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EINS

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Bad Homburg. Montag, 27. Juni 2011

Goldene Sonnenstrahlen wärmten ihr Gesicht während sie in den grenzenlosen, tiefblauen Himmel blickte. Das Gras zwischen ihren Fingern war samtweich und duftete herrlich. Sie fühlte sich leicht und unbeschwert. Eine kuschelweiche Decke aus Liebe und Geborgenheit hüllte sie ein und das intensive Glücksgefühl floss wie süßer Honig durch ihre Adern. Helen Thallinger schloss die Augen, doch der blaue Himmel war immer noch da und spannte sich über den raschelnden Blättern und dem Gezwitscher der Vögel. Leise Musik gesellte sich zu den Geräuschen der Natur. Wie wunderbar, dachte sie und breitete ihre Arme aus. Die Musik wurde lauter und vermischte sich mit dem Rauschen des Windes. Helen machte sich bereit, in den azurblauen Himmel zu schweben und, von den Klängen getragen, die Schönheit des Augenblicks von oben zu betrachten. Aaach … Schweben …

Das schrille Stakkato eines nervenzerreißenden Pieptons riss kreischend ein Loch in die Harmonien. Graue Nebelschwaden trübten den himmelblauen Horizont. Und dann … „auf der A5 zwischen Heidelberg und Schwetzingen vier Kilometer zähfließender Verkehr.“ Ruckartig schoss Helens Oberkörper in die Höhe. Mit wild klopfendem Herzen spürten ihre Gedanken den Bildern nach, die schon begannen, sich in Nichts aufzulösen. Sie hatte geträumt. Seufzend ließ sie sich zurück in die Kissen fallen. Sie hatte keine Lust aufzustehen. Doch ein Blick auf die leuchtenden Ziffern ihres Radioweckers verriet ihr, dass sie den Montagmorgen mit all seiner Routine nun nicht mehr länger warten lassen konnte. Mit einem erneuten Seufzer gab sie ihrem müden Körper einen Ruck und schwang die Beine über die Bettkante.

„So schnell können Träume zerplatzen“, murmelte Helen und brauchte drei Anläufe, um ihren rechten Fuß in den Hausschuh gleiten zu lassen. „In einer Sekunde noch berauscht vom Glücksgefühl und schon in der nächsten wieder auf der Matratze der Realität gelandet.“ Sie schmunzelte über ihre eigenen Worte und band ihre langen, haselnussbraunen Locken zu einem wuscheligen Knoten. Frisch geduscht tappte sie fünf Minuten später mit der Zahnbürste im Anschlag in die Küche, um schon einmal den Kaffee aufzusetzen. Zu geschäumter Milch reichte die Zeit nicht, aber dafür war auch kein Zucker mehr im Hause. Prima! Sie huschte zurück ins Bad, nahm unterwegs die gewaschenen und bei näherem Anfühlen auch noch nicht völlig getrockneten Nylons vom Wäscheständer und machte sich kurz darauf daran, die Kontaktlinsen in ihre noch müden und verquollenen Augen zu platzieren. Teebeutel halfen da, fiel ihr ein. Aber auch dafür war an diesem Morgen des letzten Montag im Juni keine Zeit. Was jetzt noch fehlte, war die Konfrontation mit dem Kleiderschrank. Ihre Lieblingsblusen waren wie immer im Wäschekorb, wo sie traurig und ineinander verschlungen lagen und auf ihre wohlverdiente Bügeleisen-Behandlung warteten. Seit Tagen! Ein verzweifelter und gehetzter Blick in den Schrank bestätigte das, was sie bereits geahnt hatte. Nichts drin! Zumindest nichts, das annähernd bürotauglich gewesen wäre. Aber vielleicht ginge ja doch die weiße Bluse mit den kurzen Ärmeln. Ihren von Natur aus braunen Teint würde das Weiß des Stoffes noch besser zur Geltung bringen. Davon ablenken, dass die Bluse gut und gerne eine Konfektionsgröße größer hätte sein dürfen, konnte sie dennoch nicht. Nicht auch das noch! Dieser Montagmorgen war wirklich zu knapp getaktet, um sich über Gewichtsprobleme oder die Süßigkeiten von gestern Abend Gedanken zu machen. Es half alles nichts, sie brauchte etwas zum Anziehen. Ihr Blick fiel auf den einzigen Stuhl im Schlafzimmer. Die Lehne diente als Ablageplatz für diverse Schichten mehr oder weniger knitterfreier Kleidungsstücke und Helen fragte sich, wie es möglich war, dass für dieses Sitzmöbel die Gesetze der Schwerkraft offensichtlich nicht galten. Zielsicher angelte sie sich eine halbwegs glatte dunkelblaue Jeans aus dem Stapel und entdeckte zwei Lagen darunter ihren neuen himbeerroten Pullunder. Die optimale Ergänzung zu einer zu eng gewordenen, aber gebügelten Bluse, freute sich Helen. Jetzt nur noch die passenden Schuhe. Wie gut, dass man wenigstens die mit wenig Aufwand ausgehbereit halten konnte. Auf Zehenspitzen, wegen der nicht parketttauglichen Absätze, flitzte sie in die Küche und schenkte sich eine Tasse aus ihrer geliebten italienischen Kaffeemaschine ein. Dann ging’s mit dem Becher zurück ins Bad, wo sie die letzten, alltäglichen Handgriffe erledigte. Make-up auftragen, Wimperntusche in dunkelbraun, ein wenig Rouge und zum Schluss braungoldener Lippenstift. Ein prüfender Blick in den Spiegel – und schon war Helen aus der Haustür.

Sie fuhr ihr Cabriolet aus der Garage und gab Gas. Ihr Arbeitsplatz war nur einige Kilometer von ihrer Wohnung entfernt und sie genoss die Fahrt durch die liebliche Taunuslandschaft. Das Auto, das ihr in einer Haarnadelkurve mit viel zu geringem Abstand entgegen kam, sah sie in allerletzter Minute. Mit erschrecktem Hupen wich Helen aus und brüllte ein wütendes „Connard!“ in ihren Rückspiegel. Es kam öfter vor, dass sie auf Französisch fluchte. Sie fand, dass es eleganter klang und sie fühlte sich dabei irgendwie frei, cool – Französisch eben. Das hätte schiefgehen können, dachte sie. Aber der linke Außenspiegel war dem Tode knapp entronnen und so legte sie die letzten Meter unbeschwert zurück. Eine Biegung noch und schon war das imposante Tor der Firma zu sehen, in der sie dafür sorgte, dass die dort produzierten Kosmetikartikel ihren Weg in deutsche und internationale Badezimmer fanden.

So schnell es auf ihren hohen Absätzen möglich war, hastete sie über den Parkplatz zum Eingangsportal von La Luna Cosmetics. Die dunkel getönten Glastüren schoben sich mit lautloser Eleganz auseinander und Helen betrat das mit hellgrauem Marmor ausgestattete Foyer. Besuchern fielen als erstes die riesigen, silbergrauen Buchstaben auf, die, durch indirektes Licht in Szene gesetzt, einen Halbmond bildeten.

„Guten Morgen!“ Heute saß Isabell am Empfang und auch sie schien keinen allzu gelungenen Start in den Tag gehabt zu haben. Die blonden Haare hingen ihr strähnig ins Gesicht und schrien förmlich nach einem Kamm. Auch die Wahl ihrer Garderobe ließ zu wünschen übrig. Verdrossen schaute sie von ihrem Computerbildschirm auf und erwiderte den Gruß.

Laut klapperten Helens Absätze über den spiegelblanken Boden. Sie versenkte ihren Autoschlüssel in den Tiefen ihrer dunkelbraunen Wildledertasche und noch während sie ihre Bluse zurechtzupfte, war sie bei den Aufzügen angelangt. Fast geräuschlos öffneten sich die silberverspiegelten Türen. „Hi, guten Morgen.“ Andi war wie immer strahlend guter Laune und sah aus wie aus dem Ei gepellt. Bei dem ist bestimmt immer eine ganze Kollektion gebügelter Hemden griffbereit und wahrscheinlich auch noch nach Farben geordnet, dachte Helen und zog die Augenbrauen ein wenig nach oben. Schon wollte sie an ihm vorbei in den Fahrstuhl schlüpfen, doch ihr Kollege aus der PR-Abteilung, der immer ein kleines bisschen zu braun war, hatte andere Pläne. „Wie war dein Wochenende, meine Schöne, hattest du Spaß?“, begann er das Gespräch. Wie sie das hasste, wenn er das zu ihr sagte. Meine Schöne, äffte sie ihn lautlos nach, als er seinen stets leicht arroganten Blick an ihr vorbei zum Empfang und damit zu Isabell schweifen ließ. Bestimmt sagte er das zu allen weiblichen Wesen, die ihm über den Weg liefen. Wahrscheinlich war nicht einmal seine keifende, 85-jährige Nachbarin vor seinem ewig grinsenden Charme sicher. Aber es gab wahrlich Schlimmeres. Kaum hatte sie ihre Lippen geöffnet, um zu einer Antwort auf seine Frage anzusetzen, prasselte auch schon ein Hagelsturm von Worten auf sie nieder. Sie machte ihren Mund wieder zu und obwohl sie sich bemühte, nicht hinzuhören, flatterten Wortfetzen in ihren Gehörgang und gelangten irgendwie bis zum Gehirn.

„Wunderschön, traumhaft, erst frühstücken gewesen im Lumen, herrliche Cabriotour, Candlelight-Dinner, Champagner, Nachtisch mit allem drum und dran im Bett.“

„Hoppla!“ Helen horchte auf. Andi war bei den intimen Details angelangt und das war nichts, was sie an einem Montagmorgen ertragen konnte. An einem Dienstagmorgen übrigens ebenso wenig. Eigentlich nie, dachte sie grimmig und machte sich innerlich bereit, die Erzählorgie ihres Kollegen zu unterbrechen.

„Du, sorry, aber ich habe gleich einen Termin“, hauchte sie ihm mit einem entschuldigenden Lächeln entgegen. „Hab noch einen schönen Tag und bis demnächst.“

Sie machte einige Schritte nach rechts und schlug mit der flachen Hand energisch auf den “Aufzug kommt“-Knopf. Als die Türen sich auseinander schoben und den Blick auf ihr eigenes Spiegelbild freigaben, hatte Andi schon sein nächstes Opfer entdeckt und eilte mit einem säuselnden „Guten Morgen, meine Schöne“ auf die Kollegin aus dem Controlling zu, die erst seit ein paar Wochen im Unternehmen war. Mögen deine Ohren noch nicht ganz wach und deine Nerven stark sein, wünschte Helen der Neuen im Geiste. Sie trat in die Kabine und atmete erleichtert auf, als der Aufzug sich mit einem kaum merklichen Zittern in Bewegung setzte.

„Du musst nach Paris!“, schmetterte Helens Chef ihr auf dem Flur des 3. Stockes, Abteilung Marketing und PR, entgegen. Wie festgewachsen stand er dort und sein erwartungsvoller Blick war fest auf sie gerichtet. Er strahlte über sein pausbäckiges Gesicht und sah ein bisschen aus wie der Nikolaus, der sich schon darauf freut, seine Geschenke an die braven Kinder zu verteilen.

„Wer, ich?“ Helen schielte über die eigene Schulter, konnte aber sonst niemanden entdecken.

„Natürlich du!“, donnerte es ihr entgegen. „Wer sonst spricht in diesem Saftladen hier Französisch und außerdem kennst du dich dort aus, stimmt‘s nicht?“

„Doch. Schon. Aber…“ Nein, das klang deutlich zu verzagt und kleinlaut. „Das hört sich spannend an“, setzte Helen deshalb etwas lauter hinzu.

„Dann komm mit in mein Büro, ich erkläre dir, worum es geht.“

Etwas unsicher folgte sie ihrem Vorgesetzten Joachim Dollinger, genannt Joe, über den langen Flur. Erst vor vier Monaten war er aus München ins Rhein-Main-Gebiet gekommen, um bei La Luna Cosmetics die Leitung des Bereiches Marketing und PR zu übernehmen. Und offensichtlich war er bereits dabei, dem Unternehmen neuen Schwung zu geben. Ein Gewittersturm von Gedanken fegte durch Helens Kopf. Paris, das war ja unfassbar genial! Aber wann? Oh Gott, ihre ungebügelten Blusen! Konnte sie die Sprache überhaupt noch gut genug? Was war das da für ein riesiger Fleck auf dem Teppich? Sollte sie fliegen oder den TGV nehmen? Nahm sie ihre Möbel mit? Hatte ihr Chef beim Laufen immer schon so einen Linksdrall gehabt? Und was sollte sie da eigentlich?

„Kaffee?“

Die Frage von Lina, der ein Meter achtzig großen Assistentin ihres Chefs, riss sie aus ihren verworrenen Gedanken.

„Oh ja, gerne.“ Helen fühlte sich ein wenig betäubt, als sie sich auf den ihr angebotenen Stuhl sinken ließ. Sie mochte Joes Büro, es war so ganz anders als die übrigen Zimmer auf diesem Stockwerk. Es gab keine Werke moderner Künstler an der Wand, sondern ein paar selbstgemalte Bilder seiner siebenjährigen Tochter Marie. Scheinbar wahllos klebten sie auf den weißen Schiebetüren eines Sideboards, das die gesamte Raumlänge einnahm. Die Stühle waren bequem und weit entfernt vom Design der Kreationen aus Chrom und schwarzem Leder, auf denen man so weit nach hinten rutschte, dass man von seinem Gesprächspartner gerade eben noch die Gesichtszüge erkennen konnte. Auf dem Schreibtisch ihres Chefs prangte denn auch keine Designerlampe, sondern ein goldfarbenes Ungetüm mit grünem, rechteckig-gewölbtem Schirm. Nach eigenen Angaben hatte er es auf dem Londoner Portobello Market erstanden und war überzeugt, dass in dessen Lichtschein schon Queen Mum ihre Post gelesen hatte. Helens Blick huschte über die zum Teil bedenklich windschiefen Stapel von Papieren, über Visitenkarten, angeknabberte Bleistifte und diverse Produktfotos. Joe nahm ihr gegenüber Platz, und als sie beide ihre dampfenden Kaffeebecher in Händen hielten und die Süßstofftäfelchen darin versenkten, begann er endlich zu sprechen.

„Du weißt doch, Helen, die Niederlassung in Paris läuft nicht wie gewünscht. Die Werbung greift nicht richtig und unsere Produkte verkaufen sich nicht so gut wie erwartet. Die Konkurrenz der einheimischen Konzerne ist einfach zu groß.“

Er verlagerte sein Gewicht und presste kurz die Lippen zusammen. Es folgte eine Pause und nachdem Joachim Dollinger einmal bedächtig durchgeatmet hatte, ging sein bayerisches Temperament mit ihm durch. Er polterte: „Die damischen Franzosen, die damischen, nix kammer ihnen recht machen, nix ist gut genug für den französischen Markt, Herrgott nochamal, wenn das so weitergeht, geht bald gar nix mehr. Mir san kurz davor, den Laden in Frankreich dicht zu machen und wer is wieder schuld, ja wer?“ Joe legte eine weitere Pause ein, um Atem zu schöpfen und schlug wütend mit der flachen Hand auf die Armlehnen seines Sessels.

„Ich! Ich!“ Er stieß einen kurzen und fast ungläubigen Lacher aus. „Angeblich passt unsere Marketingstrategie nicht zu den Bedürfnissen des französischen Marktes, HA! Herrgott Zeiten, des is wieder typisch. Wir in der Zentrale, ja, mir san wieder die Bösen, wir sind unfähig, richtige Konzepte zu entwickeln, verstehen angeblich unser Geschäft nicht.“

Helens Chef war inzwischen halb von seinem Stuhl aufgestanden und stützte sich so hart auf dem Schreibtisch ab, dass es aussah, als wolle er sogleich mit einem Sprung drübersetzen. „Da könnt ich narrisch werden. Wer kann unsere Strategie nicht umsetzen, ja wer denn? Die doch, die depperten Kollegen in Paris, die depperten!“

Den letzten Satz hatte er herausgebrüllt und aus den Augenwinkeln sah Helen, dass die Tür sich einen Spalt geöffnet hatte und Lina einen besorgten Blick ins Büro warf. Schon gut, bedeutete Joe ihr mit einer beruhigenden Geste und setzte sich wieder in seinem Stuhl zurecht. Er räusperte sich kurz, und etwas verlegen ob seines Zornesausbruchs beschrieb er Helen ausführlich und sehr sachlich, was er sich zur Rettung der französischen Niederlassung ausgedacht hatte. Und welche Rolle sie in diesem Plan spielen sollte. Zwei Tassen Kaffee und anderthalb Stunden später war sie bis ins Detail informiert und noch immer etwas benommen: Zum ersten September würde sie nach Paris ziehen. Für mindestens ein Jahr!

Frühling im Oktober

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