Читать книгу Inner Circle - Wie Feuer im Regen - Sophie Oliver - Страница 6
2.
ОглавлениеMit der flachen Hand wischte Anne über den beschlagenen Spiegel und blickte in ihr trauriges Gesicht.
Ihre Augen waren verquollen von den Tränen, die sie unter der Dusche vergossen hatte.
»Tante Martha wird stolz auf mich sein«, sagte sie entschlossen zu ihrem Spiegelbild. »Ich werde Erfolg haben – und die Opfer, die ich dafür bringe, werden nicht umsonst sein!«
»Sprichst du schon wieder mit dir selber, Annie?« Die amüsierte Stimme gehörte Caroline, einer Mitschülerin, die gerade das Badezimmer betrat und ihren Kosmetikbeutel nachlässig auf das Waschbecken schleuderte.
»Ich vergesse immer, dass du keine Engländerin bist, aber wenn du in dieser komischen Sprache vor dich hin murmelst, dann ist das echt unheimlich, weißt du?«
Anne ärgerte sich, ertappt worden zu sein. Es war wichtig, dass sie dazugehörte, sich nicht von den anderen unterschied. Und Selbstgespräche auf Deutsch ließen sie nicht besonders britisch erscheinen.
»Sieh mich nicht so entsetzt an«, rief Caroline lachend, »ich mache doch nur Spaß!«
In den ersten vier Wochen im Internat hatte Anne kaum ein Wort gesprochen. Sie hatte nur zugehört und wie ein Schwamm alles in sich aufgesaugt, was ihre Mitmenschen von sich gaben. Jede Floskel, das Auf und Ab der Töne, die Stimmmelodie hatte sie sich eingeprägt wie ein neues Musikstück. Und als sie schließlich angefangen hatte, mit dem richtigen Akzent zu sprechen, der geschliffenen Ausdrucksweise der englischen Oberschicht, hatten alle schnell vergessen, dass die neue Schülerin wochenlang gar nichts gesagt hatte und noch dazu aus dem Ausland kam – immerhin hörte sie sich so viel kultivierter an als die unzähligen reichen Russen oder Araber, die sich im vornehmen englischen Internat Sozialprestige kauften.
»Was machst du eigentlich hier, mitten am Nachmittag? Alles ist voller Wasserdampf! Wie lange warst du unter der Dusche?«
»Gefühlte drei Stunden.« Anne schlang ein frisches Handtuch um ihre nassen Haare. »Mir war kalt.«
»Kein Wunder bei diesem scheußlichen Wetter. Ich habe das Gefühl, als würde die Heizung in unseren alten Gemäuern nicht richtig funktionieren.« Caroline zog ein pfirsichfarbenes Lipgloss aus ihrer Kosmetiktasche und trug es sorgfältig auf. »Nichtsdestotrotz ist heute Freitag, und wir haben Ausgang – den wir bei jeder Witterung wahrnehmen! Kommst du mit ins Fox and Dagger? So in einer Stunde?«
Anne nickte. Das Fox and Dagger war der Pub im Dorf und wurde von Internatsschülern wie Einheimischen gleichermaßen geliebt.
Zurück in ihrem Zimmer, dachte sie an ihren ersten Besuch in einem englischen Pub, während sie sich die Haare föhnte. Eigentlich hatten nur die Schüler der Oberstufe Ausgang – offiziell. Doch inoffiziell gab es Mittel und Wege, sich aus dem Internat zu schleichen und in die etwas weiter entfernte Kleinstadt zu fahren, in der es mehrere Bars und Lokale gab, in denen man als St. Margaret-Schüler nicht so sehr auffiel wie im Fox and Dagger. Der Anlass ihres damaligen Ausfluges war eigentlich ein pragmatischer gewesen.
Anne hatte vorgehabt, ihre Unschuld zu verlieren.
Zu der Zeit war ihr Stipendium ausgelaufen, und in einem persönlichen Gespräch hatte Poffy sie darüber informiert, welche Möglichkeit es für sie gäbe, weiter auf St. Margret zu bleiben, obwohl sie nicht einmal einen Bruchteil des Schulgeldes aufbringen konnte.
Nach anfänglicher Entrüstung hatte Anne schließlich eingesehen, dass das Schicksal keine Alternativen für sie bereithielt. Entweder würde sie dem Earl von Breckon zu Willen sein oder zurück in die Wiener Unterschicht gehen.
Mit ihrem Körper konnte sie sich ein besseres Leben kaufen. Sie war gerade sechzehn geworden. Jung, mit schlanken Hüften, langen Beinen und straffer Haut – genau so hatte Poffy es gerne.
Für ihre Unberührtheit hätte es sogar noch eine großzügige Extrazahlung gegeben, doch Anne war nicht bereit gewesen, diese letzte intime Bastion dem dicken alten Mann zu opfern.
In einem Anflug von verzweifelter Geistesgegenwärtigkeit hatte sie behauptet, sie wäre keine Jungfrau mehr. Die Enttäuschung hatte man ihm deutlich angemerkt, aber da Anne ein außergewöhnlich hübsches Mädchen war, hatte er wohl darüber hinweggesehen, dann war sie eben nicht ganz so unverbraucht. Einige Tage vor ihrer ersten Verabredung zum Stelldichein mit dem alten Earl war Anne deshalb heimlich nachts in eine Bar in der Kleinstadt gefahren. Eigens für diesen Abend hatte sie ein hübsches Top gekauft, das so viel Dekolletee zeigte wie möglich, ohne billig zu wirken. Dazu trug sie Jeans und schwarze Pumps. In einer Frauenzeitschrift hatte sie gelesen, dass die Kombination aus knackigen Jeans und hohen Schuhen bei flirtwilligen Männern am liebsten gesehen wurde. Ebenso stand in dem Artikel, dass man die Haare unter allen Umständen offen tragen sollte, weshalb Annes dunkelblondes Haar in leichten Wellen über ihren Rücken fiel. Im schummrigen Licht würde niemand ahnen, dass sie erst sechzehn war. Auch der Barkeeper fragte nicht nach ihrem Ausweis, als sie bestellte.
Es dauerte nur einen halben Gin Tonic, dann hatte sie sich entschieden.
Am anderen Ende der Bar stand eine Gruppe junger Männer in Anzügen, die sich über einem Feierabendbier unterhielten. Sie schienen alle Anfang zwanzig zu sein und hatten offensichtlich Jobs, die gepflegte Kleidung erforderten. Einer von ihnen sah besonders gut aus.
Anne dachte, es wäre besser, einen attraktiven Mann für ihr Vorhaben zu gewinnen, da dieser es bestimmt gewohnt war, Erfolg bei Frauen zu haben, was die Sache beschleunigen würde. Darüber hinaus wollte sie natürlich lieber mit einem hübschen Mann ins Bett gehen, so viel war klar. Tatsächlich wusste er sofort, dass er gemeint war, als Anne ihn anlächelte, und kam mit seinem Glas in der Hand auf sie zu.
»Was trinkst du da?«, fragte er.
Seine Stimme war tief und passte zu ihm. Anne fand es lächerlich, wenn Männer helle Stimmen hatten.
»Wieso?«
»Weil ich dich gerne auf dein nächstes Getränk einladen würde, wenn du nichts dagegen hast.«
Als er sein Glas auf dem Bartresen abstellte, sah Anne, dass seine Hände kräftig und gebräunt waren. Keine typischen Anzugträgerhände.
Er hatte ihren Blick bemerkt. »Restbräune«, meinte er beinahe entschuldigend. »Ich habe erst vor zwei Wochen eine Stelle hier angenommen und war vorher ein Jahr lang in Asien unterwegs. Ein Sabbatical, weißt du.«
»Ein ganzes Urlaubsjahr? Das klingt beneidenswert!« Und es erklärte die vielen blonden Strähnen in seinem hellbraunen Haar, die zu natürlich wirkten, um von einem Friseur zu stammen.
»O ja, es war traumhaft. Umso härter hat mich der Schock des Alltags getroffen – aufstehen, wenn es noch dunkel ist, in der Kälte zur Arbeit gehen und dann den ganzen Tag auf einen Computerbildschirm starren, schrecklich! Ich heiße übrigens Chris.« Er streckte ihr die Hand hin.
»Chris wie Christian?«
»Nein, Chris wie Christopher.«
Nachdem auch Anne sich vorgestellt hatte, hielt Chris ihre Hand ein wenig länger als nötig. Sie empfand das nicht als unangenehm, und beide mussten lachen, als er sie schließlich wieder losließ.
»Bist du allein hier, Anne?«
»Ja. Wieso?«
»Weil ich mich frage, weshalb ein so hübsches Mädchen ohne Begleitung an einem Wochentag in dieser Bar sitzt.«
»Und was denkst du, ist die Antwort darauf, Chris?«
»Da gibt es mehrere Möglichkeiten.« Er fischte nach dem hinter ihm stehenden Barhocker und setzte sich. »Möglichkeit eins: Du kommst von St. Margaret, hast eine schlechte Note bekommen, bist aus dem Fenster geklettert und in ein Taxi gestiegen und möchtest deinen Kummer im Alkohol ertränken.«
Er lehnte sich vor und sah ihr in die Augen, um nach einer Reaktion darin zu suchen, aber sie schüttelte nur leicht den Kopf. »Fahr ruhig fort, Sherlock, ich will erst alle Optionen hören, bevor ich mich für eine entscheide.«
»Also gut. Möglichkeit zwei, du arbeitest irgendwo in der Nähe, hattest einen höllischen Tag, weil dein Boss ein Mistkerl ist und dich nur schikaniert, und möchtest deinen Kummer im Alkohol ertränken. Möglichkeit drei hat nichts mit Schule oder Arbeit zu tun, sondern: Du wurdest von deinem Freund verlassen, Schrägstrich hast mit ihm Schluss gemacht und möchtest deinen Kummer im Alkohol ertränken. Und schließlich noch Möglichkeit vier: Du warst mit einer Freundin verabredet, sie hat dich versetzt und …«
»Und ich möchte meinen Kummer im Alkohol ertränken? Das ist es? Mehr fällt dir nicht ein?«
Er hob lachend beide Hände. »Oje, das heißt wohl, das Passende war nicht dabei, oder?«
»Nein, leider nicht. Aber ich werde dir deine Frage beantworten, später, versprochen.«
Es war einfach, sich mit Chris zu unterhalten. Obwohl er sich seines guten Aussehens durchaus bewusst war, war er nicht überheblich, sondern freundlich und entspannt. Er schien ein netter Kerl zu sein. Anne bedauerte es fast, ihn ausgewählt zu haben. Er war jemand, mit dem man richtig befreundet sein könnte, Boyfriend-Material, wie die Mädchen in der Schule das nannten. Aber sie war nicht auf der Suche nach einem Freund.
Zwei Stunden und vier Gin Tonics später, Chris’ Freunde waren längst gegangen, läutete der Barkeeper die Glocke über dem Tresen.
»Letzte Runde«, bemerkte Chris auffordernd.
Anne schüttelte den Kopf. »Ich möchte nichts mehr trinken.«
Er nahm ihre Hand. »Was möchtest du dann?«
»Dir eine Antwort auf die Frage geben, was ich eigentlich allein hier in der Bar mache.«
Anne hatte sich Mut angetrunken.
Ich hatte noch nie Sex und muss morgen mit einem fetten alten Mann ins Bett gehen, der auf gar keinen Fall mein Erster sein soll. Deshalb möchte ich, dass du mit mir schläfst, damit ich wenigstens eine schöne Erinnerung an mein erstes Mal habe. Ich will nur einen One-Night-Stand, nichts weiter … Wieso sollte ich ihm nicht sagen, wie es wirklich ist, dachte sie und merkte, dass sie leicht beschwipst war.
»Okay, geheimnisvolle Anne. Aber ich will nur die Wahrheit hören. Erzähl mir jetzt nicht irgendeinen Blödsinn.«
»Ich hatte noch nie Sex und muss morgen mit einem fetten alten Mann ins Bett gehen, der auf gar keinen Fall mein Erster sein soll. Deshalb möchte ich, dass du mit mir schläfst, damit ich wenigstens eine schöne Erinnerung an mein erstes Mal habe. Ich will nur einen One-Night-Stand, nichts weiter.« Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund.
O Gott! Hatte sie es tatsächlich gesagt? Mit einem Schlag war sie stocknüchtern.
Das Lächeln verschwand aus Chris’ Augen.
Anne rutschte von ihrem Barhocker, sie wollte so schnell wie möglich verschwinden. »Das war ein Scherz! Ich muss jetzt gehen.«
Sie wollte sich umdrehen, aber er hielt sie am Handgelenk fest. »Warte. Lauf nicht weg. Denke nicht, dass ich blöd bin – ich kann die Wahrheit erkennen, wenn ich sie höre, und deine Antwort, die dir sicherlich nur so herausgerutscht ist, weil du mich eigentlich mit irgendeiner Lüge abspeisen wolltest, ist absolut wahr. Du hast das echt vor. Weshalb willst du mit einem alten Sack Sex haben, um Himmels willen?«
Sie schloss für einen Augenblick die Augen. Nie wieder würde sie mehr trinken, als sie verkraften konnte. Nie wieder würde sie unbedachte Dinge sagen. Was für ein Fiasko! Weshalb hatte sie sich nicht auf die Zunge gebissen?
Er saß noch immer auf seinem Hocker, hielt ihr Handgelenk umklammert und sah sie schockiert an. Mit ihrer freien Hand machte sie sich los und beugte sich zu ihm.
»Hör zu, Chris, wir kennen uns jetzt seit ein paar Stunden. Das gibt dir nicht das Recht, über mich zu urteilen. Ich bin in diese Bar gekommen, um jemanden für heute Nacht kennenzulernen, verstehst du? Die Gründe dafür gehen nur mich etwas an. Ich fand dich attraktiv und dachte, du stehst auf mich. Offenbar lag ich damit falsch.« Sie kramte einen Geldschein aus ihrer Tasche und warf ihn auf den Tresen. »Es tut mir leid.« Sie drehte sich um und verließ die Bar.
Draußen war es kalt. Anne schlang ihren Mantel fest um sich, verschränkte die Arme vor der Brust und lief in Richtung High Street, wo die meisten Taxen fuhren.
Nach ein paar Metern hörte sie Schritte hinter sich.
»Warte!«
Sie blieb stehen und drehte sich um, die Arme noch immer verschränkt.
»Ich hatte dich eingeladen«, Chris schob den Geldschein wütend in Annes Manteltasche. »Und es kommt überhaupt nicht infrage, dass du bezahlst. Egal, wie katastrophal dieser Abend zu Ende ging.«
Beim Sprechen bildete sich in der kalten Luft Nebel vor seinem Mund. Sie blickten einander stumm an, bis sie merkten, dass die Wut des anderen nachließ.
Schließlich lächelte Chris. »Ich werde dir keine dummen Fragen mehr stellen. Versprochen. Es ist ja auch alles geklärt, denke ich. Meine Wohnung liegt fünf Minuten von hier.« Er streckte ihr die Hand hin.
Anne zögerte nur kurz, dann ergriff sie sie.