Читать книгу Liebe im Gepäck - Sophie Berg - Страница 9
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Samstag, zur gleichen Zeit, im Südwesten der Stadt
»Hör dir das an, Harry«, Giselle verschwand hinter dem Großformat der Zeitung und bot ihrem Ehemann den Blick auf zwei lange, gertenschlanke Beine, die sie elegant übereinander geschlagen hatte. Und auf die Schlagzeile des Tages, die in großen Lettern fast ein Viertel der Seite füllte: »Schlamms Schlacht – jetzt geht es aufs Ganze!«
Darunter ein Bild von Giselle und ihm, aufgenommen auf dem letztjährigen Opernball in Wien. Beide blickten sie in verschiedene Richtungen. Damals war es Zufall gewesen, heute galt es als ein Indiz dafür, dass die Ehe schon zu diesem Zeitpunkt unheilbar zerrüttet war.
Einige Seiten weiter wurde der Artikel fortgesetzt: »Der Rosenkrieg zwischen Harry Schlamm, uns allen besser bekannt als Seeberstein, und seiner bildhübschen Frau Giselle Verleinen geht in die nächste Runde! Wer hätte gedacht, dass es in der Ehe zwischen einem der beliebtesten Sänger Deutschlands und einem der meistgebuchten Models der Welt seit langem kriselte? Oder hätte uns dieses Foto nicht schon früher zu denken geben müssen? Sieht so eine glückliche Braut aus?«
Immer, wenn sie allein waren, war nichts von dem kleinen, leicht affektierten Akzent zu merken, den Giselle in der Öffentlichkeit gerne pflegte und der auf ihre finnische Abstammung hinweisen sollte.
Sie lachte kurz auf: »Weißt du, welches Foto sie genommen haben, Harry?« Sie drehte die Zeitung so, dass er es sehen konnte. »Es wurde Jahre nach unserer Hochzeit aufgenommen. Es war bei einer Modenschau, ich glaube in Mailand. Ich habe als Höhepunkt des Abends ein Brautkleid vorgeführt, und da war der melancholisch-dramatische Blick gefragt. Und nun nehmen sie den zum Anlass, an meinen Gefühlen bei der Hochzeit zu zweifeln. Manchen Journalisten ist aber auch wirklich nichts zu blöd.«
Harry Schlamm lümmelte in seinem bequemen Lederfauteuil, ein Bein lässig über die Armlehne geschwungen, und seufzte unwillig: »Das ist der Grund, warum ich von dieser ganzen Sache nichts mehr hören will. Und wenn wir endlich zu einer Einigung kämen, dann wäre diese Scheidung längst über die Bühne und kein Hahn würde mehr nach unserer Ehe krähen. Rosenkrieg, wenn ich das schon höre! Wir haben uns auseinander gelebt, das ist alles.«
»Eddy meint, ›Schlammschlacht‹ sei erstens ein originelles Wortspiel, wenn man deinen Namen bedenkt, und zweitens eine gute Gelegenheit, dass wir beide nicht so schnell aus den Schlagzeilen verschwinden.«
Es war Giselle anzumerken, dass sie dieser Idee ihres Managers etwas abgewinnen konnte. Seit sie damals mit achtzehn Jahren auf dem Schulhof von einem Mitarbeiter einer Modelagentur angesprochen und zum ersten Fotoshooting eingeladen worden war, waren siebzehn Jahre vergangen. Sie hatte eine Karriere gemacht, die ihresgleichen suchte. Sie lief auf den Laufstegen von Gucci und Lagerfeld, arbeitete für Armani und viele Designer, deren Stern am Modehimmel aufgegangen war, um ebenso rasch wieder zu verglühen. Sie hatte das Cover der bekanntesten Modezeitschriften geziert, nicht nur in Deutschland. Auf der ganzen Welt. Und sie lieh ihr Gesicht Kashido, der bekannten japanischen Kosmetikmarke. Vor drei Jahren hing ihr Konterfei am Times Square in New York. Überlebensgroß.
»Ich bin jetzt fünfunddreißig, Harry. Meine Tage als Model sind gezählt, da brauchen wir uns nichts vorzumachen. – Etwas weiter nach rechts.«
Die letzte Bemerkung galt dem groß gewachsenen, bulligen Mann, der schweigend hinter Giselle stand und ihr gedankenverloren den Nacken massierte. Georg Pernthaler, genannt Schorsch. Aus Niederbayern. Er war ihr Masseur gewesen und vor drei Jahren ihr Geliebter geworden. Jetzt war er ihr Masseur und Geliebter. Harry hatte sich schon geraume Zeit damit abgefunden, dass er seine Frau selten allein antraf. Immer war Schorsch mit von der Partie. Er war ein Mann, der kaum etwas sagte, doch wenn er einmal sprach, dann hatte es Hand und Fuß. Harry und Schorsch hatten sich erstaunlich schnell angefreundet. Für Giselle war es das ideale Leben: Sie war die Ehefrau eines der bekanntesten, eines der meistbejubelten Künstler des Landes. Und sie war die Geliebte eines Mannes, der nur Augen für sie hatte und ihr jeden Wunsch erfüllte, soweit es in seiner Macht stand. Einen Wunsch würde jedoch Schorsch niemandem erfüllen: Er weigerte sich strikt, sich eine geregelte Arbeit zu suchen. Er lebte auf Giselles Kosten, und er lebte gut.
»Deine Anuschka findet auch, dass Eddy Recht hat.«
Anuschka war Harrys Managerin. Eigentlich hieß sie Anna. Anna Horn. Eine schillernde Persönlichkeit in der deutschen Musikszene. Sie war Anfang fünfzig, keiner kannte ihre mollige Figur in etwas anderem als einem perfekt geschnittenen Nadelstreifenanzug. Und kaum jemand nannte sie beim richtigen Namen. Irgendwann, es muss wohl in den siebziger Jahren gewesen sein, da begann sie sich Anuschka zu nennen. Sie erzählte jedem, der es hören wollte, und auch allen anderen, sie hätte diesen Namen von Udo Jürgens bekommen, als sie ihn auf einer seiner Tourneen als Background-Sängerin begleitet hatte. Und das Lied »Anuschka« hätte er damals nur für sie geschrieben. Harry glaubte ihr diese Geschichte nicht. Anuschka blieb jeden Beweis für deren Richtigkeit schuldig. Und dennoch: Seine Managerin war zwar eine sehr tüchtige, aber auch sehr rechthaberische Frau. Hätte er in diesem Punkt mit ihr streiten sollen? Wenn ihr alle anderen die Geschichte abnahmen?
Während Giselle sich wieder daran machte, den Artikel über ihren angeblichen Rosenkrieg weiter vorzulesen, und Schorsch ihr weiter schweigend den Nacken massierte, blickte sich Harry um.
Sie saßen in seinem Arbeitszimmer. An der Stirnseite all seine Auszeichnungen. Eine goldene Schallplatte reihte sich an die andere, dazu kamen die Schallplatten in Platin, Doppelplatin für sein letztes Werk »Herzkatheter«. Er war von zahlreichen Jugendmagazinen mit goldenen Preisen überhäuft, mehrfach zum beliebtesten Sänger Deutschlands ausgezeichnet worden. Dann stand da auch noch die Statue von MTV, an ihn verliehen als »The Sexiest Singer«. Harrys Blick blieb an dieser Statue hängen. Was für eine absurde Auszeichnung! Natürlich hatte sie seinem Stolz gut getan. Welcher Mann wollte nicht sexy sein? Er war von Tausenden Frauen gewählt worden. Das hatte schon etwas. Wenn sie ihn heute so sehen könnten, wie er da saß und gelangweilt dem Vortrag seiner Frau lauschte, kein Mensch hätte ihn je als sexy bezeichnet. Angeödet wäre das richtige Wort gewesen. Frustriert? Litt er am Burn-out-Syndrom? Jedenfalls fiel ihm kein Lied mehr ein.
Seit Monaten war es so, als sei seine Quelle der Kreativität auf immer versiegt. Bereits im letzten Herbst hätte ein neues Album erscheinen sollen. Doch mit welchen Liedern? Er hatte Tage, er hatte Nächte, er hatte Wochen am Klavier gesessen. Doch in seinem Ohr war kein Ton, in seinem Kopf war kein Lied, das er mit seinen Händen auf die Tasten hätte bringen können. Harry blickte zu seinem Klavier hinüber, es war aufgeräumt wie selten. Wo sind all die Notenstapel? Wo sind all die vielen Entwürfe, die früher nur so aus ihm herausgesprudelt waren? Nichts.
Statt der neuen war eine Best-of-CD auf den Markt gekommen. Das war Anuschkas Idee gewesen. Eine glänzende Idee, wie sich herausstellte. Denn auch diese Platte erreichte sofort Gold. Doch jetzt musste dringend etwas Neues auf den Markt. Es war Juni. Für September war das Aufnahmestudio gebucht. Bis dahin brauchte er zwölf nagelneue Songs. Nagelneue Texte, nagelneue Melodien.
»Harry, hörst du mir überhaupt zu?«, unterbrach Giselle seine Gedanken. Sie hatte die Zeitung beiseite gelegt und musterte ihn mit zunehmender Besorgnis. »Du siehst nicht gut aus, weißt du das? Was ist los mit dir?«
»Was mit mir los ist?« Harry zuckte resigniert die Schultern. »Nichts ist mit mir los, das ist ja das Problem.«
»Harry, ich glaube, du brauchst eine Frau.«
»Tolle Idee, super, ganz großartig. Ich glaube nicht, dass es irgendwo eine Ehefrau auf dieser Welt gibt, die ihrem Mann sagt, dass er eine Frau brauchte. Schon vergessen, Gisi, noch bist du meine Frau.«
Schorsch hatte mit dem Massieren aufgehört. Er schnappte sich ein Bier aus dem Kühlschrank neben dem Klavier, öffnete es geräuschlos und setzte sich auf den letzten freien Sessel.
»Du weißt genau, was ich meine. Ich meine keine ›Ehefrau‹, ich meine eine ›Frau‹.« Giselles Tonfall klang ausgesprochen unwillig.
Harry lachte auf: »Deine Besorgnis rührt mich, Gisi, aber du brauchst dir um mein Sexualleben keine Sorgen zu machen. Frauen habe ich genug. Das ist der Vorteil, wenn man ein Star ist. Für eine Nacht mit Seeberstein würde so manche ihr letztes Hemd geben.«
Gisi kannte ihn gut genug, um die Bitterkeit aus seinen Worten herauszuhören. »Und das nutzt du weidlich aus.«
Das war eine Feststellung, keine Frage.
Harry fuhr auf: »Was willst du eigentlich? Zuerst sagst du mir, ich brauche eine Frau, wenn ich dir dann sage, ich habe genug Frauen, dann ist es dir auch wieder nicht recht. Das ist doch eine sinnlose Diskussion. Lass uns lieber zu etwas Wesentlichem kommen. Nachher wird mir Anuschka die Fragen für mein Fernsehinterview faxen. Ich habe morgen am frühen Nachmittag ein Interview in einer Jugendsendung.« Er verzog sein Gesicht.
»Also, worüber willst du reden, Harry? – Pfui Teufel, musst du aus der Flasche trinken? Haben wir denn hier kein Glas?«
Schorsch, der eben die Bierflasche zum Mund führen wollte, stand folgsam auf und holte sich ein Glas vom Regal.
»Den hast du aber gut erzogen, deinen Pudel.«
Gisi zog eine Augenbraue in die Höhe und dachte nicht daran, auf Harrys Provokation einzugehen. »Lass Schorsch aus dem Spiel«, sagte sie stattdessen. »Harry, wir sehen uns vielleicht zehnmal im Jahr. Du hast mich um dieses Treffen gebeten, also sprich endlich aus, worum es geht.«
»Ich will einen Schlussstrich. Ein für alle Mal. Du magst ja die Idee von Eddy und Anuschka großartig finden, unsere Ehe und deren angeblich unrühmliches Ende an die Öffentlichkeit zu zerren. Ich jedoch möchte mich lieber auf meine Arbeit konzentrieren. Der ganze Rummel blockiert meine Kreativität. Bei jedem Interview, von wildfremden Menschen auf der Straße, überall werde ich nur auf unseren Scheidungskrieg angesprochen. Ich halte mich an Anuschkas Anweisungen und spiele den Kämpfenden, spiele den Kränkenden und spiele den Gekränkten, aber lange halte ich das nicht mehr durch. Lass uns endlich Nägel mit Köpfen machen und über unseren Anwalt die Scheidung einreichen. Lang genug von Tisch und Bett getrennt leben wir ja schließlich. Ich gehe auf deine Forderungen ein. Du kannst das Haus auf Ibiza haben und einen Großteil von dem Geldbetrag, den du verlangt hast. Auch wenn ich nicht verstehe, warum es so viel sein muss. Du warst doch bisher mit deinen Forderungen immer fair.«
»Ich bin auch jetzt fair, Harry. Ich brauche das Geld, damit Schorsch und ich unser Leben weiterführen können, wie wir es gewohnt sind. Natürlich bin ich sofort bereit, die monatlichen Zahlungen zu reduzieren, wenn ich eine neue Aufgabe gefunden habe.«
»Also entschuldige, Gisi, du kannst doch nicht verlangen, dass ich Unterhalt für deinen Lover zahle. Das ist doch die absurdeste Idee, die ich je gehört habe. Der Mann ist groß genug, der Mann ist alt genug, der Mann ist ausgebildet genug, der Mann kann selbst sein Geld verdienen.«
»Aber der Mann will nicht«, sagte Schorsch.
Sein Kommentar war wie immer: kurz, aber prägnant.
Gisi zuckte bedauernd die Schultern: »Wenn es dir zu viel ist, dann wirst du es wohl noch einige Zeit in den Schlagzeilen aushalten müssen, mein Lieber«, sagte sie, ohne auf Schorschs Einwand einzugehen, »und in der Zwischenzeit fällt dir ja vielleicht ein, was ich künftig beruflich machen könnte. Ich habe keinerlei Ausbildung, das weiß ich. Aber ich habe Beziehungen!«
»Wie wäre es mit etwas Karitativem?«
Das war kein wirklich ernst gemeinter Lösungsversuch.
»Ausgeschlossen. Kannst du dir mich in Afrika vorstellen? Inmitten einer Schar kleiner, verdreckter Kinder und einem Schwarm von Fliegen?«
Harry konnte nicht. »Ich habe keine Ahnung, was du sonst machen könntest.«
»Dann, mein Lieber, werde ich wohl noch einige Zeit deine Frau bleiben.« Gisi stand auf und schnappte ihre kleine Gucci-Handtasche. »So, nun komm, Schorsch, wir sind bereits spät dran. Außerdem muss sich Harry noch auf seine Talkshow morgen vorbereiten.«
Wie auf Kommando begann das Telefon zu läuten und schaltete auf Faxempfang.
Ich sehe deinen Kopf hinter der Zeitung verschwinden, Ein Unterschenkel wippt hektisch nach vorn. Was sollte uns beide noch länger verbinden? Ich bin ja doch nur in deinen Augen ein Dorn. (… dem Steinfeger der Schorn?? … vom Matter das Horn??) geschrieben von Seeberstein am 19. Juni., 17.45 Uhr zerknüllt und weggeworfen am 19. Juni., 17.57 Uhr
Apropos Horn, der Apparat hatte das Fax nun komplett ausgespuckt.
Anuschkas Briefkopf prangte in großen, fetten Lettern darauf: ANUSCHKA HORN, PROMOTION. Darunter in ebenso großen, fetten Buchstaben: HARRY, WAS MACHT DAS NÄCHSTE LIED??!?? Auf der nächsten Seite findest du die Fragen für die morgige Sendung. Ich habe dir die Antworten bereits dazugeschrieben. Wichtig!!!: Vergiss nicht, betroffen zu schauen. Du bist ein sensibler Sänger, daher leide gefälligst unter der Situation. Sonst kommst du bei deinen weiblichen Anhängern nicht authentisch rüber. Gerade Jugendliche haben noch romantische Vorstellungen. Nutz das aus. Sprich möglichst viel über die Liebe und seufze, wann immer es angebracht ist. Vor allem dann, wenn du Fragen bekommst, die nicht auf dieser Liste stehen. Rede dich auf keinen Fall in einen Wirbel hinein. Und vergiss nie: Die Wahrheit nützt niemandem. Weder Gisi noch dir. Ich habe nicht die geringste Lust, wieder einmal einen deiner Ehrlichkeitsausbrüche auszubügeln. Charly holt dich morgen um 11.00 Uhr ab. Ich schaffe es leider nicht vor der Talkshow. Ich habe einen Termin bei einem anderen Sender, da läuft etwas ganz Heißes. Morgen Mittag mehr davon. Wir treffen uns nach der Sendung im VIP-Raum des Funkhauses. Toi, toi, toi!
Anuschka
Harry schnaufte unwillig. Immer die gleiche Leier. Es wurde höchste Zeit, dass man wieder über seine Musik sprach. Aber wie sollte man über neue Lieder sprechen, wenn er keine neuen Lieder hatte? Vielleicht gelang es ihm ja, das Interesse der Talkmasterin auf seine Best-of-CD zu lenken? Dass ihm das gelingen würde, glaubte er selbst nicht.
Mit einer raschen Handbewegung zerknüllte er das Blatt Papier, auf dem er die vier Textzeilen geschrieben hatte. Seine Plattenfirma hatte schon Besseres abgelehnt. Doch Besseres fiel ihm nicht ein. Sein Kopf war wie blockiert. Und wenn er keinen Text hatte, dann hatte er auch keine Melodie. Bei ihm war es nicht so wie bei anderen Künstlern, die zuerst die Melodie im Kopf spürten, bevor sie den passenden Text dazuschrieben. Er brauchte meist zuerst die Idee für einen Text, er brauchte den Inhalt, dann kam die Musik.
Harry überflog die Interviewfragen. Dasselbe Blabla wie vor zwei Tagen im Frühstücksradio. Dieselben Fragen wie vor einer Woche für die Homestory einer Frauenzeitschrift. Dieselben öden Fragen wie vor zwölf Tagen in einer Lokalzeitung.
Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken.
»Ja?«
Herwig meldete sich. Herwig Schauer, Harrys rechte Hand. Sein Leibwächter, sein Terminkoordinator, sein Fanpost-Beantwortungs-Helfer, sein Telefonfräulein, sein Butler. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. Nicht, dass sie sich dort besonders mochten. Bis heute war keine wirkliche Freundschaft zwischen den beiden Männern entstanden. Aber Herwig war gewissenhaft. Er behielt dort einen ruhigen Kopf, wo Harry drohte, die Nerven zu verlieren. Er genoss es, in der Welt der Reichen und Wichtigen eine anerkannte Rolle zu spielen. Und Harry genoss es, möglichst viel an ihn zu delegieren und sich blind darauf verlassen zu können, dass alles zu seiner Zufriedenheit erledigt wurde.
»Dein Bruder, auf Leitung 1.«
Harry drückte auf den Knopf: »Hallo, Kleiner!«
Harry hatte nur einen Bruder. Die beiden waren eineiige Zwillinge. Harry war siebzehn Minuten älter und einen Zentimeter größer als Matthias. Als sie Kinder waren, hatten sie sich wie ein Ei dem anderen geglichen. Inzwischen trug Matthias seine dunkelbraunen Haare kurz geschnitten, an der Stirn mit Gel zum Stehen gebracht. Er war stets glatt rasiert. Seine Kleidung war in jenem schlichten Schwarz, das in der Werbebranche seit Jahren als passendes Understatement galt. Alles edel und schlicht. Zurückhaltende Kleidung für Seeberstein? Undenkbar. Das hätte nicht zu seinem Latin-Lover–Image gepasst. Harry trug seine dunklen Haare schulterlang und hatte das große Glück, dass sie sich von Natur aus in sanfte Wellen legten. Anuschka wäre es zuzutrauen gewesen, ihm ansonsten Lockenwickler zu verordnen. Und Harry trug einen Spitzbart. Zwölf Zentimeter lang, mit Gel zu einem Dreieck geformt. Sein absolutes Markenzeichen. Ebenso wie der Ring in seinem linken Ohr. Meist ein schlichter silberner Ring. Manchmal, wenn er besonders gut aufgelegt war, mit einem originellen Schmuckstück verziert. In den letzten Monaten war es stets der silberne Ring gewesen. Er hatte nicht den geringsten Grund gehabt, gut aufgelegt zu sein.
Man sagt immer, dass sich Zwillinge besonders gut verstehen. Dass der eine weiß, was der andere denkt. Bei Harry und Matthias war dies ähnlich. Auch wenn sie beruflich unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten, auch wenn sie unterschiedliche Leben lebten, ihre Verbindung war eng. Und kein anderer Mann war je so nah an Harry herangekommen, wie es Matthias seit seiner Geburt war.
»Hi Großer, also was ist? Wirst du morgen noch bei mir vorbeischauen? Du weißt ja, ich bin die nächsten vierzehn Tage nicht im Lande. Es wäre schön, dich vorher noch zu sehen.« Matthias war gut gelaunt wie immer.
Harry seufzte. »Ach du Schande. Ich weiß nicht, Matthias, ob daraus was wird. Ich bin morgen Mittag in einer Jugendsendung. ›Eure Superstars – hautnah‹; da werden sie wieder einmal versuchen, mir nicht nur hautnah zu kommen, sondern mir die Haut vom Leib zu reißen. Anschließend will mich Anuschka treffen. Sie hat irgendetwas Großartiges ausgeheckt. Ich wage gar nicht darauf zu hoffen, aber vielleicht ist es ihr wirklich gelungen, einen Sender dazu zu überreden, mir die Moderation einer Show zu übertragen. Aber wie gesagt, das sind noch ungelegte Eier.«
»Moderation? Bist du sicher, dass es das ist, was du wirklich willst? Ich dachte, du seist mit ganzer Seele Musiker?«
»Ja, dachte ich auch. Doch im Augenblick ist es schwierig mit der Musik. Um nicht zu sagen, da ist überhaupt keine Musik in meinem Kopf. Also hält es Anuschka für klug, sich nach etwas anderem umzusehen. Musik kann ich nebenher immer noch machen.«
»Das klingt sehr nach Anuschka. Das klingt nicht nach dir.«
Harry musste grinsen. Typisch Matthias. Einer der wenigen Menschen in seinem Leben, der ihm immer schonungslos die Wahrheit sagte. Und dem sein Star-Status ebenso unwichtig war wie das Geld, das er damit verdient hatte. Matthias verdiente selbst nicht schlecht. Er war Inhaber einer Werbeagentur. Klein, aber exquisit. Und er hatte erst kürzlich einen Großauftrag für einen bekannten Fahrzeugproduzenten in Stuttgart an Land gezogen. Und in dieser Stadt würde er sich auch die nächsten zwei Wochen aufhalten, um sein Konzept gemeinsam mit seinem Kunden umzusetzen.
»Ich weiß, dass ich schon wie Anuschka klinge«, gab Harry zu, »aber was soll ich denn machen? Gisi war gerade bei mir und fordert Unmengen von Geld. Wenn ich die Scheidung will, und ich will die Scheidung, dann muss ich ordentlich in den Geldsack greifen. Denn da ist ja auch noch Schorsch, der ausgehalten werden möchte.«
»Du bist dazu imstande, Harry.« Matthias schüttelte den Kopf. »Der gute Schorsch. Ein netter Kerl, aber ein fauler Hund. Soll er doch selbst arbeiten! Er ist Masseur. Was denkst du denn, wie sich die Schickimicki-Tanten um ihn reißen würden? Ein Mann, der das Topmodel Giselle Verleinen mit seinen Händen glücklich macht. Der ist doch auch für die Frau des Generaldirektors XY genau der Richtige.«
Harry lachte: »Wie wäre es, wenn du mit ihm redest, Kleiner? Du hast wirklich eine Gabe, andere zu überzeugen. Sind die Koffer schon gepackt?«
»Nein, das mache ich erst morgen. Ich hoffe wirklich, dass ich das Projekt in Stuttgart in zwei Wochen durchziehen kann. Ich werde auch danach noch jede Menge Arbeit damit haben. Und dann geht ja bald die große Reise los.«
»Ja richtig, Gitte und du, ihr fahrt nach China. Es ist mir ein Rätsel, was euch dazu treibt, in diesem Land Urlaub zu machen! Vielleicht bekommt ihr zum Mittagessen Hund in Soße. Oder noch schlimmer: rohes Affenhirn. Überall sind massenhaft Menschen. Und schmerzhafte Impfungen brauchst du auch noch.«
»Es geht um die Kultur, Harry, um die Menschen. Das weißt du ganz genau. Mir gegenüber brauchst du nicht den oberflächlichen Popstar hervorzukehren. Natürlich haben wir auch schon mit den Impfungen begonnen. Das wäre gar nicht notwendig gewesen, wenn wir nur nach Peking oder nach Schanghai fahren würden. Aber wir wollen ja in die tiefsten Provinzen. Da ist natürlich Vorsicht die Mutter der Porzellankiste. Gitte hat auch schon die Visa für uns besorgt. Du weißt, wie sie ist. Behördengänge erledigt sie immer so früh wie möglich. Es ist alles geregelt. Und du kannst dir vorstellen, wie ich mich freue! Ich liebe es, ein Land zu entdecken. Und endlich Zeit mit Gitte zu verbringen.«
Wenn Harry sich ein Vorbild für eine gute Ehe hätte nehmen wollen, er hätte die seines Bruders genommen. »Ist Gitte zu Hause?«
»Nein, sie ist gestern nach Darmstadt gefahren, um dort ein Seminar zu halten. Wenn du morgen kommst, haben wir sturmfreie Bude und endlich Zeit, uns einmal in Ruhe zu unterhalten.«
»Das klingt gut, Matthias, aber ich kann nichts versprechen. Ich muss abwarten, was Anuschka geplant hat. Ich melde mich aber auf jeden Fall per Telefon.«
»O.k., Großer, dann alles Gute für die Sendung morgen, und lass dir nicht das Fell über die Ohren ziehen.«