Читать книгу Die normative Kraft des Decorum - Sophia Vallbracht - Страница 5

1.2 Intention der Arbeit

Оглавление

Auch stimmt damit das gemeinste Urteil der gesunden Menschenvernunft vollkommen zusammen; nämlich dass der Mensch nur als moralisches Wesen ein Endzweck der Schöpfung sein könne [...]. Kant: Kritik der Urteilskraft. II, §86.

Die vorliegende Arbeit hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Begriff des decorum in seiner ethischen Prägung bei Cicero und Ambrosius in den gleichnamigen Schriften De officiis herauszuarbeiten. Das Augenmerk der bisherigen Forschung lag, wenn es das decorum betraf, meist auf seinem ästhetisch-poetischen Aspekt. Zwar ist die Rhetorik eine sprachschöpferische Kunst, die sich auch um den ästhetischen Aspekt von Sprache kümmert, doch sprachliche Schönheit ist wirkungslos, wenn sie sich nicht in den sozialen Kontext der Rede einfügt. Rhetorik, Rede, Sprache und damit auch der Mensch existieren nicht in einem Vakuum, sondern in einem sozialen Miteinander, das von ethischen Maximen und Normen geprägt ist. Auch im säkularisierten 21. Jahrhundert handeln, orientieren und urteilen die Menschen nach Prinzipien, die individuell festgesetzt oder ausgesucht worden sind, aber doch von der Gemeinschaft der Menschen als Konvention akzeptiert werden müssen, will das Individuum auch als soziales Wesen leben. Ansonsten würden sich diese Prinzipien ad absurdum führen, wenn sie dem Individuum nicht einen Platz in der Gemeinschaft der Menschen zuweisen würden. Die Verbindung von rhetorischen und ethischen Prinzipien geschieht im Menschen selbst. Dabei ist die Sprache nicht wegzudenken. Von daher ist es einleuchtend, wenn nach Heidegger die Sprache das Sein quasi beherbergt, so dass er sagen kann: „Die Sprache ist das Haus des Seins“1. Über die Sprache bekommt der Mensch ein Mittel der Reflexion an die Hand, das ihm sein Sein vor Augen führt. Heideggers Daseinsanalyse des Menschen weist auf einen ethischen Bezugsrahmen von Rhetorik2 hin. Sein Rhetorikverständnis ist dasjenige einer rhetorischen Praxis als „Kollektivereignis“3.

Allerdings darf man nicht verkennen, dass die heideggerschen Termini „Sprache“ und „Rede“ im Rahmen seiner fundamentalontologischen Daseinsanalyse (so in seiner Einleitung zu Sein und Zeit, S. 13) zu verstehen sind. Die Rede ist für ihn eine der Existenzialien, neben der Befindlichkeit und dem Verstehen, die das Dasein erschließen. Sie ist die „Artikulation der Verständlichkeit des In-der-Welt-seins“.4 Reden heißt „aufweisendes Sehenlassen“ (Sein und Zeit, S. 32) und ist untrennbar mit dem Verstehen verbunden. Rede als Existenzial des Menschen ist bei Heidegger das ontologische Fundament der Sprache, auf dem der Einzelne seine existenziellen Entscheidungen treffen muss. Sprache ist dabei lediglich als die „Hinausgesprochenheit der Rede“ definiert. Sie ist nach dem Paragraphen 34 das weltliche Sein der Rede. Dasein ist „Sichaussprechen“ (S. 162), „redendes In-Sein“ (S. 165).

In dieser vorliegenden Studie steht aber nicht so sehr Heideggers ontologisch-anthropologische Sicht des rhetorischen Logos im Fokus, als vielmehr die Frage, inwiefern sich Rede als Performanz von Sprache ethisch und rhetorisch angemessen ausprägt. Man könnte dennoch von einem „rhetorischen Sein“ sprechen, das sich in Sprache ausdrückt, als einem Kommunikationsprozess, in dem rhetorische und ethische Kategorien wie Ethos und Glaubwürdigkeit eine Rolle spielen. Das decorum nimmt dabei den primären Rang ein, da es anderen rhetorischen Kategorien (wie beispielsweise der Stillehre) übergeordnet ist, indem es den Bezugsrahmen darstellt, der weitere ethisch fundierte Kategorien beinhaltet.

In der vergleichenden Betrachtung von Ciceros und Ambrosius’ Werk De officiis soll dieser ethisch-rhetorisch weit gesteckte Rahmen deutlich werden. Marcus Tullius Cicero und Aurelius Ambrosius, zwei Autoren, die aus ihrem unbeirrbaren Glauben an ihr Tun ihr Selbstbewusstsein beziehen und auf Grund der ethischen Abstimmung ihrer Überzeugungen mit ihrer Lebensausrichtung herausragende Persönlichkeiten der Antike beziehungsweise der Spätantike darstellen, nehmen sich eines gemeinsamen Themas an, nämlich des Themas der Angemessenheit, zum einen in seiner rhetorisch-politischen, zum anderen in seiner rhetorisch-christlichen Ausprägung. Was veranlasste Ambrosius über 400 Jahre nach Cicero, ein weiteres Offizien-Buch zu schreiben? Ist dies indirekt als Widerlegung Ciceros gedacht? Konvergieren oder differieren die beiden Konzepte? Wie sind sie auf dem Hintergrund des jeweiligen Zeitalters rhetorisch zu bewerten? Auf diese Fragen soll hier Antwort gegeben werden.

Ambrosius bezog sich mit De officiis ministrorum offensichtlich bewusst auf Cicero und machte dessen decorum-Konzept für seine Arbeit fruchtbar. Beide Autoren verwenden weitere Begriffe als flexible Termini, mittels derer der Gehalt des decorum der jeweiligen Verfasstheit der Gesellschaft angepasst wird, in der das decorum seine Norm setzende Kraft entfalten konnte und sollte.

Ambrosius nimmt die erste Umfunktionalisierung von decorum vor, indem er verecundia (als Vorbedingung des ambrosianischen decorum), lex silentii (als die verborgene Seite des ambrosianischen decorum) und das officium als praeceptum (als christlicher Gebotskatalog) dem decorum zuordnet und es so als eine Norm göttlicher Provenienz bestimmt. Aus Ciceros rhetorisch-ethischem decorum wird nun durch Ambrosius’ Pflichtenethik ein christliches decorum. Mit Augustinus (Liebesethik) findet dann eine zweite Umfunktionalisierung des ciceronischen decorum statt, wenn er sein Verständnis von decorum eloquium vorstellt, eine Synthese des ciceronischen und ambrosianischen decorum im christlichen Bereich. Neue Gedanken zum Begriff des decorum sind erst durch das Christentum gekommen und so in der heidnischen Antike nicht zu finden.

Die vergleichende Analyse von Ciceros und Ambrosius’ decorum wird dann in einem weiteren Schritt ausgeweitet; das Angemessene wird in der Theorie der Rhetorik und als Diskursprinzip in verschiedenen Spannungsfeldern untersucht, unter Einschluss der ästhetischen, emotionalen5 und pragmatischen Dimension, wobei ihm schließlich als rhetorischem Prinzip sein Platz in einem Kommunikationsmodell zugewiesen wird.

Die normative Kraft des Decorum

Подняться наверх