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DREI

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Frankfurt am Main. Montag, 27. Juni 2011

Die Tränen liefen Viviane über‘s Gesicht, als sie den Wohnungsschlüssel aus ihrer überdimensionierten Handtasche fingerte. Ihre hohen Absätze klapperten über die Pflastersteine des Innenhofes, über den sie zu ihrer Wohnung in der Walter-Kolb-Straße, Altbau, 3. Stock, stolperte. Keine Gefahr, dass Chris ihr verheultes und Mascara-verschmiertes Gesicht sah, denn sein nagelneuer Geschäftswagen hatte nicht länger als unbedingt notwendig an der Straße vor der Hofeinfahrt geparkt. Kaum war die Beifahrertür ins Schloss gefallen, hatte er auch schon den Gang eingelegt, Gas gegeben und war auf dem Weg nach Hause, wo er den offensichtlich so langweiligen Abend mit ihr bestimmt schon bald abgehakt haben würde. Sie hastete die Treppe hoch und wie sie bereits befürchtet hatte, kamen ihr schon bald Schritte entgegen. Klar, dachte Viviane, wenn man aussieht, wie durch den Wolf gedreht, mit laufender Nase und geschwollenen Augen, kommt ganz sicher jemand aus den verborgenen Winkeln des Treppenhauses hervor. Aber was soll´s, sagte sie sich, schließlich war es kein attraktiver Nachbar, an dem sie sich mit beschämten Grinsen würde vorbei drücken müssen. Die gab es nämlich nur im Kino, in rosaroten Romanen und ab und zu auch mal im Traum. Einen gutaussehenden Mann, der, frisch getrennt und losgelöst von der Vergangenheit, offen für Neues und mit Persil gereinigter Seele in die Nachbarwohnung einzog. Und sich natürlich unsterblich verliebte, wahlweise mit Rosen, Rotwein und endloser Leidenschaft an der Tür klingelte und nichts anderes wollte, als den Abend mit der neuen Nachbarin, also mit ihr, Viviane Kohler, zu verbringen. Doch ihre Realität war nicht rosa, sondern grau und kam ihr soeben auf dem Treppenabsatz entgegen.

„Guten Abend Herr Kögel“, nuschelte Viviane zwischen zwei Schluchzern ihrem ungepflegten, ewig hustenden Nachbarn aus dem vierten Stock entgegen. Wie so oft zog in seiner Begleitung ein intensiver Geruch nach Bier durch das gesamte Treppenhaus. Aber er hatte ein freundliches Lächeln, das musste man ihm lassen. Viviane quetschte sich auf den schmalen Treppenstufen an ihm vorbei und trotz ihres Kummers legte sich unwillkürlich ein Schmunzeln auf ihr Gesicht. „Schluss jetzt mit dem Selbstmitleid“, sagt sie leise und stolperte die letzten Stufen bis zu ihrem Apartment hinauf. Sie schloss auf, trat in den dunklen Flur und gab der Wohnungstür einen ordentlichen Stoß mit dem Fuß. Die war zu, dachte sie zerknirscht und stellte sich vor, dass bei Frau Schneidereit im Erdgeschoss die Gläser im Küchenschrank klirrten. Aber, mein Gott, es war ja noch nicht so spät. Sie lächelte bitter. Viertel vor zehn. Viel zu früh, um von einem Date schon wieder zurück zu sein. Sie ging in ihre gemütliche Wohnküche, die von einem riesigen Holztisch dominiert wurde. Ohne das Licht anzuknipsen, zog sie die Schublade des wunderbar altmodischen Vitrinenschrankes auf, den sie von ihrer Oma geerbt hatte. Wo waren denn bloß ihre Zigaretten? Ah, sie waren ganz nach hinten gerutscht und Viviane erinnerte sich daran, dass sie sie beim letzten Besuch ihrer Mutter dort vergraben hatte. Meine Güte, schüttelte sie über sich selbst den Kopf, 38 Jahre und immer noch Angst, dass Mama sie beim Rauchen erwischte. Sie kramte eine Zigarette aus der Packung und fischte in der Schublade nach dem Feuerzeug. Sekunden später sog sie genüsslich den Rauch ein und wandte sich zum Fenster um. Wie still und friedlich es da draußen war. Die Geräusche des Tages waren irgendwo im diffusen Licht des Abends verschwunden, ihre Nachbarn schliefen an ihre Partner gekuschelt in ihren Betten oder waren mit Freunden in der Innenstadt unterwegs. Und sie stand mutterseelenallein in ihrer Küche und starrte aus dem Fenster. Vielleicht mache ich mir einfach zu viele Gedanken, beruhigte sie sich selbst. Vielleicht war Chris einfach nur müde gewesen oder ging nicht gerne lange aus. Aber nun hatte er schon zum zweiten Mal ein Treffen nach relativ kurzer Zeit plötzlich abgebrochen. War sie denn so langweilig, so gähnend einschläfernd, dass Männer unweigerlich die Flucht ergriffen? Mist, das Selbstmitleid war wohl hinter ihr durch den Türspalt gehuscht. Es war zum Verzweifeln. Sie konnte immer nur die begeistern, von denen sie partout nichts wollte. Und Chris, der hatte sie noch vor einigen Monaten dermaßen angebaggert, dass SIE die Flucht ergriffen hatte. In ihrer Lieblingsbar hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen und als ihre Freundin Katharina kurz auf die Toilette verschwunden war, hatte er sich von einem der Nachbartische erhoben und war zielstrebig auf sie zugekommen. Ob sie Feuer hätte, hatte er sie gefragt und sich vorgestellt. Zuerst wusste Viviane nicht so recht, wie sie auf ihn reagieren sollte und hatte wie immer die Coole gespielt. Zwei Stunden später saß er immer noch bei ihr. Inzwischen waren sie allerdings nicht mehr alleine. Sein Freund Karsten hatte sich dazugesellt und auch Katharina war irgendwann wieder an die Theke zurückgekehrt. Viel gelacht hatten sie und noch mehr getrunken. Allerdings war ihr aufgefallen, dass Chris nicht gerade das war, was man einen Intellektuellen nennt. Nein, schimpfte sie mit sich selbst, jetzt wurde sie ungerecht. Sie hatte den Abend genossen und sich attraktiv gefühlt. Mehr wollte sie gar nicht. Chris aber schon. Als Katharina und sie die Einladung zu einem weiteren Drink mit Blick auf die Uhr höflich aber bestimmt ablehnten, machte Chris erst Dackelaugen und dann die Fliege. Ihre Freundin und sie hatten darüber gelacht und die Köpfe in inniger Übereinstimmung zur der nicht mehr zu rettenden Spezies Mann geschüttelt. Nach diesem Abend hatten sich Vivianes Wege immer wieder mit denen von Chris gekreuzt, und an einer dieser Kreuzungen hatte sie einem Date zugestimmt. Wider Erwarten war ihr Treffen schön gewesen. Zu Beginn jedenfalls. Er hatte sie in ein kleines griechisches Lokal eingeladen, und nachdem sie sich einen Sepiasalat geteilt hatten, stürzten sie sich genussvoll auf Lammbraten und Souflaki. Sie hatten bereits die zweite Flasche Wein angebrochen, als sie ihn ein wenig über seine Hobbies ausgequetscht hatte und leider feststellen musste, dass da nicht viele waren. Aber sie verstanden sich gut und es hatte Momente gegeben, in denen sie sich ihm nahe fühlte. Doch dann wollte er mitten in der Unterhaltung urplötzlich bezahlen. Er hatte sie nach Hause gefahren und da war sie nun. Allein, abgeladen, abgehakt. Sie fühlte sich langweilig, farblos und fad. Wie eine wabernde Nebelschwade kam dieser altbekannte Gedanke auf sie zu und hüllte sie ein. Nicht schon wieder eine Niederlage, nicht schon wieder sie. Nun gab es keine Hoffnung mehr. Der Nebel wurde dichter, nahm ihr die Luft. Niemand würde sich je wirklich für sie interessieren können. Sie hatte offensichtlich etwas an sich, das Männer in die Flucht schlug. Vielleicht lag ein Fluch auf ihr? Ein schreckliches Vermächtnis, ein Erbe aus einem früheren Leben, in dem sie als traumschöner Vamp den Männern reihenweise den Kopf verdreht und sie dann ohne ein Lebenszeichen verlassen hatte. Oder Schlimmeres …

„Oh nein“, sagte Viviane laut und stieß ein kurzes, hartes Lachen aus. Es gab ja doch Männer, die sich für sie interessierten. Die Falschen. Die Falschen – das war eine Horde gesichtsloser Personen, die sich allesamt dadurch auszeichneten, dass Viviane sich nicht für sie begeistern konnte. Sie zog an ihrer Zigarette und stützte ihre Ellenbogen auf die Fensterbank. Plötzlich merkte sie, dass sie wieder weinte. Dicke Tränen tropften aus ihren dunkelgrünen Augen und rannen über ihr Gesicht und dann den Hals hinab, bis sie im Kragen ihres Poloshirts versickerten und ein unangenehm feuchtkaltes Gefühl auslösten. Ihr wurde schlagartig klar, dass die Tränen nur deshalb so unaufhaltsam flossen, weil sie Angst hatte. Eine Angst, die sich wie ein dicker Ölteppich über ihre Seele wälzte und drohte, darauf haften zu bleiben. Angst, in diesem Leben niemanden mehr zu finden, der sie liebte und von ihr geliebt wurde. Gegenseitig, gleichermaßen, zur selben Zeit. Utopisch, unmöglich, hoffnungslos – ein weiterer Beweis dafür war heute Abend ganz frisch erbracht worden.

Konnte sie jetzt noch Helen anrufen? Nein, dazu war es nun doch schon ein bisschen zu spät. Und außerdem – sie würde doch nur wieder von einem gescheiterten Abend berichten können. Von ihrem Versagen und ihrer Unfähigkeit, ein männliches Lebewesen unter 75 von sich zu begeistern. Helen war da ganz anders. Sie hatte zwar auch noch nicht den Mann für´s Leben gefunden, aber immerhin sorgte sie selbst für die nötige Auswahl. Die Männer liefen ihr hinterher, als würde sie eine Duftmarke verströmen. Sie hatte eben einfach etwas Besonderes an sich. Viviane konnte sich nicht genau erklären, was es war, aber eines wusste sie genau: Sie selbst besaß es nicht! Sie schien viel eher etwas auszusenden, das die Herren der Schöpfung spätestens beim zweiten Date in die Flucht schlug. Und dabei war sie doch nicht einmal hässlich. Zumindest sagten das ihre Freundinnen. Mit ihren knapp ein Meter achtzig, den langen, dunkelbraunen Haaren und ihren schlanken Beinen hatte sie schon oft Komplimente für ihr Aussehen bekommen. Aber offensichtlich nützte all das nichts. Mit einem Seitenblick auf ihren Kühlschrank sagte sie in die Dämmerung hinein: „Warum ewig auf die Figur achten? Wenn mich die Männer mit 62 Kilo nicht attraktiv finden, kann ich diese Zahl getrost um 10 erhöhen.“ Viviane kicherte leise, als sie ihre Gauloise in der Spüle ausdrückte. Sie beschloss, Helen heute nicht mehr zu stören und stattdessen Tante Beas Lieblingsspruch zu beherzigen: Immer schön optimistisch bleiben und den Humor nicht verlieren.

Sie schälte sich aus ihrem beigen Regenmantel und lief über die alten Holzplanken in ihr weiß gefliestes Badezimmer. Mit immer noch etwas zittrigen Fingern pulte sie sich die Kontaktlinsen aus den Augen und putzte sich schnell die Zähne. Zum Abschminken hatte sie keine Lust mehr, sollten die Pickel nur kommen – egal. Das war so ähnlich wie mit den Kilos. Als Viviane sich ein paar Minuten später in ihr Bett kuschelte, wollte sich der Schlaf jedoch nicht einstellen. Die trüben Gedanken ließen sie einfach nicht los. Wann hat das eigentlich begonnen, das Problem mit den Männern, fragte sie sich und schob die Arme hinter ihren Kopf. Als Jugendliche hatte sie sich wohl gefühlt in ihrer Haut, und nicht im Traum wäre sie auf die Idee gekommen, dass die Jungs sie nicht attraktiv finden könnten. Sie hatte eine ganze Menge Verehrer gehabt und selbst Kati, das Nachbarsmädchen, mit dem sie ab und an durch die Straßen des verschlafenen Dorfes spazierte, in dem sie damals gewohnt hatte, war überzeugt, dass die Jungs der gesamten Klasse in sie, Viviane, verliebt waren. Sie lächelte, als sie sich selbst wieder als junges Mädchen sah. Es war so eine unbeschwerte Zeit gewesen, damals. Sie und ihre Freundinnen hatten einfach in den Tag hinein gelebt und sich keine Gedanken gemacht. Außer vielleicht über die nächste Mathearbeit oder die Puma-Turnschuhe, die ihre Eltern ganz sicher nicht kaufen würden. Auch die erste Liebe hatte Viviane, abgesehen von ein paar kleinen Kratzern auf der Seele, gut überstanden. Und dann waren aus den Jungs Männer geworden und die Abstände zwischen den Flirts wurden länger. Sicher, hin und wieder hatte es Lichtblicke gegeben und sie war eine Weile glücklich gewesen. Aber das Glück hatte sich jedes Mal schnell abgenutzt, war matt und glanzlos geworden und schließlich ganz verschwunden. Dann war sie ein paar Tage mit verheulten Augen und dem Herz voll Selbstmitleid durchs Leben gelaufen. Aber wenn sie es recht bedachte, hatte sie noch keinem ihrer Flirts oder einer ihrer Beziehungen richtig nachgetrauert. Der Schmerz war jedes Mal heftig, dauerte aber nur kurz. Und genauso würde es ihr mit Chris auch gehen. Vielleicht würde sie morgen noch etwas traurig sein, aber dann – vorbei. Schließlich hatten sie sich noch gar nicht richtig kennengelernt. Und was fand sie eigentlich an ihm? Sie musste zugeben, dass es ihr überhaupt nicht um Chris ging. Sie wollte einfach nur wieder einmal von einem attraktiven Mann ein wenig Bestätigung bekommen. Sich hofieren lassen wie eine Prinzessin. Wenn sie ganz ehrlich zu sich war, so hatte sie doch von Anfang an gewusst, dass dieser Typ gar nicht zu ihr passte. Was sollte sie schließlich mit einem Angeber, der den ganzen Abend nur von seinen sportlichen Erfolgen im Amateurfußball berichtete? Applaus, Applaus! Und dennoch war sie enttäuscht gewesen, weil er sich nicht Hals über Kopf in sie verliebt hatte. Auf einmal sah sie alles ganz klar vor sich, hier in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers. Viviane, sagte sie sich, du bist eindeutig zu sehr abhängig von der Bestätigung anderer. Hör auf damit! Sie stopfte das Kopfkissen zurecht. „Es ist nichts verloren“, sprach sie sich selbst Mut zu. „Die große Liebe kommt und sie wird meine Seele berühren, mich glücklich machen.“ Meine Güte, gut dass dich keiner hören kann, dachte Viviane noch und dann war sie auch schon eingeschlafen.

Frühling im Oktober

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