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Frühlingsreigen
Оглавление(Franz von Stuck, 1909, Öl und Tempera/Holz, 115x110cm, Hessisches Landesmuseum, Darmstadt)
Hettie trank das pechschwarze Gebräu, das Polizeihauptmeister Schmitz ihr als Kaffee angeboten hatte, in kleinstmöglichen Schlucken und bemühte sich, ein Schaudern zu unterdrücken. Freundlich lächelte sie ihm zu, unfähig, etwas zu sagen, weil die Brühe schockierend bitter schmeckte.
Schmitz musste südländische Vorfahren haben, mit seinem mediterranen Teint, dem dunklen Haar und den schokobraunen Augen. Der junge Beamte sah sensationell gut aus, schien sich dessen aber nicht bewusst zu sein. Ein seltener Umstand, wie Hettie fand, überschätzten doch Männer für gewöhnlich ihre Attraktivität. Der Polizeihauptmeister tippte nun konzentriert etwas in seinen Computer, ohne auf die flirtbereiten Blicke der Sekretärin am Schreibtisch gegenüber zu reagieren. Nicht einmal, als eine andere Kollegin hereinkam, um sich sinnloserweise hier herumzudrücken, sah er auf, und so entging ihm, wie sie ihn beide anschmachteten.
Hettie wartete auf Kommissar Bruns. Das machte ihr nichts aus, denn es war äußerst kurzweilig auf der Polizeidienststelle. Schließlich verließen die zwei Sekretärinnen mit hängenden Mundwinkeln den Raum.
»Schmeckt Ihnen der Kaffee?«, fragte Schmitz, als sie allein waren.
»Hm, ja, danke.«
»Ich kann den nicht trinken. Wissen Sie, ich mag keinen Filterkaffee. Meine Mutter kommt aus Sizilien und bei uns daheim gibt es immer richtig guten Espresso. Wenn man damit aufgewachsen ist, schnürt einem das Zeug hier die Kehle zu.«
Das erklärte einiges. Hettie konnte ihm nur auf ganzer Linie zustimmen.
»Über siebzig Prozent der Deutschen besitzen noch eine Filterkaffeemaschine«, informierte er sie. »Ist das nicht erschreckend?«
In diesem Moment kam Bruns herein und bat Hettie und Schmitz, mit in den Verhörraum des Kommissariats zu kommen. Erstaunt zog sie die Augenbrauen hoch. War das nicht etwas übertrieben? Ihre Aussage hätte sie genauso gut im Büro machen können, aber wenigstens bot sich so eine Gelegenheit, die volle Kaffeetasse dezent zurückzulassen.
»Fürs Protokoll: Ihr Name ist Henriette Schimmelreiter und Sie sind die Besitzerin des gestohlenen Gemäldes?«
»Das stimmt. Haben Sie schon eine Spur? Zum Beispiel mal bei Herrn Theissen nachgehakt?«
»Können wir uns darauf einigen, dass ich die Fragen stelle?«, meinte Bruns irritiert, stutzte dann aber. »Wieso?«
»Nach meiner Ankunft auf Sylt habe ich Die Sünde Herrn Theissen übergeben und dabei hat er mir die wunderschöne Villa der Kunstfreunde gezeigt. Ich habe auch den Tresor im Büro gesehen.«
»Ja, und?«
»Das Bild hat die Maße 106 auf 96 Zentimeter, inklusive Rahmen.«
Schwer zu sagen, was in Bruns‘ Kopf vorging, zu unbewegt war sein Gesicht. Er sah nicht hässlich aus, auch nicht besonders schön, sondern verkörperte genau das, was Hettie als durchschnittlich bezeichnen würde.
»Dann hätte es unmöglich in den Tresor gepasst«, warf Schmitz hilfsbereit ein.
»Danke, das ist mir ebenfalls klar«, zischte Bruns. »Vielleicht hat Theissen es vom Rahmen genommen, um es hineinzulegen.«
Hettie schüttelte den Kopf. »Niemals. Die Leinwand ist auf der Rückseite stabil mit dem Holz verbunden.«
»Warum stand dann der Tresor offen?«
»Das sollten Sie Herrn Theissen fragen. Jedenfalls war ich von Anfang an skeptisch, als er meinte, er würde Die Sünde im Büro einschließen und alles wäre mit einer Alarmanlage prima abgesichert. Die ging wohl auch los – nur, bis Sie und Ihre Leute eintrafen, war das Bild längst weg. Es dürfte Sie interessieren, dass Herr Theissen mir mehrere Kaufangebote für das Gemälde unterbreitet hat. Wir waren allerdings weit von einer Einigung entfernt.«
»Dann wollten Sie es verkaufen?«
»Ja, falls der Preis stimmt. Tat er aber nicht. Und nun ist es verschwunden. Wie praktisch. Natürlich hat die Stiftung Kunstfreunde Sylt eine Versicherung darauf abgeschlossen. Noch praktischer.«
Bruns kratzte sich hinter seinem rechten Ohr. Vermutlich juckte es ihn nicht wirklich, sondern es war nur so eine Art Verlegenheitshandlung. Hettie beobachtete dies nämlich bereits zum dritten Mal, seitdem er das Verhör begonnen hatte. Die tiefliegenden Augen und der kleine Mund ließen sein Gesicht verkniffen wirken, besonders wenn er so wie in diesem Moment, die Lippen aufeinanderpresste. Er machte einen erschöpften Eindruck. Das waren ja tolle Voraussetzungen für das Wiederfinden ihres Gemäldes. Ein frustrierter, überarbeiteter Beamter, der so tat, als wäre er völlig genervt davon, ermitteln zu müssen.
»Dann sind Sie der Meinung, Herr Theissen hat Ihr Bild geklaut, weil Sie es ihm nicht zum Schnäppchenpreis überlassen wollten?«
»Es liegt mir fern, Verdächtigungen anzustellen.«
»Schon klar. Was ist das gute Stück denn wert?«
»Ich habe die Expertise eines Kunstgutachters, der den Wert auf 450.000 Euro beziffert.«
Anerkennend pfiff Bruns durch die Zähne. »Und was hat Theissen dafür geboten?«
»280.000.«
»Zu dem Preis hätte ich auch nicht verkauft«, wandte Schmitz ein. Bruns drehte sich auf seinem Stuhl zur Seite, warf ihm einen seiner ausdruckslosen Blicke zu und setzte sich dann wieder gerade hin. Er blätterte in den Unterlagen.
»Danke, Frau Schimmelreiter. Wir haben ja Ihre Adresse hier auf der Insel. Ich darf Sie bitten, noch nicht abzureisen.«
»Natürlich bleibe ich, was denken Sie denn? Ich will schließlich mein Eigentum zurückhaben.«
»Sie können dann gehen.«
»Herr Kommissar, ich mische mich ungern ein, aber haben Sie schon mal daran gedacht, dass in diesem Fall äußerste Eile geboten ist? Sobald Die Sünde von der Insel weggeschafft wurde, wird es schwierig werden, sie noch zu finden.«
»Das ist mir durchaus klar.« Mit einem Mal war es nicht schwer, im Gesicht des Kommissars zu lesen. Gereizt zog er die Augenbrauen zusammen und minimierte seine Lippengröße von zusammengepresst auf strichdünn.
Ach, schau, dachte Hettie, ganz gefühllos ist er also nicht.
Vom Polizeirevier in Westerland fuhr sie zu ihrem Ferienhaus nach Keitum und war froh über ihren Mietwagen, denn auf dem Weg dorthin pfiff eine steife Brise über die flache Landschaft und es tröpfelte. Am Straßenrand standen Büsche und verkümmert aussehende Bäume, die sich alle in dieselbe Richtung bogen und so schief gewachsen waren, dass sie sich nicht mal mehr aufrichteten, wenn der Wind nachließ. Kurz dachte Hettie an die saftigen Weiden zu Hause im Voralpenland. Hier auf Sylt blühten jetzt erst die Narzissen als einziger Farbklecks in einer ansonsten kargen Umgebung.
Um den Bittergeschmack des knusprigen Polizeikaffees endgültig zu vertreiben, bediente sich Hettie zunächst am Teevorrat ihrer Freundin Karoline, die erfreulicherweise nicht nur eine Auswahl an Heißgetränken, sondern auch ein gut gefülltes Weinregal zur Verfügung stellte. Davon würde sie sich abends ein schönes Fläschchen genehmigen, nahm sie sich vor.
Nach einer Tasse heißen Friesentees schlüpfte sie in eine Steppjacke, legte sich ihren wärmsten Schal um und machte einen Spaziergang. Insgesamt drei Mal war Hettie bisher auf Sylt gewesen: einmal vor vielen Jahren mit Fritz und den Kindern, dann mit ihrem Mann allein, als die Söhne schon im Internat waren, und schließlich hatte sie sich, nachdem Fritz verschwunden war, bei Karoline in ebendiesem Haus ausgeheult. Hettie würde sich keinesfalls als Syltkennerin bezeichnen und noch weniger als Inselfan. Falls dem so wäre, hätte ich zu dieser Jahreszeit wärmere Klamotten mitgebracht, dachte sie, während sie durch das malerische Kapitänsdorf schritt und die reetgedeckten Friesenhäuser bewunderte. Sie bog in einen Weg, der zum Meer hinunterführte. Es war Ebbe und sie wanderte eine Weile am Watt entlang. Die Luft schmeckte herrlich.
Was sollte sie die ganze Zeit über hier anfangen? Nur darauf warten, dass Kommissar Bruns vielleicht ihren Stuck fand? Oder auch nicht? Es lag nicht in Hetties Natur, herumzusitzen und Däumchen zu drehen. Daher fasste sie einen Entschluss.
Wenige Stunden später saß sie in einer Wohnung in einem Hochhaus in Westerland, genauer gesagt in einem kleinen Raum, der als Büro eingerichtet war, ihr gegenüber Matthias Behrens, seines Zeichens Privatdetektiv.
»Woher, sagten Sie noch mal, haben Sie meine Nummer?«
»Von Karoline Meister, sie hat Sie mir empfohlen.«
Warum explizit, das fragte sich Hettie allerdings mittlerweile. Herr Behrens wirkte weder besonders interessiert an einem Auftrag, noch besonders engagiert. Im Gegenteil. Er machte einen eher misstrauischen Eindruck, als wäre Hettie nicht seine potentielle Auftraggeberin, sondern eine Verdächtige.
»Na, dann schießen Sie mal los.«
In kurzen Worten schilderte sie ihm, was vorgefallen war. Er machte sich keine Notizen, schien aber wenigstens aufmerksam zuzuhören.
»Und jetzt wollen Sie, dass ich diesem Theissen auf den Zahn fühle und das Bild finde, bevor es die Insel verlässt und für immer verschwindet.«
»Korrekt. Ich denke, dass wir die Sache schneller regeln können als die Beamten.«
»Wir?«
»Na ja, Sie werden sicher noch mehr Informationen von mir benötigen und so.«
Er seufzte. »Frau Schimmelreiter, nur damit das von vornherein klar ist: Wenn ich Ihren Auftrag übernehmen soll, müssen Sie verstehen, dass ich allein arbeite.«
Sie nickte. Herr Behrens stand auf und streckte ihr die Hand hin. Hettie war groß, aber Matthias Behrens überragte sie deutlich. Wollte man ein Werbeplakat mit der Aufschrift „typisch nordisch“ entwerfen, wäre er das perfekte Model, fand Hettie. Schlank, schmales Gesicht, glatte hellblonde Haare mit ebensolchen Augenbrauen, dazu blaue Augen und ein breiter Mund. Im landläufigen Sinn attraktiv war er nicht, aber er hatte was. Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig, mit reichlich Lebenserfahrung, wie die Narben oben links auf der Stirn und am Kinn verrieten. Karoline hatte gemeint, er wäre der beste Detektiv auf Sylt, zudem der einzige, der nicht für eine Kette oder ein Franchise-Unternehmen arbeitete, sondern allein. Trotzdem hatte Hettie erst alle anderen gegoogelt, bevor sie sich an ihn gewendet hatte. Wahrscheinlich wohnte er in dieser Wohnung, in der sich sein Büro befand. Und wahrscheinlich war er genauso spröde und wortkarg wie der Kommissar. Aber sie brauchte Hilfe und das rasch, wenn sie den Stuck wiederhaben wollte.
»Noch eine Frage«, wandte Behrens sich noch einmal an Hettie, als sie bereits an der Tür standen. »Warum der ganze Aufwand? Das Ding ist doch bestimmt versichert. Weshalb warten Sie nicht einfach darauf, dass Bruns seine Suchaktion für offiziell gescheitert erklärt und lassen sich dann die Summe auszahlen?«
Hettie seufzte. Besser war es, gleich mit offenen Karten zu spielen. Schon allein, um überzogenen Honorarforderungen vorzubeugen. »Weil ich Versicherungen grundsätzlich misstraue. Bis die den Schaden ausgleichen, bin ich alt und grau, falls sie überhaupt was zahlen. Ich will den Stuck verkaufen, und zwar zügig. Sollten Sie ihn finden, ist ein Bonus für Sie drin.«
Von Westerland aus fuhr Hettie nach Kampen, zu ihrem nächsten Treffen. Auf dem Weg dorthin hielt sie rasch in einem Supermarkt, wie es ihn wohl nur auf Sylt gab, mitsamt Gourmet-Fischtheke, Sushi-Stand, Bio-Bäckerei, erlesener Weinauswahl, an Lebensmitteln alles, was das Herz begehrte, und dazu superbreite Gänge, in denen nicht wie sonst üblich knapp zwei, sondern locker drei Einkaufswagen nebeneinander Platz hatten. Ein glückliches Seufzen entschlüpfte Hettie, während sie einfach nur dastand und sich in diesem Paradies umblickte. Sie schwor sich, nur noch hier einzukaufen, solange sie auf der Insel war. Fürs Erste genügte ihr nun aber eine Tageszeitung. Ein sehr unvorteilhaftes Bild von Kommissar Bruns prangte darauf, zusammen mit Roger Theissen, der mit seinem falsch umgestülpten Kragen derangiert aussah. Der Kunstraub war das Titelthema.
An den Rosinenbrötchen konnte Hettie dann doch nicht vorbeigehen und kaufte zwei, die sie gleich im Auto verspeiste.