkeit der Gemüths-Ruhe erkennet/und dadurch den Willen disponiret“. Die Tugend wiederum erstrebt die Gemütsruhe und erhält diese durch tugendhafte Taten. Diese Teile der wahren Gemütsruhe zu erkennen und nicht Scheingüter zu erstreben oder egoistisch zu leben, ist die conditio sine qua non für das eigene Lebensglück.47 Letztlich wird die Selbsterkenntnis als Reflexion des eigenen Tun und Lebens zum Grundstein für die Glückseligkeit und ist das höchste Gut: „Die einzige Selstberkäntnäß ist das wesentliche Stücke des höchsten Guts“48.

Für Thomasius ist die individuelle Glückseligkeit des einzelnen Menschen jedoch untrennbar mit derjenigen der ganzen Gemeinschaft verknüpft.49 Das eine bedingt das andere: So sei die eigene Glückseligkeit eine Phantasie, wenn „sie mit der Unglückseligkeit der meisten verknüpffet ist.“ Die Glückseligkeit aller ist das große Ziel, dem die drei Prinzipien von justum, honestum und decorum dienen und nach welchen sich der Weise in seinem Leben orientiert (Grundlehren des Natur- und Völkerrechts. I, 6, 32). Das decorum ist daher eine besondere Klasse von „Gut“ und eine Norm für sich: Es ist nicht wie das justum als äußerlich durchsetzbare Form von Recht oder wie das honestum als innerlich verankerte Form von Recht und Moral zu sehen, sondern ist nach Thomasius zwischen den beiden genannten Normen dasjenige, welches die mittleren Übel beschränkt und nach Grunert „ein Faktor sozialer Produktivität“50 ist. Bei Thomasius nimmt das decorum beim chronologischen Erlernen dieser Trias die Mitte51 zwischen justum und honestum ein, handelt von den moralisch neutralen Mitteldingen (ἀδιάφορα) und analog zu Cicero schließt es das honestum, rectum und justum als Teilaspekte von Seelentugenden mit ein (vgl. Abbildung 1).

Trotz einer imperativisch und positiv formulierten Charakterisierung und prominenten Stellung des decorum als Norm und Ethik, die vom Menschen eine vorbildliche Handlung und Verhaltensweise fordert52, gibt es letztlich keine Grundregel für das decorum im Leben, aber durch geschärftes iudicium und aufmerksame Beobachtung kann das situativ-ephemere decorum erlernt werden:

[...] [S]o kan man auch das decorum durch unbetrügliche Grund-Regeln nicht erlernen/sondern es gehöret eine continuirliche und genaue Auffmerckung und zwar auff die geringsten Kleinigkeiten dazu/weil das decorum alle Tage sich ändert/und an allen Orten anders ist. [...] So kann es dann nicht fehlen/weil ein Ehrgeiziger stets auff den Unterscheid der geringsten Dinge in dem gegenwärtigen decoro (denn das vergangene oder das studium antiquitatis hilfft ihn hierbey wenig) Achtung giebet/er sein judicium dadurch uberaus exerciren und schärffen müsse.53

Aufgrund von Thomasius’ Korrekturen und Ergänzungen zu den decorum-Ausführungen und Unterscheidungen seiner Vorgänger, wie Pufendorf und Velthuysen, und an seinen eigenen Ausführungen zur „Wohlanständigkeit“ oder „Manierlichkeit“, wie Manfred Beetz detailliert für die Zeit zwischen den Jahren 1689 und 171054 nachgewiesen hat, gilt Thomasius als „Decorumsytematiker“ und „Lehrer konkreter Soziabilität und Conduite“.55 In seinem Spätwerk Cautelae circa praecognita jurisprudentiae in usum auditorii Thomasiani (1710), das sich im 15. Hauptstück dem decorum als der „Wissenschafft der Wohlanständigkeit“ widmet, findet sich auch schließlich seine Unterscheidung der zwei Arten des decorum: das decorum des natürlichen Rechtes (decorum juris naturae) und das politische decorum (decorum politicum).

Das decorum juris naturae ist Teil des natürlichen Rechts und geht von der grundlegenden Gleichheit aller Menschen („ex communi hominum omnium aequalitate deducitur56) aus. Aus diesem Grund ist das decorum des natürlichen Rechts als natürliche Wohlanständigkeit mit nur wenigen Ausnahmen im Gegensatz zum politischen decorum fast immer unveränderlich.57

So verwundert nicht, dass Thomasius das politische decorum in den Cautelae ausführlicher beschreibt und dieses auch in Bezug zum Christentum setzt. Das politische decorum wird in den Cautelae XV, 10 als Lehre „höfflicher Sitten“ und wie man sich Freunde zu machen hat, definiert. Außerdem gehören als Spezifikum zu dem politischen decorum die Mitteldinge („actiones indifferentes“ in den Cautelae XV, 20). Im Unterscheid zum decorum juris naturae setzt das politische decorum die soziale Ungleichheit der Menschen voraus, weil es von den Standesunterscheiden („inaequalitatem hominum“) der Menschen ausgeht.58 Daraus resultiert bei Thomasius das Desiderat von Stände-decori, denn jeder soziale Status fordert ein anderes decorum: „[T]ot esse variantis decori species, quot sunt status variantes.“59 Das Verhalten eines Menschen wird gemäß seines Standes und sozialen Status in den Cautelae XV, 57 bestimmt: Einem höher Stehenden solle man eine anständige Hochachtung und Ehrerbietung zeigen, einem Menschen vom selben Stand solle man freundlich und höflich begegnen und mit einem Menschen von einem unteren Stande solle man leutselig und bescheiden umgehen. Wie bereits konstatiert, mangelt es einer genauen Regelbeschreibung für das jeweilige politische decorum, doch die gesunde Vernunft („recta ratio“) gilt stattdessen als Richtschnur für das decorum („decori communis regula“).60 Diese verschiedenen decora bedingen die Veränderlichkeit des politischen decorum: Je nach Völkern, Landschaften, Städten und Gesellschaften kann das decorum variieren.61 Diese Variation resultiert zum einen aus den sozialen Rangunterscheiden, ist aber auch bedingt durch die „zeitliche und situative Konstanz“62.

Das Prinzip des politischen decorum zeigt sich darin, dass der Mensch seine natürlichen und zufälligen Mängel vor seinen Mitmenschen verbirgt und keinen Ekel durch sein Handeln erregt.63 Diese Art des politischen decorum ist am besten zu erfassen und beobachten, wenn das eigene Tun durch Nachahmung („quod sit imitatio rationalis“) derjenigen Menschen des je eigenen Standes, die als vortrefflich und vorbildlich gelten, bestimmt wird, und die Regeln des justum, honestum und decorum nicht verletzt werden.64 Interessant ist hier die pragmatische Formulierung „Nachahmung von Menschen, die als vorbildlich gelten“, nicht notwendigerweise von Menschen, die vorbildlich sind. Der Anschein von Vortrefflichkeit reicht für das politische decorum allem Anschein nach für Thomasius aus.

Thomasius’ „Wissenschaft der Wohlanständigkeit“, die die moralische Beschaffenheit des menschlichen Handelns (Cautelae XV, 9) zum Thema hat und zwischen dem wahren decorum (decorum verum) und einem Scheindecorum (decorum apparens) unterscheidet (Cautelae XV, 14), berührt sich auch mit dem Christentum. Trotz des scheinbaren „Widerstandes“65 gegenüber Standesunterschieden und den daraus resultierenden verschiedenen decora – die zunächst scheinbar schwerlich mit dem christlichen Gesetz der Brüderlichkeit und Gleichheit zu vereinen sind – steht die Lehre vom politischen decorum nicht im Gegensatz zum Christentum: „Tantum vero abest, ut decorum politicum repugnet doctrinae Christi“66. Ganz im Gegenteil: Thomasius führt Beispiele für das politische decorum an, die zu finden und aufmerksam zu studieren seien: Christus strafe den Pharisäer nur leicht, als dieser ihm nicht die Füße wäscht, was ihm eigentlich das politische decorum als wohlanständige Tat und als Verhalten gemäß der Sitten der Juden gebiete.67 Dies ist Thomasius’ Hinweis dafür, dass das Christentum dem Christen und jedem Menschen rate, nach seinem jeweiligen Stande das politische decorum zu beachten und diese Kautelen, die Thomasius in diesem 15. Hauptstücke vorgestellt hat, zu berücksichtigen.68

In den oben besprochenen Werken von Christian Thomasius hat die Angemessenheit durchaus eine besondere Relevanz für seine Theorie. Nach Frederick Barnard ist der Begriff des decorum bei Thomasius mit demjenigen der „Rechtmässigkeit“ und Rechenschaft eng verbunden und beschreibt eine moralische und legale Dimension menschlichen Verhaltens, ohne jedoch eine strikte moralische Kategorie für Thomasius zu sein.69 Das decorum in der Konzeption von Christian Thomasius ist nach Barnard als ziviles Ethos für Gesellschaft und Politik zu sehen.

Zwar wird bei Thomasius, wie Till und Braungart gezeigt haben, eine paradigmatische Umstellung des decorum und der Affektenlehre, von der Rhetorik auf die Anthropologie vorgenommen, doch zeugen seine Beschäftigung mit dem decorum und seine Forderung und Beschreibung einer „Wissenschaft der Wohlanständigkeit“ von einem Desiderat für Gesellschaft und Wissenschaft im 17. Jahrhundert. So lässt sich auch eine Vielzahl zeitgenössischer Autoren nennen, die sich dem decorum als sozialem Regulativ widmen: Cumberland, Velthuysen, Pufendorf, Jungendres, Amthor oder Mencke70, um nur einige zu nennen. In der Neuordnung der Gelehrtenrepublik, die eine Aufwertung der Nationalsprache und deren Akzeptabilität und Angemessenheit71 in Poetik und Rhetorik, Hofberedsamkeit, Patriziat und Beamtenaristokratie zur Folge hat, ist der Bedarf an einem Verhaltensmaßstab jenseits von Recht und Moral offensichtlich.

Die normative Kraft des Decorum

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