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Forellenweiher

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(Franz von Stuck, 1890, Radierung, 30x25cm, Metropolitan Museum of Modern Art, New York)

Präzise in dem Moment, als das Wasser in ihre Gummistiefel schwappte, erhellte ein Blitz den grauen Nachmittagshimmel, unmittelbar gefolgt von krachendem Donner. Das Gewitter stand direkt über Hettie. Es dauerte ein wenig, bis sich ihre Gänsehaut wieder legte. Sie hasste kalte Füße, nasse kalte Füße noch mehr, und es war sicherlich kein Intelligenzbeweis, dass sie sich während eines Unwetters in einem Bach aufhielt. Aber was getan werden musste, duldete keinerlei Aufschub.

Mit einem gemurmelten »Ist eh schon wurscht« ging sie in die Knie. Dabei schwappte das Wasser über ihre Oberschenkel, doch was machte das noch für einen Unterschied? Nasser als nass war schließlich nicht möglich. Es goss wie aus Kübeln. Mit beiden Händen griff sie beherzt in das Absperrgitter des Bachlaufs. Büschelweise rupfte sie Schlingpflanzen, Laub und Schilf heraus und warf sie ans Ufer, wieder und wieder. So lange, bis das Gitter frei war und das Wasser wieder ungehindert hindurchfließen konnte. In letzter Minute hatte Hettie den Bach vor dem Überlaufen bewahrt. Die Fische würden ihr diesen furchtlosen Einsatz hoffentlich danken. Ein erneuter Blitz rief sie zur Vernunft. Mit schmatzendem Schuhwerk rannte sie über die Wiese, den Hügel hinauf und zur Hintertür des herrschaftlichen Anwesens, welches ihn krönte. Bevor sie hineinging, schlüpfte sie aus ihren Gummistiefeln und kippte das darin befindliche Wasser in einen Geranientopf, der neben dem altmodischen Klingelzug stand. Vor dem Garderobenspiegel packte sie ein kurzer Moment des Grausens. Erst gestern war Hettie beim Friseur gewesen, hatte für Ansatzfarbe, Schneiden und Glattföhnen der Locken einen obszön hohen Geldbetrag bezahlt. Und jetzt sah ihr rotblondes Haar wie ein nasser Topfreiniger aus. Um genau zu sein, fühlte es sich auch so an. Die saftigen Geräusche, die ihre Socken auf dem Fliesenboden machten, ermahnten sie, sich zuerst um größere Probleme wie die völlig durchnässte Kleidung zu kümmern, und erst danach um die Frisur. Beinahe schaffte sie es ins obere Stockwerk, doch ein Knarzen der alten Holzstufen alarmierte Hetties Mutter.

»Henriette!«

Wie kann eine Frau Mitte siebzig während eines Gewitters ein derartig leises Geräusch durch mehrere Wände und Türen hindurch hören?, fragte sie sich entnervt. Einen Moment lang befürchtete Hettie, ihre Mutter würde in Ohnmacht fallen.

»Wie siehst du aus! Vollkommen verdreckt! Nass! Und deine Frisur! Du hattest doch ordentlich geföhnte Haare.«

»Ich musste den Bachlauf frei machen.«

»Das ist Gregors Aufgabe!«

»Der Gärtner hat geregelte Arbeitszeiten, Mutter. Es ist nicht mehr so wie früher, wo man rund um die Uhr Zugriff auf das Dienstpersonal hatte, weißt du? Heute ist Sonntag, da arbeitet der Gregor nicht.«

»Deswegen musst du noch lange nicht …«

»Muss ich wohl. Gregor hätte die Absperrung schon letzte Woche reinigen sollen. Hat er aber nicht gemacht. Und jetzt wäre der Bach beinahe übergelaufen bei dem starken Regen. Dann hätten wir die Forellen von der Wiese aufklauben können. Wäre dir das lieber gewesen?«

»Gute Güte, nein. Selbstverständlich nicht.« Nachdenklich spielte ihre Mutter mit der Perlenkette um ihren Hals. Enerviert wedelte sie mit der Hand. »Gerade wo sich deine Tante für übermorgen angesagt hat. Natürlich mit ihren Enkelkindern, allen fünf! Die werden genug Dreck machen, da brauchen wir nicht auch noch ein Fischsterben. Jetzt bring dich erst einmal in einen ansehnlicheren Zustand, der Tee wird sonst kalt.«

Fünfzehn Minuten und eine heiße Dusche später betrat Hettie in einem knielangen Strickkleid den traditionell möblierten Salon und stellte erfreut fest, dass im Kamin Feuer brannte.

»Besser.« Unter dem kritischen Blick ihrer allzeit eleganten Mutter kam sich Hettie wie eine Achtjährige vor, obwohl sie bereits fünfundvierzig war. Das würde sich nie ändern. Fröstelnd hielt sie ihre Hände über die Flammen.

»Die Eisheiligen bringen immer kaltes Wetter. Besonders schlimm, dieses Jahr.«

»Die sind erst in zwei Wochen, Mama. Es ist einfach nur ein mieser, verregneter April.«

»Na, dann wirst du ja froh sein, wenn du Bayern den Rücken kehren und mich hier allein lassen kannst.«

Amüsiert goss sich Hettie eine Tasse Tee ein. »Du tust so, als würde ich in die Karibik auswandern. Ich fahre nach Sylt, wo es sicher alles andere als tropisch werden wird. Und ich bleibe nur ein paar Tage. Außerdem kommt sowieso Tante Mausi.«

»Gerade da bräuchte ich deine Unterstützung. Die Mausi hat die ganze Rasselbande im Schlepptau, die werden hier alles auf den Kopf stellen!«

»Papa ist auch noch da.«

»Der wohnt aber mittlerweile quasi auf dem Golfplatz.«

»Dann geh halt mit Golf spielen, Mama, meine Güte! Du weißt doch, dass ich das Bild zur Ausstellung bringen muss. Das gebe ich nicht aus der Hand.«

»Ich verstehe nicht, weshalb du so ein Gewese um das Ding machst.«

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich seit zwei Jahren allein für die Ausbildung meiner Kinder aufkomme? Ich weiß, du sprichst nicht gerne über den schnöden Mammon, aber so eine Uni in England ist nicht gerade billig. Und überhaupt fliegt mir das Geld nicht zum Dach rein. Wenn ich das Bild auf der Ausstellung präsentiere, gibt es sicher den ein oder anderen Interessenten und falls nicht – der Vorsitzende der Kunstfreunde Sylt möchte es sicher haben. Der macht ein Kaufangebot nach dem nächsten, obwohl er es noch nicht mal gesehen hat.«

»Du willst es verkaufen?« Nun wirkte ihre Mutter allen Ernstes frappiert.

»Lieber dieses Gemälde als eines aus dem Familienbesitz. Ich nehme an, du hast nichts dagegen, wenn ich es für einen guten Preis abstoße?«

»Natürlich nicht. Es hat keinerlei emotionalen Wert für uns, zumal es doch der Schimmelreiter erstanden hat.« Damit bezog sie sich auf Hetties Mann, Friedrich Schimmelreiter.

»Lass bitte den Fritz aus dem Spiel.«

»Immer noch auf seiner Seite, was? Na, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Finde dich besser endlich damit ab, Henriette. Der kommt nicht wieder. Wobei sein Verschwinden das einzig Anständige ist, was dieser Betrüger jemals für uns getan hat.«

»Mutter!«

»Du musstest ihn ja unbedingt haben, damals. Weil er so ein wilder Kerl war. Ein irrsinniger Aufschneider, mehr steckte nicht dahinter. Wenigstens hat er dir zwei Söhne beschert, besser als nichts …«

Hettie schaltete auf geistigen Durchzug. Wie das täglich grüßende Murmeltier leierte ihre Mutter immer wieder dieselben Tiraden herunter, sobald die Rede auf Friedrich Schimmelreiter kam. Um sich nicht aufzuregen, dachte Hettie lieber an die Insel. Sie würde der Ausstellungseröffnung der Stiftung Kunstfreunde Sylt beiwohnen, viel Fisch essen, die Seeluft genießen und es sich richtig gut gehen lassen. Und wenn sie nach ein paar Tagen wieder heimkäme, wären Tante Mausi und ihre schreckliche Brut längst abgereist.

Am späten Nachmittag verzog sich das Gewitter, der Himmel klarte auf. Hettie schlang sich einen Wollponcho um die Schultern und ging hinaus. Sie atmete tief durch, um die herrliche Luft bis in die hintersten Winkel ihres Körpers dringen zu lassen. Ihr Haar war erwartungsgemäß zu wilden Wellen getrocknet, dahin war die liebe Mühe der Friseurin.

Seit dem Verschwinden ihres Mannes lebte Hettie wieder auf Schloss Rieding, dem Landsitz ihrer Eltern. Weil ihre beiden Söhne im Ausland studierten und sie nicht allein in Frankfurt bleiben wollte, war sie in die bayerische Heimat zurückgekehrt. Schon als Kind hatte sie die Höhenzüge der Alpen geliebt, die sich beim Blick in die Ferne vor ihr erhoben. Die scheinbar unveränderlichen Berge gaben ihr das Gefühl von Stabilität. Egal, wo sie im Leben stand, ob es ihr gut ging oder schlecht, ob als kleines Mädchen oder erwachsene Frau – die Berge waren immer da, immer gleich, immer konstant. Für Hettie verkörperten sie Heimat – mehr noch als Schloss Rieding. Ihr Vater hatte vergeblich versucht, ihr die Namen der einzelnen Silhouetten beizubringen. Dabei kam es ihr darauf nicht an. Sie wollte nichts auswendig lernen, sondern ihre Gedanken auf die Reise schicken. So wie jetzt, als das sanfte Licht des Nachmittags die regennassen grünen Wiesen zum Glitzern brachte. Die Wälder, die nach und nach verschwanden, je höher die Hänge anstiegen. Und schließlich die verschneiten Gipfel, auf denen sich ihre Augen ausruhen konnten, bis sich Hettie besser fühlte. Das funktionierte immer.

Als sie zu frösteln begann, ging sie wieder hinein, direkt und ohne Umwege in ihre Räumlichkeiten, dieses Mal unbemerkt von ihrer Mutter. Wahrscheinlich hatte die sich den Tee ordentlich mit Hochprozentigem aufgepeppt und schlummerte nun in ihrem Ohrensessel. Gut so.

Natürlich hätte sie das Ölgemälde für die Ausstellung auch versenden können. Aber das kam nicht infrage. Laut einer Expertise, die Friedrich vor dem Kauf eingeholt hatte, lag der Wert des Kunstwerks so hoch, dass Hettie es in jedem Fall persönlich begleiten würde. Vor allem, da sie beabsichtigte, es zu verkaufen – Versicherung hin oder her. Überhaupt machte ihr die Reise nichts aus, im Gegenteil, sie freute sich auf Sylt. Für die Dauer ihres Aufenthalts würde Hettie im Ferienhaus einer Freundin wohnen, die es nur im Sommer ein paar Wochen nutzte und Ende April keinen Fuß auf die Insel setzte. Als sie das Bild in die Hand nahm, um es zu verpacken, genoss sie einen letzten Blick darauf.

Die Sünde, ein typisches Motiv für Franz von Stuck, welches er viele Male verewigt hatte. Es sah dem berühmtesten, aus dem Jahre 1893 stammenden Werk des bayerischen Künstlerfürsten ähnlich, verfügte aber nicht über dessen bombastischen Goldrahmen und das Modell war ein anderes gewesen. Hübscher, wie Hettie fand. Eine nackte Frau mit schwarzem Haar, milchweißer Haut, die von innen zu leuchten schien, Lippen wie Rosenknospen, dazu ein lasziver Blick. Um ihre Schultern lag die obligatorische Schlange, bedrohlich und unproportional mächtig. Ihr fleischiger Körper wand sich fordernd um die Taille der jungen Frau, als ob sie sie jeden Moment erdrücken wolle. Während die Augen des Modells versonnen in die Ferne gerichtet waren, blickte das Tier direkt aus dem Bild heraus. Sein Kopf schob sich über die Schulter, bis an den Busen der Schönen, wo er verharrte und den Betrachter aus provokanten grünen Reptilaugen musterte. Sollte die Schlange züngeln, würde sie an der Brustwarze lecken, war ein Gedanke, der sich unweigerlich aufdrängte. Der Inbegriff der Sünde, ein prächtiges Gemälde. Friedrich war völlig aus dem Häuschen gewesen, als er es erstanden hatte. Von wem und für wie viel hatte Hettie ihn nie gefragt. So war es immer am besten gewesen, wenn es um die Geschäfte ihres Mannes ging.

Manchmal wunderte sie sich, ob ihre Mutter am Ende doch recht hatte. War ihre Ehe reiner Trotz gewesen, um den Eltern eins auszuwischen? Wäre sie nicht sofort schwanger geworden, zuerst mit dem einen Sohn und kurz nach dessen Geburt mit dem zweiten, wäre sie vielleicht viel früher zur Vernunft gekommen. So jedoch hatte Hettie die letzten beiden Jahrzehnte an der Seite eines Mannes verbracht, der sich selbst als Entrepreneur bezeichnete, dabei nichts auf die Reihe brachte und irgendwann verschwand wie ein Kaninchen im Hut eines Zauberers. Abrakadabra, puff und weg. Einfach so. Hinter den Trick war sie freilich noch nicht gekommen, aber es musste ein brillanter sein.

Sylter Sündenfall

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