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Die Sünde

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(Franz von Stuck, 1893, Öl auf Leinwand, Original mit Rahmen 125x95cm, Neue Pinakothek, München)

»Was ist denn nun schon wieder los?« Nanne Bruns wusste zwar, dass Schmitz nichts dafür konnte, der Mann machte schließlich nur seinen Job, aber nach einer weiteren babybedingt schlaflosen Nacht war er einfach grummelig. Wieso hatten kleine Jungs ständig Blähungen? Konnte sein Sohn nicht eine Ausnahme sein? Kirschkernkissen und Bäuchleinöl halfen null. Hatten sie am Ende ein Schreikind zu Hause? Für Bruns eine entsetzliche Vorstellung.

Der Vormittag war so weit ernüchternd ereignislos verlaufen. Die Häfen in List, Hörnum, Rantum und Munkmarsch wurden überwacht, ebenso wie Flughafen und Autozug, aber es hatte niemand versucht, sich mit einer nackten Frau in Öl von der Insel zu machen. Unangenehmes Highlight war das Telefonat mit Staatsanwalt von Klockheim gewesen, einem wichtigtuerischen Fatzke aus Hamburg, der meinte, sich aufplustern zu müssen.

Und nun stand plötzlich Schmitz vor Bruns. Die schokobraunen Augen weit aufgerissen, wedelte er mit einem Post-It in der Luft herum. »Leichenfund«, er sah auf den Zettel, »weiblich, jung, ermordet. Im Keller eines Szenelokals bei Rantum.«

Bruns seufzte. Welches konnte das nur sein? Warum musste sich Schmitz immer derartig politisch korrekt ausdrücken? Das Pemba kannte schließlich jeder, weshalb nannte er es nicht beim Namen? Bruns erhob sich und griff nach der Jacke. »Na, kommen Sie schon. Den Rest können Sie mir unterwegs erzählen.«

Der Parkplatz an den Rantumer Dünen war erwartungsgemäß voll. Bruns zeigte gern den Polizeiausweis vor, sodass die Absperrung aufgehoben wurde, er bis an den Strand vorfahren konnte und sich dem Lokal nicht wie jeder Tourist zu Fuß nähern musste. Hier war immer etwas los, egal ob gerade Essenszeit war oder nicht.

Die Kollegen hatten das Restaurant räumen lassen, daher zwängten sich sämtliche Gäste an die Tische im Außenbereich. Niemand schien sich daran zu stören, dass drinnen eine Polizeiermittlung im Gange war, und das durchwachsene Wetter spielte ebenfalls eine untergeordnete Rolle. Wenigstens gab es keine Gaffer oder Schaulustigen, was Bruns verblüffte, und die Stimmung war entspannt: Die Leute aßen, tranken und genossen den Blick auf die Dünen bis vor ans Meer. Und nebenan arbeitete die Polizei von Sylt. Lediglich die Kellner nervten Bruns, weil sie ständig mit vollbeladenen Tabletts rein- und rausliefen, doch erneut rief er sich zur Räson. Auch die machten nur ihren Job. Nach einem letzten Rundumblick betrat er die Holzhütte, die mittlerweile weit über die Grenzen der Insel hinaus bekannt war, und ließ sich in den darunterliegenden Weinkeller bringen. Frisch war es dort und absolut wundervoll – wenn man Wein mochte. Tausende und abertausende von Flaschen lagen in Regalen. Mittig im Gang waren hüfthoch Weinkisten gestapelt, darauf standen Kerzenleuchter. Der Boden bestand aus roten Ziegeln, die Decke war gewölbeartig abgemauert. Am liebsten hätte sich Bruns einen der Liegestühle von oben bringen lassen, sich in den Weinkeller gesetzt und bei einem guten Tropfen die Atmosphäre genossen. Stundenlang. Besser noch tagelang. Aber so lief es eben nicht.

Ein wohlbeleibter Mann mit sympathischem Gesicht begrüßte ihn. Es war Hans Strecker, der Besitzer des Pemba, Bruns kannte ihn vage.

»Ich nehme an, Sie haben Ihren Gästen nicht erzählt, dass hier unten eine Tote liegt?«, mutmaßte der Kommissar.

»Nö, bringt doch nix. Die Bude ist rappelvoll, die Leute wollen eine gute Zeit haben und wenn ich ihnen sage, was hier los ist, wissen Sie ja, was dann passiert.«

»Panik, Schnüffler, Sensationslust.«

»Stimmt. Deshalb behaupten wir vor jedem, der fragt, dass wir ‘nen Wasserschaden haben. Und wenn sie morgen in der Presse lesen, dass es doch ‘ne Leiche war, ist der Rummel längst vorbei.«

Bruns grinste. Er mochte Strecker, hatte großen Respekt vor dem, was der Mann aus dem Nichts aufgebaut hatte. Zudem erleichterte es die Arbeit der Polizei, nicht von einer Horde Gaffer bedrängt zu werden.

»Na gut«, sagte er. »Wir sperren dann kurz vor der Kellertreppe ab, damit uns niemand durch den Tatort trampelt.«

Nachdem Hans Strecker wieder in die Küche gegangen war, rief Bruns Schmitz zu sich. »Was wissen wir?«

»Die Tote heißt Alina Roth, sie ist 23, Studentin und jobbte hier im Pemba.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Carsten Meier. Er ist Sommelier hier im Lokal, also der Weinfachmann.«

»Ich weiß, was ein Sommelier ist«, schnappte Bruns.

»Tut mir leid, Chef. Jedenfalls wollte Meier irgendeinen edlen Tropfen von ganz hinten holen, dabei fand er sie. So wie es aussieht, wurde sie erwürgt, aber ich möchte Doktor Petersen nicht vorgreifen, das hat er nicht so gern.«

»Richtig«, tönte eine Bassstimme aus den Tiefen des Kellers. »Jedoch gehe ich mit Ihrer Diagnose konform, Polizeihauptmeister Schmitz.«

Schmitz wurde rot und führte Bruns in Richtung der Stimme, dorthin, wo die Leiche lag. Im hintersten Kellerraum, zwischen zwei Stapeln leerer Weinkisten, erblickte der Kommissar sitzend, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, den leblosen Körper einer hübschen jungen Frau. Schwarzes Haar, blasse Haut und volle Lippen ließen Bruns unwillkürlich an Schneewittchen denken. Nur konnte man Alina Roth nicht wieder aufwecken, zu eindeutig waren die dunkelblauen Würgemale an ihrem Hals. Irgendwie kam ihm das Mädchen bekannt vor.

Doktor Petersen war zur Seite getreten, um den Kommissar einen Blick auf die Tote werfen zu lassen. Mit seinen zwei Metern Größe musste er in den engen Gängen und Winkeln des Weinkellers höllisch aufpassen, um nichts umzuwerfen. Besonders nicht die Kiste 2004er Dom Ruinart Champagner, neben der er gerade stand, das würde teuer werden. Geduldig harrte der Pathologe aus, bis Bruns die Leiche wieder freigab und sich zusammen mit Schmitz in einen geräumigeren Bereich des Kellers zurückzog.

»Erstaunlich, dass nichts zu Bruch gegangen ist«, murmelte der Kommissar. »Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich gewehrt hat, dabei schlägt man doch um sich. Und wieso hat niemand etwas davon bemerkt, dass hier unten ein Mord stattfand? Wurde sie vielleicht woanders getötet und nur hier abgeladen? Aber warum hat das dann keiner gesehen?«

Schmitz machte sich eifrig Notizen, während Bruns sprach. Das Gute an einem derart beflissenen Mitarbeiter war, dass er nie etwas vergaß, immer mitschrieb und jedem Hinweis nachging. Bruns konnte sich darauf verlassen. Schmitz‘ Akribie würde bei der Lösung des Falles sicher helfen. Zumal es der erste Mordfall war, den die beiden zusammen lösen mussten.

Der Fotograf brachte sich in Stellung und knipste alles ordentlich, bevor die Leiche abtransportiert werden konnte.

»Wann gibt es Ihren Bericht?«, fragte der Kommissar Doktor Petersen.

»Wenn ich mit der Obduktion durch bin«, lautete die lakonische Antwort.

»Wie lange ist sie tot?«

»Sag ich Ihnen, wenn ich mit der Obduktion durch bin.«

»Ach kommen Sie schon, Herr Kollege. Trauen Sie sich eine grobe Schätzung zu, ich werde Sie auch nicht darauf festnageln.«

»Zwölf bis fünfzehn Stunden.«

Bruns rechnete. »Das würde bedeuten, dass sie zwischen 22 Uhr und ein Uhr nachts ermordet wurde.«

»Herr Meier hat ausgesagt, Frau Roth hätte gestern bis etwa zehn Uhr gearbeitet.«

»Würde passen. Doktor Petersen, sorgen Sie bitte dafür, dass man die Tote durch den Hinterausgang hinausträgt, nicht an der Meute vorbei, das muss ja nicht sein.«

Der Pathologe winkte Bruns über die Schulter hinweg zu, ohne sich noch mal umzudrehen. Er hatte sich wieder über Alina Roth gebeugt.

Eine Tote unter den Dünen – Mord im Szenelokal, stand am nächsten Morgen groß auf der ersten Seite der Sylter Rundschau. Natürlich hatte irgendjemand die Presse mit Informationen gefüttert, wie immer. Zweifelsohne würden die Zeitungen vom Festland bald nachziehen.

Aber auch so hatte sich die Kunde von der schönen Leiche bereits verbreitet wie ein Lauffeuer. Henriette Schimmelreiter stand mit einer Ausgabe der Rundschau in der Hand vor Schmitz und verlangte, zum Kommissar vorgelassen zu werden, der beide durch die Glaswand seines Büros beobachtete. Er massierte sich die Schläfen, winkte Schmitz schließlich zu und erntete dafür einen dankbaren Blick. Bruns öffnete die Tür und bat den ungebetenen Gast herein.

»Frau Schimmelreiter«, begann er das Gespräch mit einem nur leidlich unterdrückten Seufzer. »Auch wenn Sie noch so eng mit Staatsanwalt von Klockheim sind – ich kann Ihnen zum momentanen Zeitpunkt nicht sagen, wo sich Ihr Ölgemälde befindet.«

»Deswegen bin ich nicht hier.«

»Ach nein?«

Sie hielt die Zeitung hoch. »Ich bin gekommen, um Sie darauf hinzuweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl und dem Mord an dieser jungen Dame geben muss.«

»Und was bitte bringt Sie zu der Annahme?« Bruns blickte demonstrativ auf die Uhr an der Wand.

»Schauen Sie mal.«

Sie zog ein Blatt Papier aus ihrer Handtasche, faltete es auseinander und legte es auf seinen Schreibtisch, daneben die Zeitung mit dem Foto von Alina Roth. Darauf stand sie mit dem Rücken zum Meer am Strand und lächelte in die Kamera. Ihr Haar war vom Wind zerzaust und sie wirkte jung und unbeschwert.

»Da Die Sünde erst im Rahmen des Kulturfrühlings Sylt einer breiten Öffentlichkeit präsentiert werden sollte, habe ich vorab Bilder des Gemäldes unter Verschluss gehalten. Sie waren ja nicht begeistert davon, dass ich Ihnen nicht mal zeigen konnte, wie es aussieht. Das hier wurde von einem älteren Foto daheim abfotografiert und meine Mutter hat es per E-Mail geschickt. Ziemlich umständliches Procedere, glauben Sie mir, meine Mutter hat nicht mal ein Handy. Jedenfalls …« Sie brach ab und sah zwischen Bruns und den Fotos hin und her. »Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?«

Der Kommissar hätte ihr zunächst am liebsten gesagt, dass er Besseres zu tun hatte, als sich mit diesem dämlichen Ölschinken auseinanderzusetzen, und sie ebenso umständlich um den heißen Brei herumredete wie Schmitz. Doch sobald er einen Blick auf Foto und Zeitungsartikel geworfen hatte, stutzte er.

»Das ist dieselbe Frau«, rief er überrascht aus.

Henriette Schimmelreiter gestikulierte wild mit den Händen. »Nun ja, soooooo eindeutig kann man das natürlich nicht sagen, aber es besteht zumindest eine auffällige Ähnlichkeit zwischen den beiden Personen. Dieselbe Frau kann es logischerweise nicht sein, weil das Bild ja über hundert Jahre alt ist.«

Bruns kniff die Augen zusammen. »Außer, es wäre eine Fälschung.«

»Herr Kommissar! Ich muss doch sehr bitten. Da komme ich zu Ihnen, um zu helfen, und dann muss ich mir hier hanebüchene Theorien anhören.«

»Helfen tun Sie gern, stimmt‘s? Deswegen haben Sie auch einen Privatschnüffler engagiert und machen auf eigene Faust Ermittlungen. Und Staatsanwalt von Klockheim hält das sogar noch für gut.« Eigentlich hatte sich Bruns nicht dazu hinreißen lassen wollen, Frau Schimmelreiter seinen Unmut darüber zu bekunden. Das war ihm herausgerutscht. Verärgert biss er sich auf die Lippe. »Besten Dank jedenfalls. Ich nehme an, ich darf diesen E-Mail-Ausdruck behalten?«

»Sind Sie gerade erst Vater geworden?«

Der abrupte Themenwechsel brachte Bruns aus dem Konzept. Irritiert kontrollierte er seine Kleidung, ob sich irgendwo Babybrei oder Schlimmeres befand. Frau Schimmelreiter deutete auf einen Fleck am Oberarm des Hemdes. Angesabbert.

»Mein Sohn ist drei Monate alt.«

»Und schläft vermutlich wenig.« Wie sie darauf kam, musste Bruns nicht erst fragen, seine Augenringe sprangen ihm förmlich entgegen, sobald er in den Spiegel sah.

Mitleidig schüttelte sie den Kopf. »Meine beiden Söhne sind zwar schon groß, aber ich erinnere mich gut an diese Zeit. Der Schlafmangel war am schlimmsten. Halten Sie durch, es wird bald besser werden.«

Nachdem sie gegangen war, zeigte Bruns Schmitz die beiden Bilder. »Das ist doch die Gleiche, eindeutig, oder?« Seine Frage klang wie eine Forderung.

Schmitz sah sie sich lange an, hin und her, vom Zeitungsbild mit schlechter Auflösung zum Computerausdruck mit ebensolcher und wieder zurück.

»Um das hundertprozentig beurteilen zu können, bräuchte man wahrscheinlich das originale Ölgemälde und müsste es dann direkt mit der Leiche vergleichen.«

Bruns stieß ein Grunzen aus. »Ach, kommen Sie schon. Das schreit doch geradezu nach Fälschung.«

»Wäre eine Möglichkeit. Oder aber die Ähnlichkeit ist purer Zufall. Oder eine Vorfahrin von Alina Roth stand Herrn von Stuck damals Modell …«

»Ja, ja, und an den Weihnachtsmann glauben Sie auch noch.«

»In einem Punkt stimme ich Frau Schimmelreiter allerdings zu«, fuhr Schmitz ungerührt fort. »Es könnte einen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl des Bildes und dem Mord an der Studentin geben. Die übrigens Kunst studierte. Bei einem Professor Kollenbosch, der hier auf Sylt in seinem Ferienhaus eine Art Künstlerkommune betreibt, habe ich mir sagen lassen.« Bedeutungsvoll nickend blickte Schmitz den Kommissar an.

»Was halten Sie eigentlich von Frau Schimmelreiter?«, fragte ihn Bruns unvermittelt.

»Interessante Person. Ich glaube, sie ist sehr gebildet und trotzdem irgendwie unangepasst, auf ihre ganz eigene Art.«

»Was bringt Sie denn zu einer derart gefühlvollen Analyse?«, spottete Bruns. Schmitz ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

»Von Klockheim meinte doch, sie sei eine Art Cousine. Also ist davon auszugehen, dass sie aus einer traditionsbewussten Familie stammt. Dafür sprechen ihre höflichen Umgangsformen, die gepflegte Sprechweise und ihre schlichten, aber teuer wirkenden Schuhe. Andererseits sieht ihr Haar fast ein wenig wild aus, mit diesen roten Locken, und auch ihr Kleidungsstil ist individuell.«

»Sie mögen sie?«

»Ich lehne sie zumindest nicht rundheraus ab. Sie waren ziemlich harsch zu ihr, Chef.«

»Weil ich die Einmischung von Außenstehenden in meine Fälle hasse. Noch mehr die von Verdächtigen, was die Schimmelreiter für mich ist. Und am allermeisten die von Privatdetektiven.«

Mit einem gutmütigen Grinsen sah Schmitz auf die Uhr. »Es ist Feierabend. Sie haben heute das Mittagessen ausgelassen, da ist Ihr Blutzuckerspiegel immer ein wenig im Ungleichgewicht. Vielleicht sehen Sie das anders, wenn Sie morgen nach einem guten Frühstück wiederkommen. Wissenschaftler haben herausgefunden, dass …«

»Ach, hören Sie mir auf.« Ein schiefes Lächeln stahl sich auf Bruns‘ Gesicht und er beschloss, es tatsächlich für diesen Tag gut sein zu lassen. Vor morgen früh würde Doktor Petersen seinen Bericht nicht vorlegen und wenn er ehrlich war, hatte er mittlerweile wahnsinnigen Hunger.

Sylter Sündenfall

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