Читать книгу Sylter Sündenfall - Sophie Oliver - Страница 8

Dissonanz

Оглавление

(Franz von Stuck, 1910, Öl auf Holz, 70x76cm, Museum Villa Stuck, München)

Polizeichef Nanne Bruns fühlte sich wie von einer Dampfwalze überrollt. Sämtliche Herausforderungen, die er beruflich zu meistern hatte, waren nichts gegen die lähmende Schlaflosigkeit, die mit der Geburt seines Sohnes zu Hause eingezogen war. Er hatte ihm doch eben erst das Fläschchen gegeben, wieso lärmte er schon wieder? Unwirsch stieß er seine Frau neben sich im Bett an.

»Du bist dran«, murmelte er im Halbschlaf.

»Nein«, kam die ebenso schlaftrunkene Antwort. »Das ist dein Diensthandy, nicht dein Sohn. Aber wenn du nicht sofort drangehst, wird er aufwachen …«

Bloß das nicht. Bruns sprang so schnell auf, dass ihm schwindlig wurde, griff nach dem Telefon und stürmte damit aus dem Schlafzimmer. Nur nicht das Baby aufwecken, das wäre der Supergau.

»Wir haben einen Einbruch-Diebstahl, Chef«, schnarrte die Stimme seines Assistenten Schmitz aus dem Hörer. Er klang nicht müde, sondern aufgeräumt wie immer.

»Wissen Sie, wie spät es ist?«, zischte Bruns.

»Halb fünf. So was passiert meistens nachts. Statistisch gesehen …«

»Mich interessiert um diese Uhrzeit keine Statistik, Schmitz. Warum wickeln Sie den Vorgang nicht ab?«

»Weil man ausdrücklich nach Ihnen verlangt hat. Ist etwas heikel, die Sache.«

Langsam kam Bruns zu sich. Müde war er immer noch und gleichzeitig genervt. »Wer hat nach mir verlangt? Drücken Sie sich bitte ein wenig genauer aus.« Durch die Schlafzimmertür hörte er, dass das Baby anfing zu weinen. Na toll.

»Hatte ich das nicht gesagt? Roger Theissen, der Vorsitzende der Stiftung Kunstfreunde Sylt. Hohes Tier. Heute Nacht wurde aus dem Stiftungshaus ein wertvolles Gemälde geklaut, und er tickt gerade völlig aus. Irgendeine vornehme Dame aus Bayern ist auch hier, der gehört das Bild. Und weil die Alarmanlage losgegangen ist, drückt sich die gesamte Nachbarschaft ebenfalls hier rum. Besser, Sie kommen gleich, Chef.«

Mit schicksalsergebenem Gesichtsausdruck und dem schreienden Baby auf dem Arm marschierte seine Frau an ihm vorbei in die Küche, um ein Fläschchen zuzubereiten. Das erleichterte Bruns die Entscheidung. Laut sagte er in den Hörer: »Wenn es unbedingt sein muss, Schmitz, dann mache ich mich sofort auf den Weg.«

Die Villa der Stiftung, ein großes, reetgedecktes Haus, lag in Kampen, ein wenig abseits des Zentrums. Im Garten standen zahlreiche Skulpturen, die in der Dunkelheit nur dadurch von den Schaulustigen zu unterscheiden waren, dass sie sich nicht vom Fleck rührten, als Polizeihauptmeister Schmitz alle des Grundstücks verwies, die hier nichts zu suchen hatten. Selbstverständlich erst, nachdem sämtliche Personalien aufgenommen waren. Bruns holte sich kurz die wichtigsten Informationen und trat dann auf Roger Theissen zu. Der hatte sich offenbar in Eile angekleidet, denn der Kragen seiner Wachsjacke war nach innen umgestülpt und die Cordhose hing ohne Gürtel tief auf der Hüfte. Auch die Frisur wirkte derangiert. Gerade strich er sich unwirsch eine Haarsträhne hinters Ohr, die ihm aber sofort wieder nach vorn rutschte. Bruns konnte sich Theissens Wutausbruch bildlich vorstellen, das knallrote Gesicht des älteren Herren fiel sogar unter der spärlichen Straßenbeleuchtung vor dem Grundstück auf. Hoffentlich war es nur Ärger und keine Herzproblematik, denn einen medizinischen Notfall brauchte Bruns in dem ganzen Chaos nicht auch noch.

»Kriminalkommissar Nanne Bruns«, stellte er sich vor. »Ich bin der Chef der Kriminalpolizei auf Sylt und kann Ihnen versichern, dass wir alles tun werden, um Ihr gestohlenes Gemälde schnellstmöglich wiederzufinden.«

Während Theissen Luft holte, um etwas zu sagen, schritt eine große Frau von der Seite ein. »Mein Gemälde. Es gehört mir, nicht ihm.«

»Und Sie sind?«

»Henriette Schimmelreiter.«

Ein amüsiertes Zucken spielte für einen Moment um Bruns‘ Mundwinkel. An und für sich wäre es unsichtbar gewesen, hätte der Kommissar nicht ein außerordentlich ernstes Gesicht, welches durch jedwede Gefühlsregung schlagartig verändert aussah. Daher konnte er sicher sein, dass sie das verdrückte Grinsen bemerkt hatte. Peinlich. »Sie stammen aber nicht von hier?«

»Nein. Ich bin extra mit meinem Stuck aus Bayern angereist, um ihn auf Herrn Theissens ausdrücklichen Wunsch hin bei seiner Ausstellung zu präsentieren.«

»Was ist ein Stuck?«

Nun ergriff Theissen das Wort. »Franz von Stuck. 1863 bis 1928, der Maler des geraubten Werks! Mann, Mann, Mann …«

Während sie ins Haus gingen, raunte Bruns Schmitz zu: »Muss man den kennen?«

Hinter ihnen protestierte Theissen lautstark, weil er draußen vor dem Gartenzaun bleiben musste. Schmitz wiederum zückte sein Smartphone und tippte mit beiden Daumen, dann las er ab: »Franz von Stuck war ein berühmter bayerischer Maler, der die sogenannte Münchner Sezession mitbegründete. Kann ich ja später mal weitergoogeln, was das sein soll. Jedenfalls malte dieser Stuck gerne öfter das Gleiche, zum Beispiel Faune, Zentauren und vor allem nackte Frauen. Berühmt wurde er durch seine Interpretation von Eva mit der Schlange. Das Ganze nannte er jedes Mal Die Sünde. Selbes Thema, mehrere Varianten.« Er steckte das Handy wieder weg. »Eine neu aufgetauchte ebensolche gehört Frau Schimmelreiter, sollte morgen bei der Ausstellung vorgestellt werden, wurde heute Nacht gestohlen und ist nach Aussagen der Besitzerin fast eine halbe Million Euro wert. Wobei ich diese Summe infrage stellen würde, scheint mir doch ordentlich hoch angesetzt zu sein. Kann ich aber auch googeln.«

Mittlerweile hatten die zwei Beamten das Büro des Stiftungshauses im ersten Stock erreicht. Herr Theissen regte sich draußen immer noch auf. Und Frau Schimmelreiter bestand darauf, in ihr Ferienhaus zurückgebracht zu werden, teilte ihnen einer der Kollegen mit. Bruns war das recht. Er würde die beiden in Ruhe befragen, nachdem er sich einen Überblick verschafft hatte. Theissens autoritäre Art flößte ihm keine Angst ein. Seit seinem Amtsantritt auf Sylt vor einem Jahr war dem gebürtigen Hamburger aufgefallen, dass es hier anscheinend überproportional viele Einwohner gab, die sich wahnsinnig wichtig nahmen und gern anderen respektlos über den Mund fuhren, wenn sie ihr Gegenüber für sozial nicht gleichwertig hielten. Selten spiegelte sich Bruns‘ Abneigung gegen derartige Zeitgenossen in seinem gleichmütigen Gesichtsausdruck wider, aber bei Theissen konnte er sich nur schwer beherrschen. Es war Antipathie auf den ersten Blick. Unprofessionell, schon klar. Weil Bruns ein Profi war, würde er seine persönlichen Präferenzen daher hintenanstellen und Roger Theissen genauso behandeln wie jeden anderen auch.

»Statistisch gesehen ist das Hauptmotiv für Kunstraub Bereicherung«, unterbrach Schmitz die Gedanken des Kommissars, »und wird meist von Profis als Auftragsarbeit durchgeführt. Allerdings ist der Aspekt des Versicherungsbetrugs nicht zu vernachlässigen«, fügte er hinzu, als könnte er einen Einwand vorausahnen.

Bruns würde sowohl Theissen als auch diese Frau Schimmelreiter erst einmal als Verdächtige behandeln. Wieso musste die Dame mit einem sündhaft teuren Gemälde eines bayerischen Malers, den hier im Norden sicher kein Mensch kannte, durch die gesamte Republik reisen? Das machte irgendwie einen dubiosen Eindruck.

»Der Tresor wurde nicht aufgebrochen«, sagte Schmitz gerade.

Bruns betrachtete das mannshohe, in die Wand eingemauerte Ungetüm. Auf mehreren Etagen lagen zusammengerollte Leinwände, Schatullen und antik aussehende Bücher. Das unterste Fach war so hoch, dass man auch kleinere Keilrahmen darin abstellen konnte. Es sah aus, als wäre außer Der Sünde nichts gestohlen worden. Schmitz bestätigte dies.

Nachdem er alles genau in Augenschein genommen hatte, trat Bruns wieder nach draußen. Die Sonne ging gerade auf und ein frischer Wind hätte die letzten Anzeichen von Müdigkeit aus seinem Gesicht vertreiben können, wenn nicht sein Schlafkonto aufgrund des Babys ohnehin hoffnungslos im Minus gewesen wäre. So freute sich Bruns zwar über die angenehme Seeluft, sah aber übernächtigt und deutlich älter aus als seine sechsunddreißig Jahre.

Weil seine Frau es nicht erfahren würde, schnorrte er von einem Kollegen eine Zigarette und inhalierte den Rauch tief. Dabei glitt sein Blick zu einer der im Garten stehenden Skulpturen. Zwei nackte Männer, die im Stil der griechischen Antike miteinander rangen. Ihre Schenkel waren muskelbepackt, ebenso die Arme, die Gesichter in Anstrengung verzerrt. Bruns wunderte sich, warum der Künstler den beiden Marmorgiganten nur winzige Penisse zugedacht hatte, verfolgte den Gedanken jedoch nicht weiter, denn schon war Schmitz wieder an seiner Seite.

»Hatten Sie nicht aufgehört?«, fragte er und zeigte mit dem Finger auf die Zigarette.

»Doch. Das ist eine Ausnahme.«

»Ist klar. Die Spurensicherung braucht noch eine Weile. Wir werden die Ergebnisse erst in einigen Stunden bekommen. Vorher macht es auch keinen Sinn, eventuelle Verdächtige zu befragen. Sie wissen schon, Theissen, Schimmelreiter und die Stiftungs-Typen. Wir könnten nach Hause fahren. Immerhin wäre theoretisch noch nicht Dienstbeginn.«

Bruns musste nicht lange überlegen. »Fahren Sie heim, Schmitz, wir sehen uns später auf der Wache.«

Er selbst begab sich auf direktem Weg in sein Büro. Dort war es ruhig. Kein Baby schrie. Nur für einen kurzen Moment würde er die Augen schließen. Bruns löste die Rückenfeststellung seines Schreibtischstuhls und lehnte sich entspannt zurück. Innerhalb von dreißig Sekunden war er eingeschlafen.

Sylter Sündenfall

Подняться наверх