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2.2 Römische Etymologie: decorum, aptum, proprium, accommodatus und convenit
ОглавлениеAuf dem altgriechischen Konzept des πρέπον aufbauend, ist es besonders Cicero zu verdanken, dass er griechisches Gedankengut aus Athen nach Rom importiert und in das römische decorum-Konzept integriert hat. Während die Griechen sich mit den zeitlichen und situativen Ausprägungen des πρέπον beschäftigten, spielen im römischen decorum nicht nur rhetorische und intellektuelle, sondern auch moralische Fähigkeiten im Rahmen der societas hinein. Ciceros Übertragung des Begriffs „πρέπον“ in De officiis I, 93 und im Orator, 70 ins lateinische „decorum“ bedeutet einen inhaltlichen Anfangspunkt, von welchem sich Cicero, Horaz und Quintilian lösen werden, um je eigene Überlegungen anzustellen. Die Bedeutungsentwicklung des ciceronischen decorum-Konzeptes ist wirksam bis in die Renaissance hinein (beispielsweise bei Puttenham, Ascham, Castiglione oder Shakespeare).
Analog zum altgriechischen Begriffsfeld wird auch in der lateinischen Terminologie das Angemessenheitskonzept in den einzelnen Werken von Cicero bis Quintilian anhand eines Begriffsfeldes im Rahmen des decorum eingekreist: aptum, proprium, accommodatus und convenit.
Das lateinische Wort „decorum“ ist sowohl der Genitiv Plural des Nomens „decor, -is“ maskulin für „Zierde, Anmut, Schicklichkeit“, als auch der Nominativ oder Akkusativ Singular des Adjektivs „decorus, -a, -um“ für „geziemend, anständig, schicklich“ und des Nomens „decorum, -i“ Neutrum für „Anstand, Schicklichkeit“. Obwohl Cicero als die Quelle des römischen decorum-Begriffes gilt, darf doch das älteste Handbuch der Rhetorik – das zunächst im Mittelalter und in der frühen Renaissance fälschlicherweise auch Cicero zugeschrieben worden ist – die Rhetorica ad Herrenium nicht übergangen werden. Dieses vierbändige Werk, welches in detailgetreuer Genauigkeit die Rhetorik als Technik der Rede darstellt, behandelt in Buch IV die systematische Stillehre in lateinischer Sprache und unter der Rubrik „ornatus“ das decorum als den Teil der rhetorischen Kunst, der eine Rede schön zu machen vermag. Das decorum als Stilgröße wird in IV, 17 bestimmt als Vornehmheit im Geschmack (elegantia), als künstlerische Komposition und als ästhetische Vornehmheit (dignitas). Dieser Definition des decorum liegt immer auch eine implizite Vorstellung von Schönheit zugrunde, was Thomas Kranidas veranlasst, von einer „surface propriety“ zu sprechen.1
Das Verdikt über ein decorum-Konzept als bloßer ästhetischer Größe verkennt jedoch dessen komplexe Natur a priori. Es ist dabei Ciceros Verdienst, das decorum als stilistisches Rhetorikprinzip zu einem rhetorisch-ethischen Konzept erweitert und entwickelt zu haben. Indem Cicero in seinem decorum-Begriff den rhetorischen und moralischen Aspekt miteinander zu verbinden versucht, gelingt es ihm auch im Kleinen, das große Schisma von Philosophie und Rhetorik, das sich durch Sokrates aufgetan hat, zu überbrücken.
Während das decorum in der Rhetorikgeschichte vor allem als ästhetisches Stilideal bekannt ist, erfährt es bei Cicero nun eine neue Bestimmung: Es wird zu einer ubiquitär wirkenden ethischen Handlungsnorm des Menschen in der Gesellschaft erhoben. Da Cicero als praktizierender Politiker das wahre Einsatzgebiet der Rhetorik in der Politik und der societas sieht, holt er die Rhetorik aus ihrem formalen Konzept und integriert sie in das soziale Leben der Römer. Das decorum ist als rhetorisches und soziales Prinzip bestimmt, das eine enge Verbindung mit dem Moralischen (honestum) eingeht. Wie im 3. Kapitel dieser Arbeit en détail beschrieben wird, wirkt das decorum bei Cicero auch in den verschiedenen virtutes nach, die in der römischen Vorstellung von einer funktionierenden Gesellschaft gemäß der mores maiorum ihren festen Platz haben. So kann das ciceronische decorum zum einen gleichbedeutend sein mit dem sophistischen καιρός, aber auch mit honestum, iusta (off. I, 94) oder proprium (off. I, 2 und I, 113) je nach rhetorisch-sozialem Anwendungsgebiet. Trotz seiner vielfältigen Konnotationen – oder gerade deshalb – ist das ciceronische decorum der Garant für Ordnung, Maß und Harmonie im römischen Leben und wird in off. I, 31 als Teil der „fundamenta iustitiae“ bestimmt.
Angesichts der definitorischen Dominanz von decorum als ethischer Handlungsnorm in Rhetorik und Gesellschaft, ist es für die begriffliche Klärung2 von Bedeutung, dass Cicero, um über die stilistische Angemessenheit einer Rede zu sprechen, einen weiteren Begriff verwendet: das aptum. Das innere aptum bezeichnet dabei die kohärente Angemessenheit der Rede selbst, während das äußere aptum den externen Bezugsrahmen, wie die örtlichen Gegebenheiten, das anwesende Publikum und das Setting3 der Rede umfasst. Das aptum beschreibt bei Cicero eine rein rhetorische Handlungsnorm; das decorum erweitert dieses Spektrum ins ethische Wirkungsgebiet des rhetorisch handelnden Menschen in der societas allgemein.4 Im Orator, 70 betont er die ubiquitäre Bedeutung des decorum für das menschliche Reden und Leben, das wie die Redekunst auf der Weisheit (sapientia) basiert. Trotz aller Regeln muss der Redner das decorum erkennen, wozu ihn die Weisheit befähigt. Aufgabe des Redners ist es, sich auf die sechs phänomenologischen Variablen des decorum einzustellen: Umstände (tempus ac locus), Redegegenstand (res), Orator, Rezipienten (auditorum), Klienten und Redegegner. Doch nicht nur diese Bedingungen einer angemessenen Rede sind im rhetorischen Fallkalkül zu analysieren, sondern besonders das angemessene Verhältnis von Inhalt und sprachlichem Ausdruck wird im Orator, 72f. als die Hauptregel des decorum aufgeführt. Diese konstitutive Wechselseitigkeit von res und verba wird qua decorum verwirklicht. So ist es nicht verwunderlich, dass sich Cicero in großen Teilen in off. (vgl. Kapitel 3.1 der vorliegenden Arbeit) und de orat. (I, 144/III, 23-25/III, 37 und 53) dem Verhältnis von ornatus und decorum widmet. In de orat. III, 212 ist die Fähigkeit des Redners, einer Rede den angemessenen Stil zu verleihen, mit dessen Kunstfertigkeit (facere artis), Begabung (natura) und praktischen Klugheit (prudentia) untrennbar verbunden. In De oratore (III, 76 und 80/III, 91) preist Cicero die wahre Rhetorik und den wahren Redner, welcher als Krönung der Rhetorik sich wirkungsvoll und angemessen auszudrücken vermag: „[D]icere caput esse artis decere“5. Im Brutus (292) veranschaulicht Cicero dieses Konzept am Beispiel von Sokrates, der sich stets bescheiden verhielt und wegen des Vorwurfs der Asebie verhaftet worden war. Dieser weigerte sich zu fliehen, weil er auch im Angesicht des Todes unverbrüchlich zu seinen Lebensprinzipien stand. Das ciceronische decorum umfasst ergo mehr als ein angemessenes Zeit- und Stilgefühl für eine Rede, es umfasst die rhetorische Performanz gemäß des Wissens- und Bildungsstandes eines Redners und wirkt als ethische Handlungsnorm in der Kunst des Redens und allgemein im Leben.
Horaz’ Ars poetica nimmt Ciceros Prägung des decorum auf und fügt dem ethischen decorum das ästhetische decorum im Wirkungsbereich der poetischen Angemessenheit hinzu. Zwar findet sich in Horaz’ berühmten Römeroden das decorum, wie auch bei Homer, als Heroenkodex für tapfere Kämpfer, die im Kampf ihr Leben für das Vaterland geben (III, 2, 11-13), doch ist es seine poetische Lehrschrift, die das decorum für dichterische Werke und für die Person des Dichters anwendbar macht. Qua phänomenologischer Zweiteilung erfährt das decorum bei Horaz ein rhetorisches Gepräge, indem gerade diese Unterscheidung von ästhetischem und ethischem decorum diese zwar gattungstechnisch trennt, doch inhaltlich verbindet. So harmoniert die Forderung an den Dichter, ein gelehrter Nachahmer vorbildlicher Charaktere zu sein (318), mit der Forderung, seine Dichtung an die Wahrheit anzupassen (338). Wenn Einheit, Geschlossenheit des Werkes (23) und Sinnlichkeit als Mittel der Veranschaulichung von Emotionen (180-182) gefordert werden, schließt dies ein, den Stil dem Alter und Charakter der involvierten Person (178) anzupassen. Und schließlich wird das Diktum des scibendi recte (309) als poietisches Ziel des Dichters vor Augen geführt, der sich seiner Stellung innerhalb der menschlichen Gesellschaft als Herausragender unter den Menschen bewusst sein muss und dem als rhetorische Wirkungsfunktion das docere und delectare zugeordnet wird. „Recte“ umfasst hier virtus und decorum und ist somit nicht auf den alleinigen stilistischen Aspekt einer Dichtung beschränkt, sondern bezieht die moralische Konnotation von τὸ ὀρθόν mit ein.6 Selbst angesichts der Tatsache, dass ein Dichter über ingenium für die Poetik verfügt, muss sich zu diesem Kunstverstand, der sich graduell entwickelt hat, Lernen, Üben und Arbeiten gesellen (409-410), will er „richtig schreiben“. In Horaz’ holistischer Konzeption des poietisch Angemessenen sieht Lotte Labowsky alle drei Bedeutungen des altgriechischen πρέπον-Konzeptes berücksichtigt und vertreten: „das πρέπον, das sich auf die dichterische ἠθοποιία und das rhetorische, das sich auf die Nuancierung des Sprachstils und die εὐκαιρία bezieht.“7
Nach Cicero und Horaz ist Quintilian zu nennen, der zwar in weiten Teilen Ciceros Auffassung von decorum teilt, jedoch auch einen weiteren bedeutenden Aspekt für das Verständnis des römischen decorum bereithält: decorum als sinnlich erfahrbares Wissen.
In der Taxonomie Quintilians ist der Begriff des decorum eng mit decor, ornatus, pulchrum und aptum verbunden. Es bezeichnet eine ästhetische Tugend, die ethisch wirkt. So definiert Quintilian das „apte dicere“ als die vierte Tugend der elocutio, die sich stark am Rezipienten – respektive den Richtern – zu orientieren hat. Sein decorum-Konzept ist rhetorisch und ethisch fundiert, „quid conciliando, docendo, movendo iudici conveniat“8. Diese Mehrdimensionalität des decorum wirkt bereits in der inventio (XI, 1, 7) und setzt den Nutzen mit dem decorum in Verbindung, wobei das decorum den Vorsitz übernimmt und analog zu Cicero dem honestum unterliegt (XI, 1, 9). Die ubiquitäre Bedingtheit des decorum zeigt sich wie bei Cicero an den beteiligten Personen, an der Zeit, dem Ort, dem Anlass (causa), allerdings auch an der Gesinnung des Redners (animus).9 Diese erkennt man nach Quintilian in der Rede, die das unsichtbar verborgene Innere (animi secreta) und die ethische Gesittung (mores) des Redners offenbar werden lässt. Rhetorisch gesehen resultiert das Angemessene gerade aus dem harmonischen Zusammenspiel von rhetorischer Technik und ethischem Auftreten des Redners in der römischen Gesellschaft. Der im Original griechische Sinnspruch „ut vivat, quemque etiam dicere“ in Buch XI, 1, 30 wird bei Quintilian zum Leitmotiv seines decorum-Begriffes. Der römische orator perfectus wird die Ziele in seiner Rede zu erreichen versuchen, die im Einklang mit dem honestum stehen. Apte vivere und apte dicere sind zwei Seiten der sozialen Medaille des römischen Redners. Deshalb stellt Quintilian außer Fallbeispielen und einzelnen Hinweisen keine rhetorischen Regeln für das decorum auf, sondern führt in XI, 1, 42 angenehme und somit angemessene Eigenschaften eines guten Redners – im rhetorischen, wie auch im moralischen Sinn – an: humanitas, facilitas, moderatio und benevolentia.
Neben decorum verwendet Quintilian auch noch weitere Synonyme für Angemessenheit, die jeweils ihre eigenen Konnotationen einbringen. So verwendet er „convenit“ („es gebührt/schickt sich“) neben der Bedeutung eines geziemenden Redestils (XI, 1, 93) auch, um sittliches Verhalten am Beispiel von Sokrates (XI, 1, 11) oder anhand der Schilderung eines tränenumflorten Zeugen vor Gericht (als Konjunktiv Präsens aktiv „conveniat“ in XI, 1, 84) zu bezeichnen, welches angemessen auf den Redner abgestimmt ist beziehungsweise sein muss und so dessen Rede verstärkt und glaubwürdig macht. Mit „accommodamus“ („wir passen an“), das derselben Wortfamilie entstammt wie „accommodatus“ (Partizip Perfekt zu oben genannten Verb für „schicklich/angepasst“) bezeichnet Quintilian in XI, 1, 39 die sprachliche Abstimmung des Redners auf die Wesensart (mores) seines von ihm vertretenen Klienten.
Wie für Cicero ist Quintilians Definition des decorum zu verstehen als ein Wissen um das rechte Maß, das nach seiner Auffassung aber nicht mit dem Verstand, sondern nur durch die Sinne erfahr- und erfassbar ist. Diese Betonung der Sinneswahrnehmung (αἴσθησις) ist genuin „quintilianisch“.
Die etymologische Untersuchung von Termini innerhalb des Angemessenheitskonzeptes bei Griechen und Römern hatte zum Ziel, die unterschiedlichen kulturellen und begrifflichen Prägungen des decorum aufzuzeigen. Während sich die Ethik bei den Griechen mit Platon und Aristoteles in der Ästhetik des Schönen verortet, ist sie bei den Römern eine Ethik innerhalb der societas, die durch den gesellschaftlichen Rang und das Verhalten einer Person, d.h. durch das Ethos, welches sich aus der auctoritas und der dignitas speist, maßgeblich konstituiert wird.