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SECHS

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Frankfurt am Main. Montag 27. Juni 2011

Die Fenster des Zahara, einem italienischen Restaurant am Goetheplatz, waren weit geöffnet und ließen die Abendluft herein. Nach einem ausgiebigen Regenschauer hatte es deutlich abgekühlt. Helen liebte dieses Lokal, aber heute drang das fröhliche Durcheinander von Lachen und dem Klappern von Geschirr nicht bis in ihr Bewusstsein vor. Ihre anfängliche Begeisterung über den Umzug nach Paris hatte sich schnell wieder gelegt, als sie sich gefragt hatte, wie ihr Freund Clemens die Nachricht wohl aufnehmen würde. Sie war sich ziemlich sicher, dass er von einer Fernbeziehung nichts halten würde.

Der Kellner kam und stellte eine gekühlte Flasche Pinot Grigio auf den Tisch. Helen starrte auf das Etikett, ohne die Buchstaben darauf wahrzunehmen. Irgendwann musste sie mit den Neuigkeiten herausrücken. Nervös drehte sie ein Stück Weißbrot zwischen den Fingern und fing schließlich an, es zu zerkrümeln.

„Was ist denn los mit dir?“, fragte Clemens.

Helen lächelte ein wenig hilflos und schüttelte den Kopf. „Nichts, alles in Ordnung, ich bin nur ein bisschen durcheinander, aber lass uns erst einmal etwas zu essen bestellen. Ich glaube, ich nehme die Tagliatelle mit Lachs, und du?“

Clemens musterte sie prüfend, entschloss sich aber, den Kopf über die Menükarte zu senken und sich in die angebotene Speisenvielfalt zu vertiefen. Gut so, dachte Helen, ein paar Minuten Galgenfrist. Ohne auch nur ein zusammenhängendes Wort aus dem Gewimmel von Buchstaben entziffern zu können, richtete auch sie ihren Blick stur auf die Speisekarte.

Ihre Gedanken wanderten wieder zu der bevorstehenden Beichte. Ihre Entscheidung, nach Paris zu gehen, kam wahrlich nicht zum richtigen Zeitpunkt. Clemens und sie kannten sich erst seit wenigen Monaten und ihre Verliebtheit war vielleicht noch nicht gefestigt genug für eine Wochenendbeziehung. Außerdem war Clemens ein Perfektionist. Durch und durch. Er plante alles mindestens ein halbes Jahr im Voraus. Wenn irgendwie möglich, noch länger. Er war Jurist – wahrscheinlich musste er so veranlagt sein, andernfalls hätte er es wohl nie so weit gebracht. Die Sache mit Paris lag eindeutig nicht im Plan.

„Ich nehme die Dorade.“

Clemens´ Stimme schreckte Helen aus ihren Gedanken. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem Weißwein und während sie noch dachte, dass der ausgesprochen gut schmeckte, atmete sie einmal tief durch und erzählte von ihrem bevorstehenden Umzug nach Frankreich.

Dass Clemens so ausrasten würde, hatte Helen nicht erwartet.

„Ich glaube das einfach nicht“, presste ihr Freund zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und hielt seinen Blick an einen imaginären Punkt an der Decke geheftet. „Du beschließt einfach so, nach Frankreich zu gehen? Ohne vorher mit mir darüber zu reden? Stellst mich einfach vor vollendete Tatsachen? Nein, lass“, mit einer abwehrenden Handbewegung brachte er Helen, die zu einer Erklärung ansetzen wollte, zum Schweigen. „Das Schlimme ist nicht einmal, dass du das einfach so ohne mich beschließt. Das Allergrößte ist, dass es dir gar nichts auszumachen scheint. Du gleitest mal eben so von einer Lebensphase in die nächste.“ Wütend stieß er Luft aus und schüttelte den Kopf in völligem Unverständnis.

„Jetzt bist du ungerecht“, erwiderte Helen und streckte die Hand in einer versöhnlichen Geste über den Tisch hinweg aus.

„Paris ist doch nicht aus der Welt. Wir beide kennen doch Paare, die in einer Fernbeziehung leben und es wäre auch nur für eine begrenzte Zeit. Du kommst mich am Wochenende besuchen und wir genießen gemeinsam diese herrliche Stadt. Wäre das nicht gigantisch? Wir beide! Wir hätten sogar eine Wohnung, stell dir vor, wie richtige Pariser, und müssten uns nicht wie Touristen mit einem Mini-Hotelzimmer mit jahrhundertealtem Bad und quietschenden Betten abgeben. Wir können sonntags im Parc Monceau joggen gehen, dann auf einen Kaffee in ein schönes Bistro und am Nachmittag machen wir die Trödelmärkte unsicher.“

Clemens gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen Schluchzen und verächtlichem Auflachen lag.

„Das hast du dir ja alles schon fein ausgedacht. Man könnte fast meinen, wir wären übermorgen schon dort. Komm mal wieder auf den Boden, Helen! Ich finde deinen Enthusiasmus gerade etwas unangebracht.“ Er griff zu der Flasche San Pellegrino und schenkte sich Wasser ein, ohne Helen davon anzubieten. „Falls es dir bei aller Begeisterung entgangen sein sollte - ich habe auch einen Job und wie du weißt, gehöre ich nicht zu jenen, die um 16 Uhr den Bleistift fallen lassen. Ich bin froh, wenn ich am Wochenende ein bisschen relaxen kann. Und momentan gefällt mir die Vorstellung nicht besonders, am Freitagabend zum Bahnhof zu hetzen, um den letzten Zug nach Paris zu bekommen. Ja ich weiß, der TGV braucht jetzt nur noch vier Stunden – und dennoch komme ich erst mitten in der Nacht bei dir an und lasse mich schlagkaputt in deiner tollen Wohnung neben dir ins Bett sinken. Prima! Und den Traum vom Sonntagnachmittag kannst du dir schon gleich abschminken, da sitze ich nämlich schon wieder im Zug und bereite mich mit dem Laptop auf den Knien auf den Montag vor. Der nach solch einem Stress-Wochenende bestimmt ganz besonders angenehm sein wird.“

Den letzten Satz hatte er in einem so angewiderten Ton herausgepresst, dass Helen kurz nach Luft schnappen musste. Natürlich hatte sie damit gerechnet, dass Clemens nicht begeistert sein würde. Doch aus irgendeinem Grunde hatte sie darauf gehofft, dass er sich auch ein wenig für sie freute. Ja, sie hatte sich vorgestellt, dass er sich sogar sofort seiner Organisationsleidenschaft hingeben und die gemeinsamen Wochenenden planen würde. Hatte sie ihn doch so falsch eingeschätzt? Von Unterstützung war nichts zu spüren. Power? Fehlanzeige! Bisher hatte sie gedacht, dass er ein Mann sei, den nichts so leicht aus der Fassung bringen konnte. Perfektionistisch war er schon, aber auch so voller Energie und immer unter Strom – so hatte sie ihn kennengelernt. Sie griff zu ihrem Glas und während sie den Grauburgunder schluckte, ohne viel von seinem feinen Geschmack zu spüren, wurde Helen plötzlich eines klar: Sie kannte diesen Mann, der ihr hier in ihrem Lieblingslokal gegenüber saß, weniger, als sie sich hatte eingestehen wollen. Doch hier ging es um die Erfüllung ihres Traums und sie wünschte sich, dass er das verstand. Sie nahm noch einen Schluck und sagte in schmeichelndem Tonfall: „Du weißt doch wie sehr ich diese Stadt liebe. Und dieser Job ist für mich die einmalige Möglichkeit, für eine begrenzte Zeit dorthin zu ziehen.“ Sie blickte Clemens direkt in die Augen und sah darin, ja, was? Schmerz, Enttäuschung, aber vor allem Zorn. Dunklen, mühsam zurückgehaltenen Zorn. Helen bemühte sich um eine feste Stimme.

„Das bedeutet mir sehr viel. Diese Stadt begleitet mich schon mein ganzes Leben lang und nun kann ich endlich richtig dort leben, arbeiten, einkaufen gehen und sogar eine eigene Wohnung beziehen.“ Sie lachte kurz auf. „Ich kann es selbst kaum fassen. Verstehst du denn nicht, wie glücklich mich das macht?“

Clemens blickte sie an und seine sonst so sanften Augen bekamen einen harten Ausdruck.

„Ich verstehe nichts? Du verstehst nichts. Gar nichts. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt, der so kalt sein kann. Merkst du eigentlich, dass du die ganze Zeit nur von dir redest? Schön, ja, du hast eine tolle Chance, aber wir als Paar werden dabei den Kürzeren ziehen und das ist dir offensichtlich vollkommen egal. Ich müsste eigentlich völlig fassungslos sein, dass dir unsere Trennung so wenig ausmacht, aber ach“, Clemens stieß einen kurzen, harten Ton aus, „dass du dich nie so ganz auf unsere Beziehung und auf mich einlassen konntest, das weiß ich ja schon lange. Das war schon von Anfang an unser Problem. Oder besser gesagt, meines! Aber weißt du was?“ Clemens senkte seinen Kopf und zerpflückte ein Stückchen Weißbrot, das neben seinem Teller gelegen hatte. Helen schaute erwartungsvoll auf seine Stirn, wartete darauf, dass er den Kopf wieder heben und herausfordernd anzwinkern würde, während er sagte: Du fällst auch immer wieder auf mich rein, Süße, ich gönne dir deinen Trip nach Paris – zeig´s den Franzosen und dann kommst du als Marketing-Chefin wieder. Du weißt, wie sehr ich dich liebe, ich werde die Zeit sicher überstehen und außerdem ist Paris ja nicht aus der Welt und der TGV ist verdammt schnell.

Aber dies hier war keine Vorabend-Soap, sondern Realität. Und als Clemens nach einer gefühlten Ewigkeit den Kopf hob, sah Helen in seine Augen und machte sich innerlich bereit für sein Abschiedsplädoyer. Das nicht kam. Er stand schweigend auf, wobei er die Serviette erst fein säuberlich faltete und dann neben dem Teller platzierte.

Er sah sie an und murmelte: „Vergiss es.“

Er will doch jetzt nicht einfach so gehen, dachte Helen. Mich hier sitzen lassen wie eine abservierte Affäre? Aber das tat er nicht. Nicht sofort jedenfalls. Bevor er kerzengerade und offensichtlich völlig ungerührt zwischen den Tischen hindurch auf den Ausgang zusteuerte, warf er ihr noch einen letzten Satz hinüber.

„Du bist gar nicht fähig, jemanden zu lieben, weißt du das eigentlich?“

Helens Augen wurden groß und hefteten sich auf Clemens Rücken, der sich langsam entfernte, bis er schließlich nicht mehr zu sehen war.

„Pfff“, stieß sie hörbar Luft aus und dachte: Das ist ja wohl nicht dein Ernst, mein Lieber. Wer ergreift denn hier die Flucht und wirft gleich die Flinte ins Korn? Mhm? Ich? Du bist es doch, dem die Beziehung anscheinend nicht wichtig genug ist, um es wenigstens einmal zu versuchen. Vor Wut schlug sie mit der Faust auf den Tisch und griff dann entschlossen zur Weinflasche. Sie würde sich von diesem Schlappschwanz nicht ihre große Chance vermiesen lassen. Sie warf den Kopf in den Nacken und richtete ihren Blick herausfordernd auf die Menschen um sie herum. Doch auf einmal bemerkte sie, dass sich ein leichter Schleier vor ihren Augen bildete und noch bevor sie es richtig begriffen hatte, fühlte sie die erste Träne ihre Wange hinunterlaufen. Und während sie auf die Brotkrümel auf dem verlassenen Platz ihr gegenüber starrte, hallte der letzte Satz von Clemens, dieser eine Satz, wie in einer Endlosschleife durch ihre verworrenen Gedanken.

„Du bist nicht fähig, jemanden zu lieben.“

Und mitten zwischen den lachenden und Pasta essenden Menschen merkte sie, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Still und fast unbemerkt. Kein Schluchzer schüttelte ihren Körper, kein Ton kam über ihre Lippen. Aber eine unendliche Traurigkeit schien direkt aus ihrer Seele durch ihre Augen zu fließen. Was, wenn er recht hatte?

Frühling im Oktober

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