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VIER

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Frankfurt am Main. Montag, 27. Juni 2011

Das arme Mädchen. Zwar hatte sie schnell den Kopf wieder gesenkt, aber er hatte dennoch ihr tränenverschmiertes Gesicht erkennen können und ihr Schluchzen war noch zu hören, bis sie zwei Stockwerke weiter oben in ihrer Wohnung verschwand. Klaus Kögel zog langsam die Haustür hinter sich zu. Er ging das kurze Stück durch den Hof hinaus auf den von Straßenlampen aus den 50er Jahren beleuchteten Gehweg.

„N´Abend“, grüßte er den jungen Mann, der gerade die Tür eines Hauses am Ende der Straße aufstieß.

„Hallo“, erwiderte der Fremde ohne Aufzublicken.

Besser so, dachte Klaus, ich sehe ja wahrscheinlich auch wieder aus wie der letzte Mensch. Er war sich seiner Wirkung auf seine Umwelt wohl bewusst und dachte sich, dass er wohl genauso abweisend reagieren würde, wenn er sich selbst auf der Straße begegnet wäre. Bei dieser Vorstellung konnte er ein Grinsen nicht unterdrücken, doch schon einige Sekunden später legte sich der für ihn so typische traurige Zug um seinen Mund. Was hatten die letzten zweieinhalb Jahre bloß aus ihm gemacht? Aber nein, es hatte ja schon viel früher begonnen. Wenn er dem Ursprung seiner Traurigkeit nachspüren wollte, dann müsste er viel weiter zurückdenken. In eine Zeit, die angefüllt war mit den Träumen von einer Zukunft als Star-Architekt, mit ganz genauen Vorstellungen davon, wie sein Haus einmal aussehen würde und welche Automarke in der blitzblanken Garage parken sollte. Und mit einer Frau, Karin, die ihm damals wie das berühmte Tüpfelchen auf dem i erschienen war. Er hatte sie in einer Vorlesung an der Universität kennengelernt und er wusste, dass seine Träumereien nun endlich Gestalt annehmen würden.

Karin war damals gerade erst aus einer kleinen Stadt in Norddeutschland nach Frankfurt gezogen. Nachdem ihre Eltern kurz nacheinander gestorben waren und sie weder Geschwister noch andere Familienangehörige hatte, wollte sie in einer fremden Stadt ganz neu anfangen. Sie hatte ihm das gleich bei ihrem ersten Treffen erzählt, und Klaus hatte sich einem Menschen noch nie so nahe und verbunden gefühlt. Er war bis über beide Ohren verliebt gewesen und gleichzeitig hatte er sich für sie verantwortlich gefühlt. Karin war für ihn wie eine Art Grundstein, die Basis für die Erfüllung all seiner Wünsche. Aber es war ganz anders gekommen. Ja, es war etwas geschehen und das Schlimmste war wohl, dass er nicht einmal wusste, was genau passiert war, damals, 1978, in Paris. Wahrscheinlich hatten ihn die Ereignisse deshalb nie losgelassen, weil das Ende der Geschichte fehlte. Ausgang ungewiss, dachte Klaus und zog den Reißverschluss seiner Jacke ein wenig weiter nach oben. In den ersten Wochen und Monaten nach Karins Verschwinden hatte sein Gehirn unablässig die Erinnerung neu sortiert. Es erfand mögliche und unmögliche Szenarien, baute komplexe Geschichten, ersann die abenteuerlichsten Begebenheiten, nur um kurz darauf alles zu verwerfen und auf eine einfache Erkenntnis zu reduzieren. Er war mit seiner Freundin in die Stadt der Liebe gefahren und ohne sie zurückgekehrt. So grausam einfach war das. Sein panischer Aktionismus bei dem Versuch, Karin zu finden, war einer bleiernen Stille gewichen. Er hatte sich zurückgezogen, kaum noch Kontakt zur Außenwelt gehabt. Seine Geschichte ging niemanden etwas an, er hatte nicht darüber reden wollen. Mit seinen Freunden, ja, das schon. Am Anfang. Doch irgendwann hatten auch die resigniert. Du willst dir ja nicht helfen lassen, Klaus, hatten sie gesagt. Und ermüdet von seinen ewig gleichen Reden hatten sie sich schließlich abgewendet. Auch die ursprüngliche Anteilnahme der Polizei hatte sich gewandelt und war einem mitleidigen, mitunter gar genervten Blick der Beamten gewichen, sobald er im Hauptkommissariat Frankfurt aufgetaucht war. Wenn er daran dachte, stieg heute noch ein Gefühl aus Scham und Verzweiflung in ihm auf. Er versuchte, den Gedanken zu vertreiben und strich sich mit zittriger Hand eine Haarsträhne zurück.

Irgendwie hatte er es geschafft, sein Studium zu beenden. Mit verbissenem Ehrgeiz hatte er sich in die Arbeitssuche gestürzt und schließlich eine Anstellung als Junior-Projektleiter in einem Architekturbüro ergattert. Das Berufsleben verlangte Klaus viel Kraft und Energie ab. Er ging ganz in seiner Aufgabe auf und die Wucht seines neuen Lebens drängte die Geschehnisse in Paris eine Weile lang in den Hintergrund. Und dann kam Brigitta. Mit einer erfrischenden Unbeschwertheit ausgestattet, war sie eines Tages ins Büro spaziert, um sich als neue Kollegin vorzustellen. Im Laufe der Zeit hatte sie, in kleinen Etappen und mit behutsamen Schritten, nach und nach Klaus´ Herz erobert. Schließlich hatte er sich ihr geöffnet und sie weinten gemeinsam über seine furchtbare Geschichte. Und als irgendwann die Pariser Polizeibehörde die knappe Nachricht schickte, dass im Fall der vermissten Karin Reinhardt aus Mangel an Hinweisen die Akte endgültig geschlossen werden sollte, war es Brigitta gewesen, die ihm Trost gegeben hatte. Sie hatten geheiratet und einen Sohn bekommen. Als dann noch in dem schönen Altbau, in dem Klaus seine Studentenbude bewohnt hatte, eine größere Wohnung frei geworden war, hatten sie zugegriffen. Das Leben war ohne große Höhen und Tiefen jeden Tag aufs Neue weitergegangen. Das Glück war doch noch zu ihm gekommen. Zumindest hatte Klaus diese Zeit so wahrgenommen und er war ganz sicher gewesen, sein Leben wieder im Griff zu haben. Nach allem, was passiert war. Aber dann, vor zweieinhalb Jahren, war seine Frau gestorben. Ihr gemeinsamer Sohn Oliver war zur Beerdigung aus Kanada angereist, wo er seit einigen Jahren lebte. Sie hatten viel geredet. Über die Zukunft und über die Vergangenheit. Irgendwann während dieser langen Gespräche musste es wohl passiert sein: Die dicke und undurchdringliche Masse, mit der Klaus Teile seiner Vergangenheit bedeckt hatte, begann sich zu bewegen, weil es unter ihr rumorte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie schließlich Risse bekam und aufbrach. Und alles, was lange verdrängt und längst vergessen schien, hatte sich aufs Neue einen Weg an die Oberfläche gebahnt. Seither stritten die Stimmen in seinem Kopf wieder: „Karin ist tot, Klaus, tot. Aber nein, Klaus, hätte man ihre Leiche dann nicht gefunden? Sie lebt, es kann nicht anders sein, sie lebt!“

Nie schienen diese verdammten Stimmen zur Ruhe kommen zu wollen. Sie hatten aus ihm den Mann gemacht, der er heute war.

Eine leere Plastiktüte wurde von einem stürmischer werdenden Wind über den Bürgersteig geweht und blieb an Klaus´ Hosenbein hängen. Verwirrt schaute er auf – wie aus einer kurzen Ohnmacht erwacht. Er hatte gar nicht gemerkt, wie weit er schon gelaufen war. Völlig in Gedanken versunken war ihm nicht einmal aufgefallen, dass es zu regnen begonnen hatte und nun war sein Mantel durchweicht und die nassen Haare hingen ihm strähnig in die gefurchte Stirn. Er schaute sich um und sah, dass er nicht weit vom Blauen Krug, einer kleinen Eckkneipe in Sachsenhausen, entfernt war. Der Regen war jetzt stärker geworden und er beschleunigte seine Schritte, die auf dem von Nässe glänzenden Kopfsteinpflaster lauter hallten, als es ihm lieb war. Er wich einem Radler aus, der den Bürgersteig dem holprigen Untergrund auf der Gartenstraße vorzog. Als er in die Schweizer Straße einbog, sah er schon von weitem die altmodische Laterne, die mit ihrem sanften Licht die Stufen zur Eingangstür des Blauen Krugs beleuchtete. Kurz darauf stieß Klaus die Tür der Kneipe auf und ein Gemisch aus Essensduft, Musik und lautem Stimmengewirr schlug ihm entgegen. Klaus fühlte sich sofort wieder wohl in der Atmosphäre dieser Apfelweinwirtschaft. Dunkles, grobes Holz dominierte den Raum und die Bar, die aussah, als wäre seit den 50er Jahren nichts daran verändert worden, strahlte eine warme Gemütlichkeit aus. Auf dem Tresen stand eine ganze Armada von Bembeln, Krügen aus Steingut, aus denen der Apfelwein ausgeschenkt wurde. Die Zapfhähne der Binding-Brauerei und Schwarz-Weiß-Fotografien eines längst vergangenen Frankfurt komplettierten das Bild von der guten alten Zeit. Klaus sah sich nach einem freien Platz um und grüßte dabei den Wirt mit einem kurzen Kopfnicken. Der erwiderte den Gruß ohne dabei das blau karierte Handtuch beiseite zu legen, mit dem er gerade ein für die Region typisches „geripptes“ Apfelweinglas trocken rieb. Kaum hatte Klaus an einem kleinen Tisch in der hintersten Ecke des Raumes Platz genommen, näherte sich auch schon Elsa, eine der Bedienungen des Kruges, mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen. Sie trug wie immer eine blumengemusterte Bluse zu einem altmodischen dunkelblauen Rock und erinnerte Klaus irgendwie an die „Mama Hesselbach“, eine der Figuren aus der sehr beliebten Spielfilmserie der 50er Jahre. Auch in seiner Jugend waren die Folgen noch oft im Fernsehen ausgestrahlt worden.

„Guten Abend, de Herr“, sagte Elsa in ihrem hessischen Dialekt und fuhr mit einem Wischlappen über den massiven Holztisch. „Ganz schö stermisch drauße, gelle! Was derfs dann sei? ´N sauer Gespritzde, wie immer?“

Klaus nickte und bestellte nach kurzer Überlegung auch noch ein Schneegestöber dazu. Er liebte diese leckere, hessische Spezialität, die aus angemachtem und aufgeschlagenem Käse bestand, der mit Gurken und, zumindest hier im Krug, in den Käse gesteckten Salzstangen bestand. Er hatte wieder einmal vergessen, sich etwas zu essen zuzubereiten, und nun machte sein knurrender Magen ihn darauf aufmerksam. Warum auch nicht, dachte Klaus, warum sollte er es vorziehen, in seiner einsamen Küche zu sitzen, die Wand anzustarren und zu grübeln. Außerdem kam er gerne hierher und bemühte sich, gerade nur so viel zu trinken, dass er nicht unangenehm auffiel. Die Sinne beisammenzuhalten, um nicht laut zu werden. Im Stande zu sein, ohne Peinlichkeiten die Rechnung zu bezahlen. Und am Ende geraden Ganges aus der Kneipentür zu gelangen. Das waren seine Prinzipien und bisher hatte er es geschafft, sie zu befolgen. Elsa brachte ihm seinen Apfelwein, und Klaus führte das Glas eilig zum Mund. Er wusste, dass er an manchen Tagen aussah, als hätte er unter der Brücke geschlafen und viel zu oft umwehte ihn eine unverkennbare Alkoholfahne. Trotzdem wurde er im Krug immer korrekt behandelt, und er bedankte sich jedes Mal im Stillen beim Wirt und den Bedienungen, dass sie seine Anstrengungen bemerkten und honorierten. Er war ein Gast wie jeder andere und dachte oft: Wenn ihr wüsstet, wie viel mir das bedeutet. Gedankenverloren blickte er in Richtung Theke und sah, wie Elsa wieder seinen Tisch ansteuerte. Schwungvoll stellte sie den Teller mit dem Käsegericht und einen kleinen Brotkorb neben dem Apfelweinglas ab. „Lass es dir gut schmecken, Klaus!“ Sie nickte ihm freundlich zu und eilte zum Nachbartisch, um die Bestellung aufzunehmen. Klaus nahm eine Scheibe des dunklen, kräftigen Bauernbrotes aus dem kleinen, mit einem rot-weiß karierten Tuch ausgeschlagenen Körbchen und gab einen großen Klecks von dem Schneegestöber darauf. Doch er biss nicht hinein. Und noch während er auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Glas blickte, senkte er seine Hand wieder hinab und war mit seinen Gedanken mit einem Mal wieder in Paris. Im Mai des Jahres 1978.

Paris. Donnerstag, 18. Mai 1978

„Schau doch nur, Klaus, da ist er, dort hinten“, aufgeregt zupfte Karin ihn am Ärmel seines dunkelblauen Seemannspullis. „Der Eiffelturm, ich werde verrückt, ich sehe den Eiffelturm.“ Klaus hievte sich aus seinem unbequemen Sitz, beugte sich über seine Freundin und sah aus dem Zugfenster. Kleine Einfamilienhäuser in tristem Einheitsgrau reihten sich an einer wenig befahrenen Straße aneinander. In einigen Fenstern brannte Licht, ansonsten war nichts zu sehen.

„Wo siehst du denn hier einen Eiffelturm?“, fragte er, den Blick weiter nach draußen gerichtet.

„Da hinten, am Horizont, schau doch!“

Karins Kopf erschien neben ihm und deutete dorthin, wo sich aus hellen Nebelschwaden die ersten Umrisse eines Häusermeeres erkennen ließen. Mit viel Phantasie konnte man die Silhouette des wohl berühmtesten Bauwerkes der Welt erkennen. Klaus nickte fast unmerklich und hielt seinen Blick weiter auf die vorbeiziehende Vorstadt gerichtet. Plötzlich stellte er fest, dass das Bild sich veränderte. Die enge Bebauung wurde lichter und nachdem einen kurzen Moment lang nur Felder zu sehen waren, kamen nun hässliche Hochhäuser in Sicht. Dicht an dicht ragten sie in den grauen Himmel und die dreckigen Fassaden mit ihren blinden Fenstern schauten auf die Gleise hinab wie stumme Beobachter. Nur hie und da durchbrach ein buntes Wäschestück, das auf einem der zahllosen Balkone im Wind flatterte, die düstere Atmosphäre. „Mhm“, machte Klaus, und Karin ließ sich mit einem genervten Seufzer zurück in ihren Sitz fallen.

„Ich hoffe, deine Laune bessert sich, sobald wir in der Stadt sind“, murmelte sie hinter ihrem Reiseführer hervor und machte es sich wieder auf ihrem Platz bequem. „Ich freue mich schon so sehr auf Paris und du wirst sehen, es wird dir auch gefallen. Ich verspreche es!“

„Schon gut, es tut mir leid“, presste er hervor und warf einen letzten Blick auf die trostlosen Wohntürme, die scheinbar endlos draußen vorbeizogen. „Du weißt, ich mag keine fremden Städte, schon gar keine, die größer sind als Frankfurt.“ Er drehte sich so, dass er Karin direkt in die Augen blicken konnte. „Es passiert immer soviel Schlimmes in solchen Metropolen. Wir kennen uns nicht aus und ich fühle mich dann einfach unwohl. Was, wenn wir uns verlaufen und in eine gefährliche Gegend geraten?“ Er seufzte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Ach, ich weiß auch nicht, mir ist irgendwie nicht ganz wohl bei der Sache.“

Karin sah ihn an und fuhr ihm zärtlich mit der Hand über die blonden Locken. „Sei doch nicht immer so ängstlich, mein Schatz“, flüsterte sie. „Es wird wundervoll werden, das verspreche ich dir. Diese Stadt muss ein Traum sein, die Gebäude, die Prachtstraßen und die herrlichen Plätze!“ Sie richtete sich ein wenig in ihrem Sitz auf und ihre Augen blitzten vor Unternehmungslust. „Wir werden uns unter die Pariser mischen und in kleinen, gemütlichen Bistros auf Stühlen sitzen, die auf den Bürgersteigen stehen, stell dir nur vor!“ Sie lachte aufgeregt. „Man sitzt dort tatsächlich zum Kaffeetrinken und sogar zum Essen auf dem Trottoir!“

Klaus konnte sich ihrer Fröhlichkeit nicht länger entziehen und schlug sich entschlossen mit beiden Händen auf die Oberschenkel. „Also los, ma chérie, dann lass uns die französische Hauptstadt erobern. Paris, wir kommen!“ Er zog seine lachende Freundin in die Arme und gab ihr einen langen und zärtlichen Kuss. Doch als er sein Kinn auf ihren Kopf legte, schaute er hinaus in den regengrauen Himmel und sein Blick richtete sich beunruhigt und wie in düsterer Vorahnung auf die sich nähernde Stadt.

„Pardon!“ Mit einer entschuldigenden Kopfbewegung schaute der Herr vor ihm über die Schulter und entfernte sich eiligen Schrittes über den Bahnsteig. Er wechselte den Koffer, mit dem er Klaus gerade einen unbeabsichtigten Schubser versetzt hatte, von der rechten in die linke Hand und hob ihn kurz an, als wolle er neue Kraft schöpfen.

„Schon gut“, murmelte Klaus und warf einen grimmigen Blick in Richtung des sich entfernenden Rückens. Karin hatte von all dem nichts mitbekommen. Sie lief, getrieben von ihrer überschäumenden Energie und in wilder Vorfreude auf Paris, schon einige Schritte vor ihm und drehte sich nun ungeduldig zu ihm um. „Wo bleibst du denn?“, rief sie ihm von weitem zu und er sah, wie sehr sie strahlte.

Sie fügt sich ins Bild, als würde sie dazu gehören und hätte niemals irgendwo anders hin gehört als in diese Stadt, schoss es Klaus durch den Kopf. Er rang sich ein kleines Lächeln ab: „Komme ja schon, ich habe hier schließlich ein paar Kilo zu schleppen.“

Klaus lief den Bahnsteig entlang, im dichten Strom der anderen Fahrgäste, die auf halbem Wege von ihren Lieben begrüßt und umarmt wurden. Erschrocken wich er den ganz in schwarz gekleideten Männern aus, die mit kleinen, rollenden Holzwägen den Zug ansteuerten. Er konnte sich nicht vorwerfen, dass er sich nicht bemüht hatte. Während der ganzen restliche Zugfahrt war er für sie, Karin, seine große Liebe, der abenteuerlustige, positiv denkende und vergnügte Freund gewesen. Fröhlich und unbeschwert. Sie hatten gemeinsam Pläne geschmiedet, wie sie ihre Tage in Paris verbringen wollten und Karin war unruhig und voller Aufregung in ihrem Sitz hin und her gerutscht.

Und nun, da sie angekommen waren, fühlte sich Klaus, als würde sich ein Schatten über seine Augen legen. Alles schien ein paar Nuancen dunkler zu werden. Die Farben verblassten und die Geräusche des geschäftigen Treibens an der Gare de l‘Est erreichten nur gedämpft seine Ohren. Was ist nur mit mir los? fragte er sich. Warum habe ich nur immer so große Angst? Inzwischen hatte er Karin erreicht. Sie stand inmitten der Bahnhofshalle, direkt unter der großen Anzeigentafel, auf der die abfahrenden und ankommenden Züge aufgelistet waren. Gerade war wieder ein Zug abgefahren und die grauen Blättchen mit all den Zahlen und Buchstaben gaben laut klappernd die neuen Informationen frei.

„Da hinten, siehst du, da geht es zur Metro hinunter.“

Karin fasste seinen Arm und warf ihm einen schnellen, und wie ihm schien, prüfenden Blick zu. „Komm Klaus“, sagte sie, „wir müssen uns erst Fahrkarten besorgen.“

Er sah die Vorfreude in ihrem Gesicht, sah, wie ihre blauen Augen leuchteten und ihre Füße vor Ungeduld in ständiger Bewegung zu sein schienen. Reiß dich zusammen, befahl ihm eine innere Stimme und er nahm all seine Kraft zusammen, fasste die Hand seiner Freundin und grinste sie herausfordernd an: „Na dann schauen wir mal, ob dein Schulfranzösisch dafür noch ausreicht.“

Ein paar Minuten später löste Karin sich aus dem Menschenpulk an der Spitze der Schlange, die sich am Fahrkartenschalter gebildet hatte, und winkte ihm schon von weitem mit den Tickets zu. „Es kann losgehen“, lachte sie, „und ich habe uns auch gleich einen Metroplan mitgebracht.“

Sie faltete ein kleines Stück Papier auseinander. „Schau doch nur, das ist ja niedlich“, sagte sie und bemühte sich, die kleinen Linien und Stationen, die auf dem Miniaturplan verzeichnet waren, zu entziffern. „Siehst du, hier müssen wir hin.“ Ihr in einem hellen Rosé manikürter Fingernagel tippte auf eine kaum zu erkennende Station in der Mitte des Plans. „Und dort“, derselbe Finger schwebte eine Weile über dem Papier, „ist die Endstation der Linie, die wir nehmen müssen. Danach orientieren wir uns, weißt du, sie gibt die Fahrtrichtung an.“

Klaus ließ sich seine Unruhe nicht anmerken. Entschlossen ergriff er das Billet und schaute nach dem Eingang, der das Bahnhofsareal von den verzweigten unterirdischen Gängen der Pariser Metro trennte. Karin ging voran und er folgte ihr eilig. Er streckte das gelbe Kärtchen dem Uniformierten entgegen, der in einem kleinen Verschlag saß und ihm das Ticket, nachdem er es entwertet hatte, mit einem freundlichen „Bonne journée“ wieder zurückgab. Einige Minuten später saßen Klaus und Karin auf grauen Klappsitzen in der Metro der Linie 5 Richtung Place de l‘Italie und starrten durch die schmutzigen Scheiben der Türen direkt neben ihnen. Draußen flogen die dunklen Wände des Tunnels vorbei und wurden von hell erleuchteten Stationen abgelöst, deren Namen auf großen blauen Schildern in weißer Schrift zu lesen waren. Die unterirdischen Haltestellen kündigten sich schon einige Meter vorher durch anhaltendes Quietschen der stählernen Räder an. Ihr Wagen leerte und füllte sich wieder und schließlich gab ein anhaltender Signalton die Weiterfahrt an. Karin hatte sich tief über den Metroplan gebeugt und verglich die Stationen, an denen sie bereits vorbei gefahren waren, mit der orangefarbenen Linie auf ihrer Karte.

„Jetzt müssen wir gleich ‘raus, um umzusteigen“, sagte sie und legte eine Hand auf Klaus‘ Oberschenkel. „Siehst du, Station Oberkampf, da müssen wir aussteigen.“

Klaus hatte seine Augen auf das Gewirr von farbigen Linien gerichtet, das oberhalb der Metrotüren den Verlauf ihrer Fahrt anzeigte und versuchte zu erkennen, wo sie sich gerade befanden, als Karin ruckartig von ihrem Sitz aufstand. Er schnellte nach oben und schlug mit einem lauten Krachen an die Wand. Als würde sie tagtäglich nichts anderes tun als mit der Metro zu fahren, legte Karin ihre rechte Hand an den Metallhebel, der die beiden Metrotüren verband und drückte ihn nach oben. Die Türen glitten zur Seite und gaben den Blick auf eine recht verlassene Station frei. Nur wenige Menschen waren mit ihnen ausgestiegen und etwas zögerlich blieben sie stehen und sahen sich um.

„Dort drüben steht Sortie“, rief Karin in den Lärm des abfahrenden Zuges hinein. „Das ist der Ausgang, dort müssen wir nicht hin, wir brauchen das Schild Correspondances.“ Sie schulterte ihre Tasche und Klaus beeilte sich, das Gepäck ordentlich zu fassen zu bekommen, damit er mit seiner Freundin Schritt halten konnte. Nebeneinander liefen sie den Bahnsteig entlang, bis es über ein paar Treppenstufen in einen weiteren, hell gefliesten Tunnel ging. Hier gab es schon deutlich mehr Menschen und Klaus war froh, als schließlich eine Rolltreppe in Sicht kam. Ist die steil, dachte Klaus und war erleichtert, dass er diese Steigung nicht über Treppenstufen bewältigen musste.

„Hier müssen wir doch hoch, oder?“ Er schaute sich nach Karin um, die einige Schritte entfernt ein an der Wand angebrachtes Schild studierte.

„Nein, Klaus“, rief sie ihm zu, „hier geht es entlang.“ Schon war sie hinter der nächsten Biegung verschwunden und er packte das Gepäck fester, um seiner Freundin durch die Menschenmenge hindurch zu folgen. Als er sie fast eingeholt hatte, sah er eine reichlich zerlumpt aussehende Gestalt, die Karin angerempelt zu haben schien und sich irgendwie an sie klammerte. Er zögerte und fühlte leichte Panik in sich aufsteigen. Aber er konnte doch nicht stehenbleiben wie ein alter Angsthase, ermahnte er sich, und beschleunigte seine Schritte. Als er näher kam, hörte er noch das genuschelte „Pardon“ des Mannes, der gleich darauf im Gewühl verschwunden war.

„Karin“, rief Klaus, kaum dass er sie erreicht hatte, „ist alles in Ordnung?“

Karin stand der Schreck noch ins Gesicht geschrieben, aber sie fand schnell wieder zu ihrer guten Laune zurück. „Keine Sorge, es ist überhaupt nichts passiert. Der Idiot ist direkt in mich ‘reingelaufen“, lachte sie und rückte den Riemen ihrer Handtasche zurecht, der ihr bei dem Zusammenstoß von der Schulter gerutscht war. „Und dann ist er gestolpert und hat sich an mir festgekrallt, damit er nicht hinfällt, der arme Kerl.“ Sie grinste. „Was erlebt man nicht alles hier in der Pariser Unterwelt.“

Klaus war nicht zum Lachen zumute. Das fängt ja gut an, dachte er grimmig. Er hatte sich wirklich vorgenommen, offen zu sein und dieser Stadt eine Chance zu geben. Aber mehr denn je erschien sie ihm abweisend, schmutzig und vor allem gefährlich. Am liebsten wäre er sofort in den nächsten Zug nach Hause gestiegen.

Die kurze Strecke bis zu ihrer endgültigen Haltestelle verlief ohne Zwischenfälle und nachdem Karin vergeblich versucht hatte, Klaus ein wenig aufzuheitern, hatte sie es irgendwann aufgegeben. Als die Lichter der Station Voltaire in Sicht kamen, erhob sie sich von ihrem Sitz. „Hier müssen wir aussteigen, Klaus.“

Sie liefen nebeneinander den Bahnsteig entlang und erreichten schließlich eine lange Treppe, die ins Freie führte. Karin war wieder einmal voraus gelaufen und sah als erste den blaugrauen Pariser Himmel. Klaus schleppte das Gepäck schnaufend nach oben, und Stück für Stück schoben sich blühende Baumkronen, dann die dazugehörigen Stämme und schließlich alte Häuserfassaden mit geschwungenen Balkongittern in sein Blickfeld. Oben angekommen, atmete er einmal tief durch und schaute sich um. Er stand zum ersten Mal in seinem Leben auf einem Pariser Boulevard.

„Ist das herrlich“, rief Karin aus und wandte sich zu Klaus um, „oder nicht?“

Er nickte nur und blickte die Straße entlang. Das sollte nun also das vielgepriesene Paris sein, dachte er. Er sah vor allem verdreckte Bürgersteige und alte Häuser, die dringend einmal wieder einen Anstrich nötig gehabt hätten. Das Trottoir war voll von Menschen und auf der Straße präsentierte sich ein wildes Durcheinander von hupenden Autos und Kleintransportern. Die beiden liefen den Boulevard Voltaire einige Meter entlang, bis Karin vor einem kleinen, baumbestandenen Carrée stehenblieb, um den Stadtplan aus ihrer Jackentasche zu ziehen.

„Irgendwo hier muss doch die Rue Sedaine beginnen“, murmelte sie und vertiefte sich in das zerknitterte Papier. Klaus setzte das Gepäck ab und blickte um sich. Er musste zugeben, dass dieser Ort ihm eigentlich ganz gut gefiel. Der Platz war an seiner längsten Seite von sechsstöckigen Häusern gesäumt, deren Fassaden in einer Farbpalette von hellbeige bis schmutziggrau variierten. Besonders auffällig fand Klaus die bodentiefen Fenster, die etwa zu einem Drittel mit einem wunderschönen schwarzen Geländer versehen waren. Im Erdgeschoss der Häuser gab es kleine Cafés, die einen Teil ihrer Einrichtung offensichtlich nach draußen verlagert hatten, denn Tische und Stühle standen in fast ordentlichen Reihen auf dem Bürgersteig. Die Stühle waren allesamt so ausgerichtet, dass jeder, der sich darauf niederließ, seinen Blick auf die Straße und die Geschehnisse auf dem Platz richten konnte. Und damit auch auf den Zeitungskiosk, der nicht weit vom Eingang der Metrostation zu sehen war. Allerdings keine schäbige graue Bude, wie er sie aus Frankfurt kannte. Nein. Was Klaus hier sah, war ein kleines Kunstwerk. Das gusseiserne Material war in einem dunklen Grünton gehalten und dort, wo das Dach begann, zog sich eine Verzierung – ähnlich wie der Abschluss eines hochherrschaftlichen Gartentores – rundherum. Damit nicht genug, thronte obenauf eine mit gusseisernen Schindeln verzierte Kuppel. Tageszeitungen und Magazine stapelten sich zu beiden Seiten des Verkaufstresens und luden zum Stöbern – und unter den strengen Blicken des Zeitungsverkäufers, der im hinteren Teil des kleinen Gebäudes schemenhaft im Halbdunkel auszumachen war – gewiss auch zum Kaufen ein. Nicht weit davon stand eine braune, abgewetzte Bank unter einem blühenden Lindenbaum, gleichsam als Einladung, sich hier zum Lesen niederzulassen. Die Bank gefiel Klaus, besonders weil sie zu beiden Seiten der Lehne eine Sitzfläche hatte. Den beiden Alten, die in diesem Augenblick darauf saßen, erlaubte das, sich nach einem ausgiebigen Schwätzchen wieder jeder in seine Richtung zu drehen und alleine den Gedanken nachzuhängen.

„Klaus?“ Karin zupfte ihn am Ärmel seines Cordjacketts. „Komm, lass uns unser Hotel suchen, laut Plan muss die Rue Sedaine gleich da vorne links sein, hier entlang!“

Sie packte ihre Tasche und warf Klaus einen gleichzeitig forschenden und zufriedenen Blick zu. „Du siehst aus, als hättest du gerade den Weihnachtsmann gesehen. Es ist herrlich hier, nicht wahr?“ Sie gab ihm einen freundschaftlichen Rempler mit der Schulter. „Ich hatte schon Bedenken, dass es dir nicht gefällt.“

Klaus wollte ihr antworten, aber Karin war mit den für sie so typischen weitausholenden Schritten bereits vorausgeeilt. Ohne stehen zu bleiben, sah sie über ihre Schulter und rief lachend: „Ich dachte schon, ich müsste dich wieder nach Hause schicken und alleine hier bleiben!“

Frühling im Oktober

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