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England, 2007

Schuppenfries.

So nannte man es wohl, das Band, welches dicht unter der Decke rings um den ganzen Raum lief.

Anne überlegte, woher sie den Ausdruck kannte, aber es fiel ihr nicht ein.

Drei Reihen von Halbkreisen lagen übereinander, wie die Schuppen eines Fisches.

Die Verzierung bestand aus weißem Gips und hob sich frisch und sauber von der Wand in gedecktem Grün ab.

Farngrün, dachte Anne, Pistaziengrün, Cremegrün, Blassgrün, Porzellangrün …

Weil ihr keine weiteren Begriffe für Grünschattierungen einfielen, ließ ihre Konzentration nach, und der schwere Körper des Mannes wurde ihr wieder bewusst. Das Kratzen seiner drahtigen Brusthaare auf ihrer Haut, sein Atem, der nach Wein roch, säuerlich wie sein Schweiß, sein alter, aufgedunsener Körper, seine Bewegungen, die sie auf und in sich spürte. Rasch zog sie sich wieder in ihre Gedanken zurück und beschäftigte sich weiter mit dem Schuppenfries. Das würde sie mehr in Anspruch nehmen als die grüne Wand. Es war ein Stilelement der Romanik, ähnlich wie das Rundbogenfries. Ein schmaler Streifen aus Gips. Nur Dekoration.

Stammte das Schlafzimmer auch aus romanischer Zeit? Anne runzelte die Stirn, den Blick starr auf das Fries gerichtet, seitlich am Mann vorbei. Durch seine Bewegungen schoben sich ab und an ein paar graue Haarsträhnen in ihr Blickfeld, deshalb drehte sie den Kopf etwas weiter zur Seite.

Wann hatte die Romanik noch einmal begonnen? So um elfhundert, zwölfhundert?

Auf keinen Fall war das Schlafzimmer original. Der Landsitz des Earls von Breckon, Poffy, wie sie ihn nennen sollte, war zwar alt, aber nicht so alt.

Poffy stöhnte nun lauter, und Anne suchte verzweifelt in ihren Gedanken nach Ablenkung.

Romanik, Romanik, was gab es da noch?

Sakralbauten! Kirchen! Kathedralen! Sie könnte Städte aufzählen, in denen es Kathedralen gab! Speyer, Paris, Metz …

Als sie bei der Kathedrale von Reims angekommen war, ging ein Zucken durch den Körper des Mannes und mit einem letzten befriedigten Grunzen sank er erschöpft auf sie.

Sein Schweiß auf ihrer Haut verursachte schmatzende Geräusche, während sie versuchte, sich unter ihm hervor zu winden. Anne musste an sich halten, um nicht laut loszuschreien.

Wenigstens war es überstanden.

Sie brachte ihre gesamte Willenskraft auf, um ihn anzulächeln, während sie wieder in ihre Schuluniform schlüpfte. Auf keinen Fall durfte er den Ekel in ihren Augen sehen, dann wäre alles verloren.

»Das war sehr schön, Poffy«, log sie und hasste sich dafür.

Mit schwitziger Hand tätschelte er väterlich ihren Kopf. »Das war es, mein Engel, das war es. Leider können wir uns nächste Woche nicht sehen. Meine Frau besteht darauf, dass ich mit zu dieser öden Jagdgesellschaft fahre.«

Er tat gerne so, als ob Anne wüsste, wovon er sprach. Als ob sie seine Vertraute wäre. Tatsächlich jedoch stellte sie nie Fragen. Nicht weil sie besonders diskret gewesen wäre – sie wollte einfach keine Details aus seinem Leben wissen. Angefangen bei seinen zahlreichen Titeln, seinen Freizeitbeschäftigungen bis hin zu all den wichtigen Menschen, die er kannte. Es interessierte sie nicht, welche Schlösser, Ländereien und Wohnsitze er besaß, wie er seine Wochenenden verbrachte, und am allerwenigsten wollte sie etwas über seine Familie hören. Der Gedanke, dass Poffy seine Frau mit ihr betrog, einem Mädchen, wahrscheinlich jünger als seine Kinder, trieb Anne Tränen der Scham in die Augen. Sie drehte sich rasch weg und begann, ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz zu binden. Währenddessen ging sie im Kopf die Noten von Chopins Grande Valse durch. Sie stellte sich die Klaviertastatur vor und dachte an die fröhliche Melodie. Das half ihr, schnell ruhig zu werden und ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.

Was hatte er gerade gesagt? Hatte sie wirklich eine Woche ohne seine klebrigen Hände vor sich?

Anne jubelte innerlich. »Wie schade. Na ja, da kann man nichts machen. Aber am Mittwoch läuft die Frist für das nächste Halbjahr aus …«

»Dein Schulgeld habe ich selbstverständlich anweisen lassen, das ist längst erledigt, meine Liebe.« Er lag noch immer nackt auf dem Bett und rollte nun auf seinen ausladenden Bauch. »Wer mit so vollem Körpereinsatz seine Ziele verfolgt wie du, soll schließlich nicht enttäuscht werden. Du kannst dich dann übernächste Woche bei mir dafür erkenntlich zeigen.«

Sein lüsternes Grinsen ließ Übelkeit in Anne aufsteigen. »Das mache ich doch gerne, Poffy«, sagte sie zum Abschied, bevor sie das Zimmer verließ, um zurück zur Schule zu gehen.

Egal, wie lange sie unter der heißen Dusche stand, der Ekel ließ sich nie ganz abspülen. Dabei war sie sich nicht einmal sicher, ob sie der alte Mann mehr anwiderte, der sexuelle Gefälligkeiten im Gegenzug für die Finanzierung ihrer Schulausbildung forderte, oder sie sich selbst, weil sie sich für ihre Ausbildung prostituierte. Wenn auch nur eine einzige ihrer hochwohlgeborenen Mitschülerinnen erfahren würde, dass sie ein Verhältnis mit dem Earl von Breckon hatte, dem Vorsitzenden der Stiftung zum Erhalt der St. Margaret Privatschule, würde sie sofort von ebendieser verwiesen werden und müsste nach Wien zurückgehen. Das war keine Option, lieber würde sie sterben.

Umgekehrt hatte auch der Earl einiges zu verlieren, wenn seine Vorliebe für minderjährige Mädchen bekannt werden würde, angefangen von Ansehen und Ämtern bis hin zu seiner perfekten Vorzeigefamilie. Neutral betrachtet war es ein gewinnbringendes Arrangement für beide Seiten. Und Anne war nicht in der Position, wählerisch sein zu können. Sie musste nur noch ein halbes Jahr durchhalten, dann konnte sie ihren Abschluss machen, und der Albtraum würde ein Ende haben. Obwohl Poffy davon sprach, dass er in den Gremien mehrerer renommierter Universitäten saß, würde sie seine Unterstützung nicht weiter in Anspruch nehmen. Anne hasste sich, ihren Körper, die ganze Welt und am meisten ihre Mutter – dafür, dass sie ihr außer Schönheit nichts ins Leben mitgegeben hatte. Schließlich stellte sie das Wasser ab und griff nach dem Handtuch.

Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Mundwinkel, während sie an ihre Mutter dachte. Eine Schlampe war sie, das war nicht einmal übertrieben, und eine Alkoholikerin dazu, die sich einen Dreck um ihr Kind scherte und den ganzen Tag an nichts anderes dachte als an Schnaps und Zigaretten. Und Männer. Sie wusste nicht einmal, welcher ihrer zahlreichen Liebhaber sie letztendlich geschwängert hatte.

Anne war in einer winzigen Altbauwohnung in Wien aufgewachsen, in der die Zimmer mehr hoch als breit waren, muffig und feucht, und in der sie meist allein gewesen war, bereits als kleines Kind. Wenn nicht die alte Frau Sedlek im Hinterhaus gewesen wäre, Witwe und ebenso einsam wie sie – Anne wusste nicht, was aus ihr geworden wäre.

So hatte sie jeden Tag nach der Schule Frau Sedlek besucht, Tante Martha, die ihr zu essen gab und darauf achtete, dass sie ihre Hausaufgaben machte und lernte. Wenn sie fertig mit den Aufgaben war, durfte sie sich an das alte Klavier in der Wohnküche setzen, und Tante Martha brachte ihr bei, wie man wunderschöne Melodien spielte.

Später war sie stets mit einem wohligen Gefühl im Bauch nach Hause gegangen, das auch noch eine Weile anhielt, wenn Mutter sie anschrie, wie immer betrunken. Anne dachte dann einfach an das letzte Klavierstück, das sie gespielt hatte, ging im Kopf die Tasten durch, über die ihre Finger geflogen waren – so hörte sie die heisere Stimme kaum, die sich in Schimpftiraden erging, einfach so, weil sie unzufrieden war.

Mit der Zeit lernte Anne, auf diese Weise allen Widrigkeiten mit beherrschtem Gleichmut zu begegnen, wenigstens nach außen.

Ihre Gefühle hob sie sich für die Nachmittagsstunden am Klavier auf.

Sie war begabt, zweifellos, das Notenlesen fiel ihr leicht, und sie brauchte nie lange, um ein neues Stück zu erlernen. Aber sie war kein Wunderkind. Was sie zu einer außergewöhnlichen Pianistin machte, war die Seele, die sie in die Musik legte und die jeden Zuhörer verzauberte. So war es auch beinahe selbstverständlich, dass sie den Musikwettbewerb ihrer Schule gewann. Als ersten von vielen. Mutter erfuhr von alldem nichts.

Nicht einmal von dem hochdotierten Klavierwettbewerb, bei dem der erste Preis ein Jahresstipendium an einer englischen Privatschule war.

»Das ist deine Chance«, sagte Tante Martha. »Du bist jetzt fünfzehn Jahre alt. Wenn du gewinnst, kannst du weiter zur Schule gehen, noch dazu auf eine gute.«

Anne blickte auf das Anmeldeformular in ihrer Hand. »Ich weiß nicht. Man braucht die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten für den Fall, dass man gewinnt. Mutter wird dagegen sein.«

»Das sollte dich nicht davon abhalten.« Tante Martha bestrich eine Palatschinke mit Marillenmarmelade, rollte sie zusammen und schob Anne den Teller über das gelbe Wachstischtuch zu. »Wenn du darauf warten willst, dass deine Mutter etwas für dich tut, dann kannst du warten, bis du schwarz wirst, Kind.«

»Aber was soll ich denn tun? Ohne ihre Einwilligung kann ich nicht antreten.«

Tante Martha nahm ihr das Formular aus der Hand, zog einen Stift aus der Kitteltasche und unterschrieb unleserlich auf der gestrichelten Linie.

»Da hast du deine Unterschrift. Kann sowieso keiner entziffern. Jetzt fülle den Rest aus und überlege dir, was du spielen willst.«

Eine Weile hatten sich die alte Frau und das Mädchen schweigend in die Augen gesehen, dann hatte Anne genickt. »Ich werde den Wettbewerb gewinnen.«

»Selbstverständlich. Und dann gehst du nach England und kommst nie wieder zurück. Versprich mir das. Du wirst es hier rausschaffen und zu etwas bringen.«

Wütend schleuderte Anne das Handtuch in die Ecke, nachdem sie sich abgetrocknet hatte.

Eineinhalb Jahre lag ihr Versprechen zurück. Eineinhalb Jahre, in denen sie Dinge getan hatte, die mehr als ekelerregend waren. Aber wie hätte sie sonst hierbleiben können? Ohne Geld? Ohne Unterstützung? Tante Martha wäre entsetzt, wenn sie wüsste, was aus Anne geworden war. Und das nach all dem Aufwand, den sie betrieben hatte! Dabei war der Wettbewerb nicht das Problem gewesen – viel komplizierter hatte sich der Abgang aus Österreich gestaltet. Angefangen bei ihrem Namen.

Chantal Nowotny!

Ein Name wie ein Brandzeichen. Unterschicht. Sozial schwach, ungebildet, dumm. Sogar mit ihrem Namen hatte Mutter es geschafft, Anne Steine in den Weg zu legen. So hätte sie es niemals geschafft.

»528,20 Euro«, war Tante Marthas Lösung gewesen.

»Was?«

»So viel kostet es, seinen Namen zu ändern.« Verschmitzt hielt sie im Staubwischen inne und zwinkerte Anne zu. »Ich habe einen alten Freund in der Magistratsabteilung, der ein Auge zudrücken und den Vorgang schnell durchwinken würde.«

Sie legte den Staubwedel ab und nahm einen Umschlag aus der Tischschublade.

»Da drin sind tausend Euro. Mein Notgroschen. Das reicht für die Namensänderung, das Ticket nach England und für die erste Zeit dort. Mehr habe ich nicht. Danach bist du auf dich allein gestellt – aber du wirst es schaffen! Du bist ein schlaues Kind.«

»Das kann ich nicht annehmen, Tante Martha. So viel Geld. Das brauchst du doch selbst.«

»Ich habe es für Notfälle gespart, und dies ist ein Notfall. Ich will, dass du es nimmst.«

Anne schüttelte den Kopf. »Aber ich würde es nie zurückzahlen können.«

»Das musst du doch gar nicht, Dummchen. Du hast mir so viel Freude geschenkt, indem du deine Zeit mit einer einsamen alten Schachtel verbracht hast. Ich gebe es dir gerne.«

Unsicher sah Anne auf das Geld. Es wäre die Chance ihres Lebens. Wahrscheinlich die einzige, um dem Mief der Wiener Mietskaserne zu entkommen.

»Danke, Tante Martha!« Sie fiel der alten Frau um den Hals. »Ich verspreche dir, ich werde dich nicht enttäuschen.«

»Das weiß ich. Und nun lass uns überlegen, wie du heißen willst. Ich finde, es muss ein Name sein, der klassisch klingt. Und englisch sollte er auch sein.«

Und so wurde aus Chantal Novotny auf dem Schreibtisch eines kulanten Wiener Beamten Anne Catherine Marsden.

Wie erwartet erhielt sie das Stipendium, und wie erwartet fiel ihrer Mutter erst nach zwei Wochen auf, dass ihre Tochter nicht mehr da war.

Eine Zeit lang nahm sich Frau Nowotny fest vor, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, aber schon bald verpuffte diese gute Absicht im Rausch einer mehrtägigen Kneipentour, die im weiteren Verlauf zum Versagen der überstrapazierten Leber und somit zum Tod führte.

Dem Sozialarbeiter, der die Wohnung auflöste, wurde durch die Schule zwar mitgeteilt, dass es eine Tochter gab, die sich derzeit im Ausland befand, aber da der gestresste Mann beim besten Willen keine Chantal Nowotny auffinden konnte, gab er sich bereitwillig mit einem Stipendiatsschreiben zufrieden, das in der Wohnung aufgefunden worden war. Chantal hatte es Tante Martha sofort nach ihrem Schulstart in England zukommen lassen, um tiefergehenden Nachfragen vorzubeugen, und die hatte es strategisch günstig platziert. Der Beamte durfte somit einige Erledigt-Häkchen in der Akte setzen, die wegen der täglichen Flut der Fälle irgendwann unbemerkt in irgendeinem Archiv verschwand.

Der einzige Mensch, der Anne vermisst hatte, war Martha Sedlek gewesen.

Inner Circle - Wie Feuer im Regen

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