Читать книгу Liebe im Gepäck - Sophie Berg - Страница 10
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Sonntag, 20. Juni, wieder im Südwesten der Stadt
Sonntag, pünktlich um elf Uhr, läutete es an der Hauseinfahrt, und eine durchdringende Hupe, dreimal betätigt, drang bis ins Arbeitszimmer. Charly, pünktlich wie immer. Harry betätigte den Knopf an der Gegensprechanlage, das Edelstahltor glitt leise zur Seite und ließ die Limousine zur Villa vorfahren. Es war ein warmer, leicht bedeckter Junitag. Harrys dunkle Locken glänzten ebenso wie die Gläser seiner auffallenden Sonnenbrille. Für eine Sonnenbrille bestand keine Notwendigkeit. Denn die Sonne hatte sich hinter Schleierwolken verzogen. Doch Anuschka bestand darauf, dass er sich in der Öffentlichkeit immer mit Sonnenbrille zeigte. Das machte ihn interessanter, unterstrich seinen Status. Ebenso wie der dicke Ring an seinem Finger. Anuschka hatte ihm den Ring geschenkt. Harry mochte das Ding nicht, doch für seine Managerin war es ein unverzichtbares Accessoire. Seine Anhängerinnen liebten Glanz und Glamour.
Sie erreichten das Fernsehstudio eine gute Stunde vor Sendebeginn. Der strenge Portier, der die Schranken bewachte, wechselte mit Charly ein paar nichts sagende Worte. Es war klug, ihn bei Laune zu halten. Der Portier war einer der wichtigsten Männer im Funkhaus. Er bestimmte, wen er durchließ und wer zu den Mächtigen in den Sender vorgelassen wurde.
Die Dame an der Rezeption strahlte, als sie Harry sah, und flötete sofort in den Telefonhörer: »Ankunft Herr Seeberstein!«
Eine Tür ging auf, und eine junge Frau kam heraus, um Harry zu begrüßen. »Herr Seeberstein, schön, Sie zu sehen. Ich darf Sie in die Garderobe führen? Frau Horn hat soeben angerufen. Sie hat den kleinen VIP-Raum im neunten Stock reserviert und gebeten, Champagner bereitzustellen. Es scheint, als hätten Sie etwas zu feiern. Was kann das wohl sein?«
Harry zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung. Jetzt wollte er sich zuerst einmal auf diesen Auftritt konzentrieren. Er wünschte, es wäre der letzte in dieser Art. Während er der Aufnahmeassistentin durch die langen Gänge des Gebäudes folgte, gingen ihm ein paar Zeilen durch den Kopf:
Lange Gänge, graue Türen, stets die Enge, sich zu verlieren. Knapp die Luft, das Hirn ist leer, warum nur kam ich hierher?
Auch dieser Text hatte wohl nicht das Zeug zu einem Hit.
»Und darum freue mich auf unseren nächsten Gast. Begrüßt mit mir: Seeberstein!« Die blonde Moderatorin überschlug sich fast vor Freude.
Applaus aus der Konserve brandete auf.
Anuschka hatte es gerade rechtzeitig in den VIP-Raum geschafft. Da saß sie, noch schnaufend, in einem zu schmalen Designer-Fauteuil, kickte die Stöckelschuhe von den Füßen und legte die Beine auf den Tisch. »Guido, einen Espresso.«
Der Sekretär war derartige Befehle gewohnt. Ohne Kommentar wandte er sich der Maschine zu. Ein Großbildmonitor zeigte das laufende Programm des Senders. Derzeit zeigte es Harry.
Mit einem Ruck setzte sich Anuschka in ihrem Sessel auf. Was war denn nun wieder in ihn gefahren? Was sollte denn diese seltsame Aufmachung? Ein glänzender weißer Anzug am helllichten Tag? Weiße Anzüge pass-ten in eine Sommernachts-Show. Wenn überhaupt. Sie hatte die Marke »Seeberstein« aufgebaut. Seeberstein war ein Mann. Keine Witzfigur im weißen Anzug. Wenn sie sich nicht um alles selbst kümmerte, ging schon etwas schief. Na, Gott sei Dank hatte sie jetzt den Vertrag mit einem der größten Privatsender in der Tasche. Harry würde sich von einer anderen, einer verletzlicheren Seite zeigen. Also, wenn das nicht den Plattenverkauf ankurbeln würde! Die männlichen Fans würden dort Harrys sportlich durchtrainierten Körper im Einsatz sehen können, bronzefarben gebräunt. Sie durfte nicht vergessen, ihm eine Flasche Nussöl mitzugeben. Das würde ihn nicht nur vor Sonnenbrand schützen, sondern vor allem seine Muskeln zum Glänzen bringen. »Glanz und Glamour«, sie sagte es ja immer.
Inzwischen hatte Harry auf einem roten Plastikstuhl Platz genommen. Ein Designermodel. Etwas unglücklich gewählt. Denn Harry saß so tief, dass er seine Knie fast neben den Ohren hatte.
Anuschka verzog unwillig das Gesicht.
Die Moderatorin hielt Harry die großformatige Zeitung unter die Nase. Es hatte Anuschka viel Mühe gekostet, ihn und Giselle dort auf das Titelblatt zu bringen. Doch wie man sah, es hatte sich ausgezahlt.
»Was müssen wir lesen, Seeberstein?« Die Stimme der Moderatorin klang zutiefst traurig und enttäuscht. »Musste es denn so schlimm kommen? Müssen zwei Menschen, die sich einst echt krass geliebt haben, so eine Schlammschlacht durchziehen?«
Anuschka nickte befriedigt. Die Moderatorin hielt sich genau an die Fragen, die vereinbart waren. Nun würde Harry seufzend und mit Tränen in den Augen verkünden, wie Leid ihm alles täte.
Doch was war das? Harry wirkte nicht bedrückt. Harry war sichtlich gelangweilt.
»Es werden täglich auf der Welt Tausende Ehen geschieden. Ich sehe keinen Grund, um meine Scheidung so ein Theater zu machen.«
Anuschka blieb der Mund offen stehen.
Der Moderatorin blieb ebenfalls der Mund offen stehen. Das war eine andere Antwort als die, mit der sie gerechnet hatte. »Hm, ja. Also, na ja, Sie sind eine Person öffentlichen Interesses, und Ihre Fans …«
»… interessiert meine Musik.«
Die Moderatorin war nicht erfreut, dass das Gespräch so anders lief als vereinbart. »Musik? Ich höre immer: Musik. Habe ich etwas verpasst? Gibt es tatsächlich etwas Neues?«
Diese Spitze saß.
Harry dachte nicht daran, das zuzugeben: »Aber natürlich. Ich bin in einer höchst kreativen Phase. Im September gehts ins Studio, mit neuen Liedern, komplett neuem Sound …«
»Na, da freuen wir uns schon gewaltig drauf. Sicher können Sie auch schon den Namen der neuen CD verraten, wenn Sie schon so weit sind …«
Harry hatte keine Ahnung. Er hasste es, nichts Neues bieten zu können. Er hasste diese Interviews. Er hasste diese Frau. Vor allem diese Frau. »Frau«, sagte er schnell, um die Lücke zu schließen, die nach der Frage der Moderatorin entstanden war.
»Hat der Mann den Verstand verloren? ›Frau‹? Was soll denn das für ein Titel sein? Mit mir ist er jedenfalls nicht abgesprochen.« Anuschka knallte ihre Faust auf den Tisch.
»›Frau‹ also. Schlicht und einfach. Ach so. Aha. Na, da dürfen wir ja gespannt sein.« Die Moderatorin fand damit eine gute Gelegenheit, zu ihrem vorbereiteten Text zurückzukehren: »Haben Sie Ihre Frau geliebt?«
Harry war nun doch auch froh, das Thema zu wechseln. Er hätte schließlich nichts Näheres zur angekündigten CD »Frau« zu berichten gehabt. »Natürlich habe ich das. Wir sind jetzt vierzehn Jahre zusammen. Das ist eine lange Zeit. Ich wäre nicht so lange Zeit mit ihr zusammen geblieben, hätte ich sie nicht geliebt.«
Das entsprach nun schon eher den Erwartungen der Moderatorin: »Seeberstein, haben Sie eine Erklärung: Wo ist diese Liebe hingekommen?«
Harry zuckte mit den Schultern: »Nach Bayern?«
Anuschka war fassungslos. Wie kam der Idiot dazu, jetzt auch noch Schorsch ins Spiel zu bringen? Sie konnte nur hoffen, dass die Moderatorin nicht nachfragte. In der Branche war längst bekannt, dass Giselle ein Verhältnis mit ihrem Masseur hatte. Doch noch war die Tatsache nicht an die Öffentlichkeit gedrungen.
Die Moderatorin war viel zu perplex, um gezielt nachzufragen. Sie blickte auf das nächste Stichwort-Kärtchen in ihrer Hand: »Ich habe gelesen, dass Sie einmal von einer Tournee zurückgekommen sind und einen fremden Rasierer im Badezimmer entdeckten. Tut es nicht sehr weh, wenn man ahnt, hintergangen zu werden?«
»Haha«, dachte Harry mit einem Anflug von Zynismus. Da hatte es nichts zu ahnen gegeben. Dass seine Frau ein Verhältnis hatte, das wusste er seit drei Jahren. Sie hatte ihn bereits vorher mindestens zweimal betrogen. Und er war während seiner Ehe, um genau zu sein, in den letzten fünf Jahren seiner Ehe, mit vielen anderen Frauen im Bett gewesen. Da sollte er sich über einen Rasierer im Badezimmer aufregen? Und in Tränen ausbrechen? Er hatte nicht die geringste Lust, auf die Tränendrüse zu drücken: »Ah, der Rasierer. Das hatte sich schnell aufgeklärt. Giselle verwendete ihn, um ihre Beine zu rasieren. Das werden Sie sicher verstehen.« Er blinzelte der Moderatorin verschwörerisch zu und schenkte ihr den Blick, der so manches Frauenherz auf der Stelle hätte schwach werden lassen: »Ein Topmodel mit unrasierten Beinen? Könnte sich die Welt etwas Schlimmeres vorstellen?«
Anuschka nippte an ihrem Espresso und verbrannte sich prompt den Mund: »Guido«, brüllte sie, »zu heiß!«
Am liebsten hätte sie »Harry! Halt den Mund!« gerufen. Doch Guido war nun mal hier. Und er konnte sie hören. Harry war im Studio. Die Sendung war live. Und Harry war soeben dabei, alles zu verbocken.
Sie hätte selbst auf der Bühne bleiben sollen. Wenn sie zielstrebig ihre Karriere fortgesetzt hätte, dann wäre sie jetzt nicht mehr länger nur Background-Sängerin gewesen. Musical-Star hätte sie werden können. Ein leibhaftiger Prinz hatte sie einmal auf seine Jacht eingeladen. Prinzessin hätte sie werden können. Doch was war sie geworden? Managerin. Managerin eines undankbaren, verstockten, unbelehrbaren Mannes.
Sie hatte keine Lust, dieses Interview länger anzuhören. »Guido, schalte den Mist ab!«
»Und nun darf ich unseren heutigen Stargast noch bitten, uns zum Abschied eines seiner Erfolgslieder zu singen, die wir ja seit Jahren kennen und lieben. Was wird es denn sein, Seeberstein?« Die Moderatorin versteckte ihre Attacke hinter einem scheinbar freundlichen Grinsen.
Harry erhob sich: »Wie wäre es mit ›Oberliga‹?«
So war es vereinbart. Und was hätte er auch sonst singen sollen? Das war sein letzter Hit, herausgekommen als Single-CD, auch schon vor einem Jahr.
Er stellte sich auf eine improvisierte Bühne. Die Hintergrundmusik wurde eingespielt, und dann sang er mit Play-back für die Kameraleute im Studio, den Regisseur, der gelangweilt in der Ecke lehnte, und den Mann, der ihm auf einem großen Bildschirm den eigenen Text entgegenhielt. So, als hätte er ihn nicht schon Hunderte Male gesungen. So, als hätte er ihn sich nicht selbst ausgedacht. Obwohl er seinen Text lieber vergessen hätte. Wahrlich keine Glanzleistung: »In der Liebe bin ich Sieger, da spiel ich in der Oberliga.« Es war gar nicht so leicht für Anuschka gewesen, ihn zu überzeugen, dieses Lied tatsächlich auf den Markt zu bringen. Er selbst hätte es lieber durch ein besseres ersetzt. Aber er hatte leider kein besseres gehabt.
Dann war der Auftritt zu Ende, die Moderatorin bedankte sich überschwänglich und bat das Publikum, dranzubleiben. Denn nach der Pause gab es ein Gewinnspiel. Bevor man den nächsten Gast begrüßte. Einen der besten Sprinter der Welt. Er hatte kürzlich bei der Europameisterschaft die Goldmedaille für Deutschland geholt. Dieser Mann hatte wahrlich einen Erfolg vorzuweisen. Und der Erfolg war noch ganz aktuell.
Harry winkte ins vermeintliche Publikum und verließ die Szene.
Die Moderatorin blieb ihm dicht auf den Fersen. »Was soll denn das gewesen sein, Herr Seeberstein? Das war doch mit Frau Horn ganz anders abgesprochen! Können Sie mich bitte im Vorfeld informieren, wenn Sie von unserem vereinbarten Programm abweichen?«
Harry hob die Arme, um dem Toritechniker zu ermöglichen, das Kabel des Mikrofons zwischen seinem Hemd und dem Sakko herauszuziehen. Er sagte kein Wort.
»Ich bin neu hier, verdammt noch mal. Ich habe Qualität abzuliefern. Und dann kommen Sie mit Ihrer kultivierten Langeweile und halten sich nicht an die Spielregeln.«
Charly stand in der Ecke und schwieg. Es war ihm anzumerken, dass er Seeberstein bereits in besserer Verfassung gesehen hatte.
»Es tut mir Leid«, sagte Harry nun doch, mit einem Anflug von Reue. »Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Diese ganze Scheidungsgeschichte nimmt mich mehr mit, als ich gedacht habe.«
War es wirklich die Scheidungsgeschichte?
Die Moderatorin zeigte sofort Verständnis: »Ja, ich kann es mir vorstellen.«
›Eigentlich eine nette Frau‹, dachte Harry und schenkte ihr ein Lächeln. Wie von selbst machte er einen halbherzigen Versuch, mit ihr zu flirten. Sie war sofort bereit, in das Spiel einzusteigen. Welche Frau war das nicht? In dem Augenblick, in dem er diese Bereitschaft wahrnahm, war sein Interesse auch schon wieder erloschen und seine Lust, dieses Spiel fortzusetzen, auf dem Nullpunkt angelangt. »Also dann, weiterhin gutes Gelingen.«
Er machte Charly ein Zeichen, ihm zu folgen, und kehrte in die Maske zurück, wo eine Assistentin bereitstand, um das Studio-Makeup aus seinem Gesicht zu entfernen.
Dann nahm ihn die Produktionsassistentin wieder in Empfang. »Ich bringe Sie in den VIP-Raum 3 hinauf. Frau Horn wartet schon auf Sie. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir vorher diese Autogrammkarten hier zu unterschreiben? Ich habe meinen Freundinnen versprochen, diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.«
Mechanisch griff Harry nach dem Kugelschreiber, der ihm hingehalten wurde.
Als Harry mit Charly endlich im VIP-Raum 3 auftauchte, war mehr als eine halbe Stunde vergangen und seine Managerin dementsprechend gereizt: »Warum ging das nicht schneller, Charly? Wer war schuld an dieser schlechten Organisation? Wir bieten Professionalität, wir verlangen Professionalität. Setz dich, Harry. Charly, Guido, ihr könnt draußen warten«. Sie schob ihre Mitarbeiter hinaus und schloss die Tür hinter ihnen.
Harry ließ sich müde auf einen Stuhl fallen und legte die Beine auf einen anderen. »Nun, Anuschka, was hast du bei dem anderen Sender erreicht?«
»Nicht so schnell, mein Lieber. Ich hab mir die Show angesehen. Bist du von allen guten Geistern verlassen? Harry, wenn ich dich managen soll, dann erwarte ich, dass du dich daran hältst, was wir beide ausgemacht haben. Denkst du, ich mache mir die Mühe, Antworten vorzuformulieren, wenn der Herr dann gedenkt, ganz andere von sich zu geben? Ich habe meine Zeit schließlich auch nicht gestohlen.«
Harry sagte nichts.
»Nun ja, es lief ja, Gott sei Dank, nicht im Hauptabendprogramm. Schau nicht so gelangweilt.«
»Ich schau nicht gelangweilt, ich bin gelangweilt!«
»Dazu hast du kein Recht. Und das weißt du genau. Liefere endlich zwölf neue Lieder und dann bin ich auch bereit, dir deine Launen wieder durchgehen zu lassen. Qualität gegen Qualität, Harry. Solange du nichts lieferst, musst du den gehörnten Ehemann spielen. Damit die Öffentlichkeit wenigstens irgendwie von dir Notiz nimmt.«
»Ich weiß, und ich mach es ja. Gibts hier irgendwo ein Bier?«
Anuschka stand wortlos auf, nahm eine Flasche aus der Minibar, öffnete sie und reichte sie Harry hinüber. »Gut. Das freut mich. Dann werde ich dir jetzt eine Sensation verkünden. Ich habe mit Siemann gesprochen. Du kennst ihn nicht, er ist leitender Redakteur bei TLR. Er ist zuständig für eine neue Sendereihe.«
»Es wird also jetzt endlich etwas mit meiner Moderation?«
Anuschka war kurz irritiert: »Deiner Moderation? Ach, du meinst die Idee, dass du eine Sendung moderieren sollst? Nein. Davon bin ich abgekommen. Der derzeitige Zeitpunkt erscheint mir nicht geeignet dafür. Außerdem gibt es bei keinem der erstklassigen Sender ein passendes Format für dich!« Sie zog eine ihrer langen, schmalen Zigaretten aus einem frischen Päckchen und zündete sie an.
Harry schwieg. Es war ihm selbst nicht klar, ob er froh war, dass diese Seifenblase geplatzt war, oder ob es ihm doch etwas ausmachte.
»Nein. Darum ging es nicht. Es ging um diese Wüstenshow. Du hast sicher schon davon gelesen.«
»Wüstenshow? Was soll das sein?«
»Harry, mach mich bitte nicht schwach! Jeder halbwegs normale Mensch, der ab und zu fernsieht, weiß, was TLR plant.«
»Mich hat noch nie jemand für einen halbwegs normalen Menschen gehalten.«
Harry nahm einen weiteren Schluck aus der Bierflasche. Wenn es nicht um die Moderation einer Abendshow ging, dann war er an Anuschkas Plänen nicht sonderlich interessiert. Ihm war es egal, wo er auftrat, um wieder seinen Song »Oberliga« zum Besten zu geben. War es eine Quizshow, war es ihm recht, war es eine Familiensendung, dann war es ihm auch recht, und wenn es eine Wüstenshow sein sollte, dann würde er eben dort singen. Sollten sie doch einige Tonnen Sand in das Studio kippen und ihn unter eine Plastikpalme stellen.
»Du erinnerst dich doch an die Geschichte mit Costa Cordalis.« Anuschka machte eine weit ausholende Geste. »Die Sendung im Dschungel. Das ist vor einiger Zeit gelaufen. Cordalis ist damals Dschungelkönig geworden, und die Verkaufszahlen seiner CD schnellten in kürzester Zeit von null auf hundert.«
»Du meinst die Sendung, in der sie Maden fressen mussten? Und in der man ihnen Aalschleim in den Nacken geschüttet hat?«
Anuschka nickte erfreut. »Ja genau. Wenigstens das weißt du. Nun will TLR auf diesen Erfolgszug aufspringen. Ihre Show heißt: ›Mir reicht es hier, schickt mich in die Wüste!‹ Wieder nur Prominente. Man sucht vor allem solche Leute, die zurzeit in einer Lebenskrise stecken. Und du musst zugeben, mein Lieber, dafür bist du geradezu prädestiniert.«
Harry riss die Augen auf.
»Ja selbstverständlich. Wenn nicht du in einer Lebenskrise bist, wer dann? Das Team steht übrigens schon fest.«
Sie nannte die Namen von zwei Sängerinnen. Der einen hatte der Friseur irrtümlich die blonden Haare schwarz gefärbt. Sie war in der größten Krise ihres Lebens. Dann kam noch die Exfreundin eines Schlagersängers dazu. Ein Politiker, den man nicht mehr gewählt hat. Ein Slalomläufer, der stets nach Zwischenbestzeit im zweiten Durchgang ausschied. Und ein Schauspieler, der seit fünfzig Jahren den jugendlichen Liebhaber spielte und nun auf einmal einen Großvater mimen sollte.
»Du nimmst doch nicht im Ernst an, dass ich bei so einem Schwachsinn mitmache?«
»Dass es ein Schwachsinn ist, das wissen wir alle. Und natürlich habe ich Siemanns Gerede, diese Sendung diene dazu, dass ihr euch wieder selbst finden könnt, mit einem strikten Handstreich unterbunden. Bei mir zieht diese psychologische Masche nicht. Mir geht es einzig und allein darum, dass sich deine Platten wieder verkaufen, Harry. Und nachdem du nichts Neues lieferst …«, sie hob abwehrend die Hand, »ja, ja, ich weiß, du wirst etwas Neues liefern. Etwas, das den sonderbaren Namen ›Frau‹ tragen soll. Ich habe deine Ankündigung gehört. Auch gut. Das heißt, nein, natürlich umso besser! Also, Harry, wenn du nichts Neues lieferst, dann ist diese Sendung Gold wert. Denn sie hält dich in den Schlagzeilen. Wenn du aber im Herbst wie vereinbart eine neue CD aufnimmst, dann ist diese Wüstenshow eine tolle Werbung vorab. Und du kannst ja auf der neuen CD einen Wüstensong aufnehmen.«
Harry war aufgestanden. Er vergrub seine Hände in den Taschen seines weißen Sakkos. »Es ist dir wirklich ernst damit, Anuschka, nicht wahr?«
»Selbstverständlich ist das mein Ernst. Ich habe den Vertrag bereits unterschrieben, Harry. Alles ist geregelt. Wir können gar nicht mehr zurück.«
»Ich nehme an, zu den üblichen Konditionen? Aussteigen kostet richtig viel Geld?«
Anuschka nickte: »So ist es. Außerdem habe ich mich selbst dafür verbürgt, dass wir dabei sein werden! Und ich breche mein Wort nicht! Aber es kann ja ohnehin keine Rede davon sein, dass du aus diesem Projekt aussteigst. Denn das ist deine Chance!«
»Wann soll das Unternehmen über die Bühne gehen?«
»In einer Woche geht es los. Eigentlich hatten sie ja einen Skispringer vorgesehen, der im Winter einen ordentlichen Salto in den Schnee gelegt hat. Doch der liegt immer noch im Krankenhaus. Und dadurch bist du ins Team gerutscht. Es hat mich ganz schön viel Überzeugungskraft gekostet, Harry, das kannst du mir glauben. Also setz dich wieder hin, und hör mir zu, wie das Ganze ablaufen soll.«
Harry setzte sich wieder.
»Wir fliegen in ein Camp nach Tunesien. Während eure Begleitpersonen, also in deinem Fall ich, in einem 5-Sterne-Hotel auf eure Rückkehr warten, werdet ihr in die Wüste verfrachtet. Mit ausreichend Wasser für zwei Tage und dem Nötigsten zu essen. Und einem Einheimischen, der euch helfen soll, Zelte aufzubauen und all den Kram. So einen Glutäugigen mit dickem Turban, du weißt schon … Das gibt dem Ganzen ein orientalisches Feeling, so etwas wollen die Leute.«
»Ach, wollen die Leute das?«
Harrys unverkennbarer Spott hätte Anuschka stutzig machen sollen. Doch die war so in ihrer begeisterten Schilderung gefangen, dass sie seinen Einwand nicht einmal wahrnahm.
»Und dann gibt es natürlich auch wieder Prüfungen und all diesen Mist. Bei jeder Sonderprüfung könnt ihr eine gewisse Anzahl von Plastikpalmen erreichen. Und für jede Palme gibt es weitere Wasserrationen. Keine Palme, kein Wasser. Das ist das, was die Zuschauer sehen wollen. Das Ganze dauert zehn Tage. Raus aus dem Trott. Nimm es einfach als Möglichkeit, auf neue Ideen zu kommen.«
Harry sagte kein Wort.
»Na, Herr Seeberstein, was hältst von diesem genialen Schachzug? Jetzt sag schon was!«
Harry blickte nachdenklich auf seine Agentin, und plötzlich war ihm einiges klar. Mit einem Schlag wusste er, was zu tun war. Er biss sich auf die Unterlippe und schüttelte kaum merklich den Kopf. Anuschka hatte Recht. Um auf neue Ideen zu kommen, musste er neue Wege gehen. Wollte er raus aus der alten Leier, musste er raus aus seiner Umgebung. Doch er würde nicht die Wege gehen, die Anuschka ihm vorgezeichnet hatte. Sein Weg führte ihn nicht in die Wüste. Er wusste nicht, wohin er ihn führte, aber nicht in die Wüste. »Du willst neue Ideen?«, begann er langsam. »Du hast Recht. Es wird Zeit für etwas ganz Neues.«
»Na siehst du, Harry, ich dachte doch, dass man mit dir vernünftig reden kann. Also komm her, lass dich an mich drücken, und dann besprechen wir, wie wir vorgehen werden. Und welche Botschaften du in deinem Wüstencamp an die Zuschauer richten wirst. Solche Sendungen haben die beste Einschaltquote. Was glaubst du, wie wir das ausnutzen werden, Harry! Harry!?!«
Harry Schlamm zog mit einer theatralischen Geste den schweren Ring vom Finger, legte ihn vor seine fassungslose Agentin auf den Tisch und verließ den Raum.