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VI

Sonntag, 20. Juni, 14 Uhr, Sendeanstalt, im Osten der Stadt

Als Harry das Gespräch mit Anuschka abrupt beendet hatte und die Tür hinter sich ins Schloss knallte, war er auf hundertachtzig. Hatte die Frau endgültig den Verstand verloren? Natürlich war es gut, in den Schlagzeilen zu bleiben. Aber man konnte den Bogen auch überspannen. Und genau das hatte Anuschka soeben getan.

Irgendwo hat jeder seine Grenze. Du bist darüber gestiegen, dabei wünschte ich, du hättest geschwiegen, du hättest gedacht, bevor du getan. Doch auch deine Platte hat nur eine Rille. Funkstille.

geschrieben von Seeberstein am 20. Juni, 14.03 Uhr zuerst als annehmbar empfunden und dann doch verworfen

Er war nicht länger gelangweilt. Er war auch nicht verärgert. Nein, er war wütend!

Im Nu war er mit großen Schritten bei den chromblitzenden Aufzugtüren. Zwanzig Mal drückte sein Zeigefinger den Knopf, um den Lift zu holen. Vergebens. Der steckte im fünften Stock und rührte sich nicht. Also machte Harry kurzerhand kehrt, riss die Schwingtür zum Treppenhaus auf und trabte die Treppen hinunter. Er ließ ja viel mit sich machen, aber irgendwo, irgendwann hatte auch seine Engelsgeduld ein Ende. Was hatte er nicht schon alles mitgemacht, nur um Anuschkas Pläne zu erfüllen. Er hatte dämliche Gipseier bemalt für »Prominente färben Ostereier für ein Waisenhaus«. Er hatte sich für den Hochglanzkalender eines Frauenmagazins halb nackt ausgezogen. Er hatte sich bei einem Promi-Gokart-Rennen das Kreuz angeschlagen, sodass er eine Woche kaum gehen konnte. Und er hatte für eine extrem blöde Fotostory für ein Jugendmagazin einen Tag mit zwei hysterischen jungen Mädchen verbracht, die jedesmal nach Luft schnappten, wenn er sie ansprach. Dabei war ein Fotograf vor ihnen hergewieselt, um jede Szene mindestens dreißig Mal zu knipsen. Das alles hatte er getan. Doch in die Wüste würde er sich nicht schicken lassen!

Es war ein ganz schön weiter Weg vom neunten Stock ins Erdgeschoss. Irgendwo zwischen dem vierten und dem dritten Stock blieb er keuchend stehen und blickte sich überrascht um. Er besah sich das nackte Treppenhaus, die weißen Wände strahlten blank und kalt im grellen Neonlicht. Niemand war ihm begegnet. Obwohl das Haus genügend Lifte hatte, stand er da, Deutschlands vor kurzem noch beliebtester Sänger, stand da und schnaufte. Mit einem Schlag war all die Wut verflogen und machte einer stillen Heiterkeit Platz.

»He, Harry«, sagte eine Stimme in ihm, »was machst du hier eigentlich? Grade eben warst du noch gelangweilt. Dann stinksauer. Und jetzt fühlst du dich mit einem Mal so unbeschwert?«

Harry winkte seinem Spiegelbild im Treppenhausfenster zu. Er hatte das Rad verlassen, in dem er die letzten Jahre wie eine dressierte Ratte gelaufen war. Und nun stand er da, noch etwas unsicher, wie sich das Leben außerhalb dieses Rades anfühlte.

Der nächste Weg jedenfalls war, seine Garderobe aufzusuchen. Sie lag im zweiten Stock, und er hatte das Glück, dass sie sich unweit vom Treppenhaus befand. Vorsichtig steckte er den Kopf durch den Türspalt, spähte in den langen Gang. Eine Frau verschwand soeben auf der Toilette. Sonst war niemand zu sehen.

Seine Garderobe war leer. Man hatte ihn offensichtlich noch nicht so bald zurückerwartet. Seine Gespräche mit Anuschka im VIP-Raum dauerten sonst mindestens doppelt so lange wie heute. Da stand er also in seinem auffälligen weißen Anzug und beäugte sich kritisch im Spiegel. Es war nicht wirklich eine bewusste Handlung, es war mehr ein Reflex, dass er zur Schere griff und mit einem energischen Schnitt den Spitzbart abschnitt. Sein lang gepflegtes, lang gehegtes Markenzeichen landete im Müll. Na, bitte, ein erster Schritt in die Zukunft war getan.

Allerdings kein gut überlegter. Denn wo sollte er nun Rasierzeug herbekommen, um auch noch die letzten Reste des ehemaligen Markenzeichens zu entfernen? So konnte er sich nirgends sehen lassen, er sah mehr als seltsam aus. Auch unter den Utensilien der Maskenbildnerin fand sich kein Rasierer. Harry seufzte. Es half alles nichts: Mit der Schere kürzte er die Bartstoppeln, so gut es ging. Dann kontrollierte er den Inhalt seiner Hosentasche: Seine Geldbörse war da. Mit allen Kreditkarten.

Er schlüpfte aus dem weißen Sakko und legte es über den Arm. Vielleicht waren das weiße Hemd und die weiße Hose weniger auffällig als der ganze Anzug.

Kurz überlegte er, die schlichte braune Jacke zu nehmen, die irgendjemand über die Lehne des Maskenstuhls gehängt hatte. Mit ihr würde er wenig Aufsehen erregen. So schnell ihm dieser Gedanke gekommen war, so schnell verwarf er ihn wieder. Was hätte das erst wieder für ein Aufsehen erregt! Der reiche Seeberstein stahl eine Jacke! Er musste grinsen: Was würde Anuschka wohl zu so einer Schlagzeile sagen?

Auf dem großflächigen Bildschirm, der an der Stirnwand jeder Garderobe angebracht war, flimmerte das aktuelle Programm des Senders. Zurzeit lief ein Zeichentrickfilm für Kinder. Der Beginn eines Sportmagazins wurde angekündigt.

Entschlossen trat Harry auf den Gang hinaus. Er wusste jetzt genau, was er machen würde: Dasselbe, was er in den letzten vierunddreißig Jahren immer gemacht hatte, wenn er nicht mehr weiter wusste oder wenn er jemanden zum Reden brauchte oder einfach nur unbeschwert Spaß haben wollte. Er würde zu Matthias fahren, seinem »kleinen« Bruder. Hatte er wirklich gestern Nachmittag noch gedacht, Anuschka sei ihm wichtiger als Matthias?


Auf dem Flur begegneten ihm einige Leute. Sie eilten hektisch von einer Tür zur nächsten, niemand nahm Notiz von ihm. War es wirklich so, dass sie ihn nicht erkannten? Ohne Spitzbart und ohne die dunkle Sonnenbrille, auf die Anuschka immer so großen Wert gelegt hatte, um sein Inkognito zu wahren? Wie es schien, hatte dieser modische Schnickschnack genau den gegenteiligen Effekt. Trüge er die Sonnenbrille, hätte man ihn sicher längst angesprochen.

Die Auffahrt zum Funkhaus war menschenleer.

Der Pförtner am Eingang hob den Blick und sein Gesicht verzog sich zu einem freundlichen Lächeln: »Guten Tag, Herr Seeberstein, heute zu Fuß unterwegs?«

Harry winkte ihm einen kurzen Gruß zu: »Guten Tag, ja, kurz etwas Luft schnappen.« Er nahm das Sakko lässig über die Schulter und verließ das Gelände des Senders.

Ein Taxi war schnell gefunden: »Berthold-Brecht-Weg 54«, sagte er dem Fahrer und ließ sich in die weichen Lederpolster der Rückbank fallen.


Während der Fahrt schaute Harry durch die schmutzigen Scheiben, als sähe er die Stadt zum ersten Mal. Er hatte vieles heute zum ersten Mal getan: Er hatte die Tür zwischen sich und Anuschka zugeschlagen, er hatte seinen Bart abgeschnitten, und er war durch den Vorderausgang des Sendehauses gegangen, ohne Leibwächter. Was hatte Anuschka im stets eingebläut? »Tu das nie, Harry, das ist viel zu gefährlich. Die Menschenmassen werden dich erdrücken! Die hysterischen Teenies wirst du nie wieder los. Wenn du alleine unterwegs bist, dann nimm stets den Seiteneingang.«

Ha, wo waren die hysterischen Teenager gewesen? Hatte Anuschka übertrieben, oder war deren Fehlen einfach nur ein Beweis dafür, dass sein Stern dabei war zu sinken?

Er würde den Stern wieder zum Glänzen bringen! In seinem Herzen brannte endlich wieder das alte Feuer. Aber zuerst musste er raus aus der Stadt. Luft schnappen, eine andere Umgebung sehen, weg, möglichst weit weg von hier, weit weg von Anuschka, weit weg von den selbst auferlegten Zwängen. In diesem Augenblick wurde die Idee geboren, fortzufliegen, ohne zu wissen, wohin. Ohne zu wissen, für wie lange. Einfach nur weg. Neue Eindrücke gewinnen, neue Erlebnisse aufsaugen wie ein Schwamm, in einem Land, wo ihn keiner kannte. In einem Land, wo er einfach Harry war wie viele andere Harrys auch. Wo das Wort »Seeberstein« noch nie in fetten Lettern als Schlagzeile in der Boulevardpresse geprangt hatte.

»Bitte sehr, da wären wir. Macht zwölf Euro siebzig.«

Harry war froh, dass er genügend Bargeld bei sich trug. Die kleinen Beträge bezahlte sonst Herwig. Die großen seine Kreditkarte.


Matthias Gerstenberg wohnte in einer Reihenhaussiedlung in einer der besten Wohngegenden der Stadt. Keine gediegene, rustikale Gemütlichkeit, sondern klare, schlichte, durchgestylte Häuser. Weiß mit viel Chrom und großen Glasflächen. Und einem gemeinsamen Gärtner, der für die Pflege des akkurat geschnittenen Rasens und der zu Kugeln gestutzten Buchsbäume verantwortlich war.

Matthias hatte vor fünf Jahren Gitte geheiratet und ihren Namen angenommen. Wer wollte schon Schlamm heißen, wenn er Gerstenberg heißen konnte? Noch dazu als Bruder des berühmten Harry Schlamm, dem er wie ein Ei dem anderen glich? Und mit dem er immer und überall verwechselt wurde? Da war es eine Erleichterung gewesen, einen anderen Namen anzunehmen. Und seit er sich auch noch in seinem äußeren Erscheinungsbild bewusst von ihm absetzte, brachte ihn kaum jemand mehr mit dem berühmten Sänger Seeberstein in Verbindung.

Matthias öffnete die Tür, um Harry hereinzulassen. Dann machte er sofort wieder kehrt, um sich wieder seinem Koffer zuzuwenden: »He, schön, dass du es doch noch geschafft hast, Großer! Komm, hilf mir, dieses Ding da zu schließen. Ich hätte vielleicht doch meinen ganz großen Flugkoffer nehmen sollen, aber ich dachte, ich würde mit diesem auskommen. Und jetzt geht das blöde Ding nicht zu. Kannst du dich nicht mal draufsetzen?«

Harry legte sein weißes Sakko über den Stuhl und tat, wie ihm geheißen.

»Wenn ich in Stuttgart ankomme, dann sind alle Anzüge verknittert und die Hemden sehen aus, als hätte sie noch nie jemand gebügelt. Ich hasse Koffer!« Er sah auf, um seinem Bruder zuzulächeln, und das Lächeln verschwand schlagartig. »Wie siehst du denn aus?«

Harry grinste etwas schief: »Ich hab den Spitzbart abgeschnitten.«

»Das sehe ich. Nicht, dass mir das Leid täte. Aber ob diese Art von Bart, die du nun trägst, bei deinen weiblichen Fans auch so gut ankommt?« Sein Tonfall klang zweifelnd.

»Bitte, Matthias, mach endlich den blöden Koffer zu. Und dann brauche ich dein Rasierzeug. Und deinen Friseur. Und deinen Pass.«

Endlich schnappte der Verschluss ins Schloss.

»Mein Rasierzeug kannst du haben. Was meinst du mit ›meinen Friseur‹? Du hast doch deinen eigenen Betreuungsstab, der ohnehin immer um dich herumscharwenzelt.«

»Den kannst du vergessen. Wo ist dein Friseur? Hol ihn her.«

»Heee, aufwachen! Normale Sterbliche wie ich holen den Friseur nicht her.« Matthias klang, als würde er mit einem kleinen ungezogenen Kind sprechen. »Unsereins sucht den Friseur auf. Mein Friseur ist in der Mozartallee. Morgen ab halb elf ist das Geschäft geöffnet. Möchtest du einen Termin vereinbaren?«

Harry grinste: »Ich bin wohl sehr verwöhnt?« Es klang wie eine Feststellung. »Gut, wenn du meinst, dass man den Friseur nicht herholen kann, dann bleibt nichts anderes übrig: Du musst mir die Haare schneiden.«

»Erstens, mein lieber Bruder, bin ich Werbefachmann und kein Friseur, und zweitens setzen wir uns wohl besser in die Küche und du erzählst mir, was los ist. Bist du vor Anuschka getürmt?«

»Na, getürmt kann man nicht sagen. Oder doch, vielleicht tu ich das gerade.«

»Espresso?«

Harry nickte.

»Hast du Hunger?«

Harry hatte.

Matthias schob zwei Tiefkühlpizzen ins Backrohr. »Nun erzähl. Von Anfang an.«

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich brauche Abstand. Anuschka geht mir ordentlich auf die Nerven. Weißt du, was ihre neueste Idee ist? Sie will mich für diese Wüstenshow verpflichten. Du kennst doch diese Art von Sendungen: ›Ich bin ein Star, schickt mich in die Wüste‹ – oder so ähnlich. Aber so weit ist es noch nicht. Noch kann ich mein Publikum mit meiner Musik begeistern und brauche mich nicht zum Gespött der Leute zu machen und Sand zu fressen.«

Matthias stimmte ihm unumwunden zu: »Das denke ich auch.«

»Ich hätte schon längst einen Riegel vorschieben sollen. Diese ganze ›Schlamms Schlacht‹ in den Zeitungen geht mir ja auch gegen den Strich. Aber wenn man einmal im Getriebe drin ist, dann läuft man mit und vergisst zu denken.«

»Und jetzt denkst du wieder?«

Harry nickte. »Ich will mich wieder auf das konzentrieren, was ich gut kann. Ich will Lieder schreiben. Ich vermisse das Gefühl, am Klavier zu sitzen und vor Ideen nur so zu sprudeln …« Er ließ den Satz in der Luft hängen.

»Und wie soll dir das gelingen?«

Matthias schenkte ihm ungefragt ein Glas Mineralwasser ein und schob seinem Bruder auch die kleine Mokkatasse hinüber.

»Ich fahre weg. Irgendwohin, wo mich keiner kennt. Wo ich wieder zu mir kommen kann und mir keiner sagt, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich bin sicher, dann kommt auch die Musik wieder.«

»Das erscheint mir vernünftig.«

»Ich wusste, dass du das so siehst, Matthias. Denn in Wahrheit hast du diese Idee schon längst gehabt, nicht wahr? Ich war zwar verbohrt, aber nicht verbohrt genug, um das nicht zu bemerken. Und darum brauche ich deinen Pass. Und deine Frisur.«

»Harry, du hast doch nicht wirklich vor, als Matthias Gerstenberg durch die Welt zu ziehen? Das ist illegal. Sicher ist das Dokumentenfälschung oder irgendetwas in der Art.«

»Wenn ich als Harry Schlamm reise, dann habe ich, so schnell kann ich gar nicht schauen, eine Traube von Journalisten an meinen Fersen kleben. Und Anuschka weiß im Handumdrehen, wo sie mich findet. Ich will das nicht, Kleiner. Diesmal wirklich nicht.«

»Ich verstehe dich schon, Harry, aber ist das nicht zu riskant? Es war etwas anderes, als kleine Jungen die Rollen zu tauschen.«

»Wer soll dahinter kommen? Du bist in Stuttgart. Wenn du zurückkommst, bin auch ich wieder da. Und ich werde aussehen wie du. Niemand wird etwas bemerken.«

»In Amerika nehmen sie jetzt jedem bei der Einreise die Fingerabdrücke ab.« Matthias war schon so gut wie weich geklopft. »Dort erkennt man den Schwindel sofort.«

»Ja stimmt, gut zu wissen. Ich werde nicht nach Amerika fliegen.«

»Wohin dann?« Matthias stand auf, um seinen Pass zu holen.

»Ich weiß es nicht. Ich werde zum Flughafen fahren und einen Platz in einer der Maschinen ergattern, die heute noch abfliegen. Nenn es Zufall, nenn es Schicksal, ich werde sehen, wohin mich mein Weg führt.«

»Also, da hast du meinen Pass. Aber kein Wort zu Gitte! Sie reißt mir den Kopf ab, wenn sie erfährt, dass ich bei so etwas Illegalem mitmache!«

Harry hob die Hand zum Schwur und nickte feierlich.

»Du bist ein ganz schöner Spinner, weißt du das?« In Matthias Stimme war nichts als liebevoller Bruderstolz.

Harry lachte, und sein Lachen klang nun schon wieder viel befreiter. »Ich weiß«, sagte er, »und nun hol die Schere.«


Die Pizza wäre fast verbrannt, so sehr waren die beiden Brüder mit dem Haarschnitt beschäftigt. Das Endergebnis war nicht wirklich berauschend. Die linke Seite war etwas kürzer als die rechte, doch zu kurz, als dass Harry es zugelassen hätte, dass Matthias auch noch die rechte Seite so kurz schnitt. Also war die Frisur asymmetrisch, doch mit etwas Wet-Gel zum Stehen gebracht, konnte sie durchaus als extravagante Designerfrisur durchgehen.

»Wo hast du dein Gepäck?«

Sie saßen in stillem Einvernehmen am Küchentisch und säbelten an ihrer halb verkohlten Pizza.

»Ach ja, Gepäck. Ich habe keines. Aber ich werde wohl welches brauchen.«

»Wie lange willst du wegbleiben, Harry?«

»Ich weiß nicht, eine Woche, zwei Wochen …«

»Da wirst du natürlich Gepäck brauchen. Ich nehme nicht an, dass dein hübscher weißer Anzug auch noch nach zweiwöchigem Tragen so hübsch und so weiß wäre.«

»Du magst den Anzug nicht?«

»Nein. Um ehrlich zu sein, gefällst du mir besser in Jeans. Oder in einem dunklen Anzug. Weiß ist so schlagersängermäßig.«

Wollte man Harry von etwas abhalten, brauchte man nur zu sagen, es sei schlagersängermäßig. Dann konnte er es nicht mehr leiden.

»Weg mit dem weißen Anzug.« Harry wischte sich den Mund an der Serviette ab. »Dann also Jeans. Ich hoffe, du kannst mir welche leihen.«

»Oh, oh, oh. Klein Harry traut sich nicht nach Hause.«

»Richtig.« Harry war weit davon entfernt, beleidigt zu sein: »Du hast es erfasst. Ich habe weder Lust, Herwig Rede und Antwort zu stehen, noch sonst irgendjemandem aus meinem Umfeld. Harry Schlamm hat beschlossen zu gehen. Und Harry Schlamm geht.«

»Weiß es Gisi?«

»Nein. Und ich habe auch nicht die geringste Absicht, es ihr zu sagen. Außer uns zweien braucht niemand Bescheid zu wissen. Sagtest du nicht etwas von einem großen Koffer, den du nicht nach Stuttgart mitnehmen wirst?«

Matthias zeigte einen Anflug von einem Lächeln und fügte sich in das Unvermeidbare.

So landete ein zweiter Koffer auf dem französischen Bett des Ehepaares Gerstenberg, und in diesem Koffer landete nahezu sämtliche Freizeitkleidung, die Matthias entbehren konnte. Und zwei Boxershorts.

»Danke, das reicht fürs Erste. Den Rest kaufe ich mir dort, wo ich dann bin. Unterhosen bekomme ich überall.« Auch die Tatsache, dass Matthias weder ein zweites Rasierzeug noch eine Zahnbürste hatte, die er ihm mitgeben konnte, beunruhigte Harry keineswegs: »Das bekomme ich alles am Flughafen. Mach dir keine Gedanken darüber. Was ich brauche, habe ich hier in diesem Koffer. Und ich habe deinen Pass.«

Matthias Bedenken erwachten schlagartig wieder: »Ich weiß nicht, ob das wirklich so eine gute Idee ist, Harry! Wenn irgendjemand dahinter kommt, dann bist du geliefert. Und dann bin ich geliefert.«

»Wer soll denn dahinter kommen, bitte? Ich sehe jetzt aus wie du!«

Das konnte Matthias nicht gelten lassen: »Tust du nicht. Ich habe einen Haarschnitt, du hast nur etwas Ähnliches.«

Harry grinste: »Das fällt keinem Zollbeamten auf. Und dem Hotel-Rezeptionisten schon gar nicht. Apropos Hotel – gut, dass ich daran gedacht habe – dort brauche ich deine Kreditkarte. Ich kann mich schwerlich als Matthias Gerstenberg ausweisen und als Harry Schlamm bezahlen.«

»Siehst du, das ist genau das, was ich meine. Es gibt genug Fallen, in die wir tappen können. Meine Kreditkarte brauche ich selbst.«

»Hast du denn keine zweite?«

»Doch.« Matthias schnaufte unwillig und öffnete seine Geldbörse. »Ich habe zwei Kreditkarten. Aber das wird doch auffallen, wenn ich gleichzeitig in Stuttgart mit einer Kreditkarte zahle und in wo auch immer mit der zweiten.«

»Wem soll das auffallen? Es sind doch zwei unterschiedliche Karten von zwei unterschiedlichen Banken.«

»Du hast eine ganz andere Unterschrift als ich.«

»Deine Unterschrift ist keine Unterschrift, das ist ein Gekrakel. Und das Gekrakel kann ich seit ewigen Zeiten.«

»Kannst du nicht, ich heiße jetzt Gerstenberg.«

»Du heißt nicht jetzt Gerstenberg, du heißt seit fünf Jahren Gerstenberg, und das Gekrakel kann ich sehr wohl.« Er nahm ein Blatt Papier und bewies es ihm. »Hast du wirklich nur zwei Kreditkarten?«

»Genau, der Herr, und es sind keine in Platin. Harry, ich bin ein ganz normaler Mensch, kein Star. Die Karte hat einen Kreditrahmen von dreitausend Euro. Damit musst du auszukommen. Kannst du das, Herr Seeberstein? Oder geht dieser Betrag bereits für dein erstes Champagnergelage drauf? – Aua!« Sein Bruder hatte ihn mit dem Ellenbogen unsanft in die Seite gestoßen.

»Harry Schlamm reist als Matthias Gerstenberg durch die Lande, nicht als Seeberstein. Seeberstein bleibt zu Hause im Schrank und ruht, daher gibt es auch kein Champagnergelage. Und ich habe auch nicht vor, irgendwelchen Damen irgendetwas zu spendieren. Ich werde still und zurückgezogen leben. Niemand wird von mir Notiz nehmen. Ich werde komponieren, ich werde texten, ich werde in Stille und Abgeschiedenheit zu neuen Ideen kommen, back to the roots, Bruder.«

»Ah ja.«

Matthias war vom Gegenteil überzeugt. Harry war schon viel zu lange im Mittelpunkt der begeisterten Menge. Harry war es viel zu sehr gewohnt, dass ihm alle Frauen schöne Augen machten. Und dieser Harry sollte nun in Abgeschiedenheit zwei Wochen verbringen? Ohne Bewunderer? Und was hieß schon ›back to the roots‹? Harry hatte schon als Junge nie in Ruhe und stiller Besinnlichkeit gelebt. Es musste immer etwas los sein – wo Harry war, war Action.

»Wann kommt Gitte zurück?«

»Sie ist gestern weggefahren und wird eine Woche fortbleiben. Ich bin froh, wenn ich sie endlich wieder einmal länger zu Gesicht bekomme. Im Augenblick ist sie sehr viel unterwegs. Und auch ich bin kaum zu Hause. Aber wir haben den Urlaub noch vor uns. Da sind wir dann drei Wochen Tag und Nacht vereint. Darauf freue ich mich wirklich.«

»Ihr seid zu beneiden.« Das war eine schlichte Feststellung. »Es ist nicht wichtig, dass man dauernd zusammensteckt. Wichtig ist, dass man sich liebt. Und das tut ihr.«

»Es wird auch bei dir wieder, Harry. Wenn die Scheidung von Gisi einmal über die Bühne ist …«

»Das wird noch dauern. Gisi will, dass ich ihr eine neue Aufgabe verschaffe. Und bis mir etwas einfällt, werde ich wohl noch länger eine Ehefrau haben und einen hauseigenen Masseur.«

»Ich bewundere dich, dass du das aushältst.«

»Was ist die Alternative? Glaubst du, ich will wirklich den Scheidungskrieg führen, den mir die Medien schon jetzt andichten? Glaubst du, ich will wirklich all die Gemeinheiten austauschen, die sich Anuschka jetzt einfallen lässt, um die Medien damit zu füttern? Nein, wirklich nicht. Da ertrage ich lieber Schorsch. Er ist ja kein übler Kerl. Auch wenn ich ihn nicht vermissen würde, wenn ich ihn nicht mehr sähe. So!« Harry stand auf und griff nach dem Koffer. »Macht es dir etwas aus, mich zum Flughafen zu bringen?«

»Harry, das Taxi wurde schon erfunden.«

Sein Bruder grinste: »Ich weiß, aber ich habe Angst, dass mich doch jemand erkennt.«

»Wenn du mit dem Aussehen von Matthias Gerstenberg aus der Wohnung von Matthias Gerstenberg kommst, wer wird dann glauben, du seist Harry Schlamm?«

»Na gut, ich versuche es. Weißt du die Telefonnummer vom Taxifunk?«


Als Harry vor dem Haus auf das Taxi wartete, ging eine ältere Dame vorbei: »Ist das nicht wieder ein schöner Abend, Herr Gerstenberg?«

Harry beeilte sich, das mit einem breiten Grinsen zu bestätigen. Der erste Test war geschafft! Matthias’ Nachbarin hatte ihn nicht erkannt. Das war ein gutes Zeichen.

Auch der Taxifahrer schöpfte keinen Verdacht, sondern lieferte ihn nach einer dreiviertel Stunde Fahrt wohlbehalten vor dem Flughafen ab. Sein Fahrgast stieg aus und eilte mit großen Schritten zur Abflughalle.

»He, Sie, der Koffer!«

Harry, der schon durch die Drehtür hatte verschwinden wollen, machte überrascht kehrt: »Ach ja!« Er schnappte das monströse Ding. Den Koffer musste er ja mitnehmen. Und er musste ihn selbst tragen. Was für ein seltsames Gefühl, gerade so, als wäre er wieder ein kleiner Junge auf der Fahrt in ein Ferienlager. Ah, da war ein Band, an dem man den Koffer ziehen konnte. Das Riesending erzeugte laute Geräusche auf dem glänzenden Marmorboden. Zum Glück musste er den Ticketschalter nicht lange suchen. Die Frau, die gerade davor stand, hatte er nicht gesehen. Ehrlich nicht.

Liebe im Gepäck

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